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VII.

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Sophia behielt recht. Die folgenden zwei Wochen waren entsetzlich trostlos. Weder das Lachen der Kinder in ihrer Gruppe, noch der strahlende Sonnenschein konnten ihren Trübsinn vertreiben. Selbst Marie-Agnes` spöttische Bemerkungen ob ihrer Trauermiene, ließen nur kurz ein schiefes, zaghaftes Grinsen über ihr Gesicht huschen. Die Tage kamen ihr allesamt gleichförmig, grau und freudlos vor.

Am schlimmsten war immer die Rückkehr in ihre leere Wohnung.

Kein fröhliches ‚Hi Mum, wie war es denn?‘ hallte ihr entgegen. Im Bad lagen keine stinkenden Socken und schmuddeligen Unterhosen mehr auf dem Boden. Nirgends standen pappige, verkrustete Müslischüsseln herum. Und die Fernbedienung des Fernsehers war immer dort wo sie hingehörte. Es war entsetzlich!

Schließlich war Sophia so verzweifelt, dass sie zum Flughafen fuhr, in der Absicht den nächstbesten Flug nach Gabun zu buchen. Erst als sie am Schalter, der Fluggesellschaft stand und die Dame sie freundlich nach ihren Wünschen fragte, kam sie zur Besinnung. Entsetzt über sich selbst schüttelte sie den Kopf, drehte sich auf dem Absatz um und ließ die verdutzte Dame hinter dem Tresen einfach stehen.

Sie war eine erwachsene Frau. Trotzdem ließ sie sich von etwas so Selbstverständlichem wie dem Erwachsenwerden ihrer Tochter komplett durcheinander bringen.

„Du bist ja verrückt!“, murmelte sie vor sich hin, während sie zu ihrem Auto zurück ging.

Sie war jetzt frei und unabhängig. Musste auf keinen mehr Rücksicht nehmen. Konnte tun und lassen was sie wollte. Seit so vielen Jahren hatte sie sich darauf gefreut und jetzt konnte sie mit ihrer neu gewonnen Ungebundenheit nichts anfangen. Wie armselig!

„Das wäre ja gelacht!“, brummte sie, prüfte ihr Aussehen im Rückspiegel und beschloss spontan in das riesige Imax-Kinocenter zu gehen, das schon vor über einem Jahr ganz in ihrer Nachbarschaft eröffnet worden war.

Der Film war absolut bescheuert. Aber sie empfand doch eine gewisse Genugtuung darüber, dass sie das Recht hatte, auch einen solchen Blödsinn anschauen zu können, ohne die hämischen Kommentare ihrer Tochter anhören zu müssen.

Anschließend schlenderte sie noch durch das Kinocenter. Einer plötzlichen Eingebung folgend, blieb sie vor einer italienischen Eisdiele stehen.

„Drei Kugeln Blauer Engel bitte!“

Der Eisverkäufer musterte sie zwar ein wenig irritiert, aber dann reichte er ihr wortlos die Waffeltüte mit dem neonblau schimmernden, nach Kaugummi riechenden Eis. Es schmeckte so herrlich künstlich! Genussvoll schleckte sie mit der Zunge über die blaue Köstlichkeit.

Gut, dass Katie sie jetzt nicht sehen konnte!

‚Du bist ja so peinlich!‘ hatte sie stets Sophias Vorliebe für dieses ‚Kindereis‘ kommentiert und angewidert die Nase gerümpft.

Das war jetzt ein für alle mal vorbei! So oft sie wollte konnte sie sich jetzt einen Blauen Engel gönnen. Niemand würde sie deswegen auslachen!

Gut gelaunt und in einer, verglichen mit den letzten Tagen geradezu gehobenen Stimmung ging sie nach Hause. Sie holte die Post aus dem Briefkasten, sperrte die Wohnungstür auf, warf die Briefe auf den Esstisch und ging ins Bad um sich die klebrigen Eisfinger zu waschen.

