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IV.

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Sophia stellte den letzten Kinderstuhl auf einen der Spieltische, schnappte sich den Besen und fing an die Papierschnipsel zusammen zu fegen. Sie hatte mit der Nachmittagsgruppe begonnen das Muttertagsgeschenk zu basteln. In diesem Jahr sollten es große Herzen aus Pappmaschee werden.

Das Aufblasen der herzförmigen Luftballons und das Zerreißen des Zeitungspapiers hatte ja noch hervorragend funktioniert. Aber das anschließende Einkleistern und Aufkleben der Papierstreifen auf die Ballons war im Handumdrehen in eine fürchterliche Schweinerei ausgeartet. Der Tapetenkleister war überall gelandet nur nicht dort wo er eigentlich hin sollte. Aber nach eineinhalb Stunden war doch jeder der elf Herzerl-Ballons mit mindestens drei Schichten Papier überzogen. Danach hatte sie fast die gleiche Zeit noch einmal gebraucht um die Kinder zumindest von den gröbsten Spuren des ‚kreativen Bastelns‘ zu befreien. Jeder Ballon hatte ein Namensfähnchen erhalten und wurde mit einer stabilen Schnur versehen an dem dicken Holzbalken, der die Galerie abstützte, zum Trocknen aufgehängt.

Sie bückte sich, um die Hinterlassenschaften der eifrigen, kleinen Künstler unter den niedrigen Tischen mit dem Besen zu erwischen.

„Die sind ja toll geworden!“

Sophia sah hoch. Schwester Marie-Agnes stand unter der Tür. Sie bewunderte die Zeitungspapierherzen, die sich im Luftzug langsam um die eigene Achse drehten.

„Wart’s nur ab, wenn sie erst noch mit Transparentpapier beklebt sind. Jede Galerie in der Stadt würde sich dann um die Kunstwerke der Kinder reißen“, sagte Sophia nicht ohne Stolz in der Stimme.

Sie fegte die letzten Reste der Bastelei zusammen, schob diese auf die Kehrschaufel und entsorgte sie im Mülleimer.

Schwester Marie-Agnes setzte sich auf einen der niedrigen Tische. Sie kannte Sophia nun schon seit beinahe zwanzig Jahren und fast genauso lange arbeiteten sie bereits gemeinsam im Kindergarten. Und immer wieder war sie aufs Neue verblüfft, wieviel Eifer und Begeisterung Sophia trotz dieser langen Zeit noch an den Tag legte. Sie schaute ihr zu wie sie den Besen aufräumte und dann die Fenster der Reihe nach wieder schloss.

„Wie geht es Katie? Die Prüfungen haben doch schon angefangen, nicht wahr?“ „Ja! Deutsch hat sie schon hinter sich. Ihrer Einschätzung nach ist es wohl ganz gut gelaufen. Morgen schreibt sie Französisch und am Freitag dann noch Mathe. Die mündlichen Prüfungen sind dann nächste und übernächste Woche dran. Physik und Geschichte.“

„Na dann hat sie es ja bald überstanden.“

„Und ich auch“, fügte Sophia schmunzelnd hinzu. „Wenn ich zurückdenke, war es bedeutend einfacher selbst Abitur zu schreiben, als jetzt Katie´s permanente Hektik und Launen zu ertragen. Wenn man sie so beobachtet könnte man meinen, sie hätte die letzten neun Jahre geschlafen und müsste jetzt den gesamten Lehrstoff des Gymnasiums in zwei Wochen nachlernen. Sie ist ein so cleveres Mädchen und ein Eins-Komma-Abitur dürfte ihr ziemlich sicher sein, aber sie macht einen Aufstand, als würde sie immer nur Null Punkte schreiben. Das Ganze ist schon sehr Nerven aufreibend.“

Schwester Marie-Agnes schmunzelte und meinte: „Sei froh, dass sie heute nur noch in fünf Fächern Abitur machen und nicht wie wir früher in allen.“

„Dann wäre ich wahrscheinlich zu euch ins Kloster gezogen, um dieser Heimsuchung zu entgehen“, lachte Sophia.

„Hat Katie eigentlich schon wieder etwas wegen dieser Sache in Afrika gehört?“

Die Frage klang ziemlich beiläufig. Aber Marie-Agnes beobachtete dabei Sophia ganz genau. So entging ihr auch das leise Zucken nicht, das um deren Mundwinkel huschte, ehe sie antworten konnte.

„Vorgestern hat sie die Zusage bekommen. Sie kann am 1. Juli anfangen. Katie ist fast ausgeflippt vor lauter Freude. Nachdem sie sich mit der Antwort so lange Zeit gelassen haben, hatte sie überhaupt nicht mehr damit gerechnet, dass es doch noch klappen könnte.“

Schwester Marie-Agnes strahlte. Sie war es gewesen, die Katie von dem Projekt ihres Ordens in Gabun erzählt hatte.