Nachdem sie sich noch einen Aldi-Südseezauber-Pina-Colada-Cocktail eingeschenkt hatte, setzte sie sich an den Tisch um die Post durchzusehen. Bis auf eine Ausnahme konnte sie den ganzen Schrott ungelesen zum Altpapier werfen.

Der letzte Brief kam offensichtlich aus der Schweiz. Zumindest war er auf einem Schweizer Postamt abgestempelt worden. Ihre Anschrift war in einer säuberlichen Handschrift auf das Kuvert geschrieben. Es sah beinahe wie gemalt aus. Ein Absender war nicht zu finden. Sie riss den Umschlag auf. Der Briefkopf des handgeschriebenen Briefes besagte, dass er vom Pfarramt in Oberkirch kam.

Sehr geehrte Frau Römer,

ich hoffe Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich mich heute so überraschend an Sie wende. Mein Name ist Ludwig Maierhofer. Ich bin Pfarrer in Oberkirch. Außerdem betreue ich noch einige kleine, verstreut liegende Gemeinden. In einer von ihnen - Saas Gurin - unterhält die Pfarrei St. Agnes auch einen kleinen Kindergarten. Er hat nur eine Gruppe, in der im Augenblick sieben Kinder untergebracht sind. Die bisherige Erzieherin musste leider vor drei Monaten aus Gesundheitsgründen aufhören. Verzweifelt habe ich seither versucht eine Nachfolgerin zu finden. Vergebens! Niemand will in einem abgeschiedenen Bergdorf arbeiten. Es liegt mir aber persönlich sehr viel daran, den Kindergarten zu erhalten. Er bedeutet ein Stück Lebensqualität für die Einwohner und trägt vielleicht dazu bei, dass die eine oder andere junge Familie dort wohnen bleibt und Saas Gurin nicht doch irgendwann ausstirbt. Von einer guten Bekannten, Sigrid Beierle, einer Schwester aus unserem Krankenhaus, habe ich erfahren, dass Sie Erzieherin sind. Sie hat mir auch ihre Adresse verraten. Langer Rede, kurzer Sinn: Ich möchte Ihnen die Stelle als Erzieherin in unserem Kindergarten in Saas Gurin anbieten. Da die Stelle schon so lange vakant ist, würde ich mich mit dem Zeitpunkt des Arbeitsbeginns ganz nach Ihnen richten. Eine komplett möblierte Zweizimmerwohnung ist vorhanden. Sie steht Ihnen selbstverständlich mietfrei zur Verfügung. Die Nebenkosten trägt die Gemeinde. Ihr Gehalt richtet sich nach den in der Schweiz geltenden Tarifen für den öffentlichen Dienst. Um eine zeitlich unbegrenzte Arbeitserlaubnis werde ich mich persönlich kümmern.

Liebe Frau Römer, es wäre mir eine große Freude und Hilfe, wenn Sie mein Angebot in Erwägung ziehen würden. Ich lade Sie herzlich ein, nach Saas Gurin zu kommen und sich vor Ihrer Entscheidung bei uns umzusehen.

In der Hoffnung wieder von Ihnen zu hören verbleibe ich

mit herzlichen Grüßen aus Oberkirch

Pfarramt St. Agnes

Ludwig Maierhofer, Pfarrer

Verblüfft ließ Sophia den Brief sinken.

Sie schenkte sich noch einen Schluck Pina Colada Cocktail ein, nippte an ihrem Glas und las dann den Brief noch einmal.

Sie wusste nicht so recht, was sie von der ganzen Sache halten sollte.

Saas Gurin! Irgendwo hatte sie den Namen schon einmal gehört.

Nachdenklich spielten ihre Finger mit dem leeren Glas.

‚Mark kommt aus Saas Gurin, genau wie ich auch!‘

Mark Suttner, der Mann, den sie aus dem Schnee gebuddelt hatte!