Die Franziskanerinnen hatte dort eine Dorfgemeinschaft für Leprakranke gegründet. Eine Farm, ein kleiner Handwerksbetrieb und ein eigene Krankenstation waren schon länger vorhanden. Und jetzt war noch eine Grundschule hinzu gekommen.

Schwester Marie-Agnes hatte Katie von den Schwierigkeiten erzählt, einen Lehrer zu finden, da niemand bereit war bei den Leprakranken zu arbeiten. Katie, die bisher sowieso noch keine konkreten Vorstellungen davon hatte, was sie mit ihrem Abitur eigentlich anfangen wollte, war sofort hellhörig geworden. Sie wollte ein paar Monate irgendwo als Kellnerin oder Kassiererin arbeiten, um sich Geld zu verdienen und in Ruhe darüber nachzudenken, was für sie das Richtige wäre. Warum also nicht ins Ausland gehen, die Französischkenntnisse vertiefen, ein bisschen Geld verdienen und so ganz nebenbei auch noch ein gutes Werk tun? So hatte sie sich mit Marie-Agnes´ Hilfe bei der Leitung der Missionsabteilung des Ordens beworben. Trotz einer entsprechend langen Wartezeit hatte sich offenbar kein besser qualifizierter Bewerber gemeldet, so dass Katie schließlich eine Zusage für zwölf Monate erhalten hatte.

Sie würde am 1. Juli nach Gabun fliegen, in der Hauptniederlassung der Franziskanerinnen einen vierwöchigen Crashkurs in den wichtigsten Landesdialekten bekommen und danach ihre Arbeit in der Lepragemeinschaft aufnehmen. Ihre hervorragenden Französischkenntnisse hatten den Ausschlag gegeben. Auch die Tatsache, dass sie während der Ferien immer wieder im Kindergarten als Aushilfe gearbeitet hatte und somit über gewisse Grundlagen im Umgang mit Kindern verfügte, hatten wohl auch noch mit dazu beigetragen, dass man sie ohne pädagogische Ausbildung genommen hatte.

Als Sophia von den Plänen ihrer Tochter erfuhr, war sie nicht übermäßig erfreut. Aber es wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen, Katies Begeisterung durch mütterliche Bedenken, Einwände und besserwisserische Wenn und Abers zu zerstören. Sophia hatte vor neunzehn Jahren gegen den Willen der Eltern ihr eigenes Leben - zugegebenermaßen nicht ganz freiwillig - selbst in die Hand genommen und es nicht eine Sekunde bereut. Das gleiche Recht gestand sie heute ihrer Tochter zu. Obwohl sie zugeben musste, dass sie im Stillen auf eine Absage gehofft hatte.

„Ich freue mich so für das Mädchen. Ich weiß, dass es ihr gefallen wird. Sie wird ihre Sache gut machen. Davon bin ich fest überzeugt“, meinte Schwester Marie-Agnes und fügte mit einem prüfenden Blick auf Sophia hinzu „das siehst du doch auch so, oder?“

Sophia sah zu der Ordensschwester, die noch immer auf dem Spieltisch saß, hinunter und musste lächeln. Man konnte ihr nichts vormachen. Der aufmerksamen Beobachtung und dem wachen Verstand entging nichts. Sophia dachte einen Augenblick nach, ehe sie die Frage beantwortete.

„Ja. Katie wird das sicher hinkriegen.“

„Aber?“ Wie aus der Pistole geschossen kam das Wort aus Marie-Agnes` Mund. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und sah Sophia auffordernd an.

„Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege.“

Sophia machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr.

„Neunzehn Jahre lang habe ich auf die Selbständigkeit meiner Tochter und meine eigene Unabhängigkeit hingearbeitet. Ich habe mir ausgemalt wie es wohl sein würde, wenn ich wieder mein eigener Herr sein werde. Wenn ich endlich all das nachholen kann, was ich in meiner Jugend versäumt habe. Jetzt ist es soweit und ich habe keinen blassen Schimmer, was ich mit meiner Freiheit anfangen soll. Ja ich weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt unabhängig sein möchte. Nach Stefans Tod war Katie mein einziger Lebensinhalt. Es war mein oberstes Ziel aus ihr einen lebenstüchtigen, selbständigen Menschen zu machen. Das ist mir ja wohl gelungen. Und was jetzt?“

„Das ist doch ganz einfach!“

Marie-Agnes stand auf, nahm Sophias Hand und umschloss sie mit ihren beiden Handflächen.

„Du musst dir ein neues Ziel, einen neuen Lebensinhalt suchen. Du hast dein Leben bisher mit Bravour gemeistert und das war wirklich alles andere als einfach. Du bist noch jung. Schneller als du denken kannst werden neue Aufgaben und Herausforderungen auf dich zukommen.“

„Meinst du?“ Die Skepsis war mehr als deutlich aus Sophias Frage heraus zu hören.

„Ja das meine ich! Kannst einer alten Frau ruhig auch mal etwas glauben“, sagte die Ordensschwester mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die jeden aufkommenden Zweifel an ihren Worten im Keim erstickte.

Schwingen des Adlers

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