Im Trubel vor Katies Abitur und ihrer Abreise nach Afrika, hatte Sophia ihr winterliches Lawinenabenteuer völlig vergessen.

Sie musste lachen, als ihr auf einmal Schwester Marie-Agnes` Worte einfielen: ‚Neue Ziele, neue Aufgaben, neue Herausforderungen!‘

Aus München in ein abgelegenes, von der ganzen Welt vergessenes Bergdorf! Was für eine Herausforderung!

Trotzdem nahm sie den Brief am nächsten Tag mit in den Kindergarten, um ihn ihrer mütterlichen Freundin zu zeigen.

Als am Nachmittag die letzten Kinder abgeholt worden waren und Sophia gerade beim Aufräumen war, kam wie jeden Tag Marie-Agnes zu ihr herein. Sophia zog den Brief aus ihrer Hosentasche und hielt ihn der Schwester unter die Nase.

„Da schau mal, was ich gestern bekommen habe.“

Marie-Agnes faltete das Schreiben auseinander und begann zu lesen. Da sie über Sophias winterliches Urlaubserlebnis Bescheid wusste, mussten ihr die Zusammenhänge nicht erklärt werden.

„Das ist aber doch mal ein originelles Stellenangebot.“

Sie lächelte als sie Sophia den Brief zurückgab.

„Und, wann fährst du?“

„Wie? Wann fährst du? Was meinst du damit?“ Sophia war ehrlich überrascht.

„Du musst auf jeden Fall hinfahren und dir alles anschauen.“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“ Sophia musste sich unbedingt noch einmal vergewissern, ob Marie-Agnes sich im Klaren darüber war, was sie eben gesagt hatte.

„Aber selbstverständlich ist das mein Ernst. Wenn du morgens ordentlich in den Spiegel schauen würdest, wüsstest du, dass du in deinem augenblicklichen Zustand eine echte Plage für deine Mitmenschen bist. Es wird Zeit, dass du etwas gegen deine schier unerträgliche Griesgrämigkeit tust. Soviel ich weiß, hast du sowieso noch ein paar Urlaubstage. Also red’ nicht lange herum! Setz dich in dein Auto und fahr los!“

Wenn Marie-Agnes so richtig in Fahrt war, legte sie eine Bestimmtheit an den Tag, die schon beinahe diktatorische Züge hatte.

„Ich kann doch nicht einfach so mir nichts dir nichts losfahren. Wie stellst du dir das vor?“

Marie-Agnes zuckte mit den Schultern und meinte trocken:

„Ganz einfach: Koffer auf, Kleider rein, Koffer zu! Los geht’s! Manche Menschen fahren ans Meer in den Urlaub. Du fährst nach Saas Gurin. Wo ist das Problem?“

Sophia lachte schallend los. Soviel geballter Entschlossenheit konnte sie nicht widerstehen.

„Na gut! Ich werde mir Donnerstag und Freitag frei nehmen und mich in der Schweizer Bergidylle umsehen. Wenn es im Sommer nur halb so schön ist wie im Winter werden es zumindest vier schöne Urlaubstage.“

Die Ordensschwester strahlte über das ganze Gesicht.

„Bravo, mein Mädchen! Das nenn ich aber mal jugendliche Entschlossenheit. Das grenzt ja schon fast an Spontanität!“

Schwester Marie-Agnes begleitete sie, als sie bei der Oberin ihren Urlaub beantragte. Sie stand neben ihr, als sie Pfarrer Maierhofer in Oberkirch anrief und ihr Kommen ankündigte. Und auch an den folgenden beiden Tagen wachte sie mit Argusaugen über Sophia, damit diese ja nicht auf dumme Gedanken käme und vielleicht doch noch einen Rückzieher machen würde.

Sie ließ es sich auch am Donnerstag in aller Frühe nicht nehmen, bei ihr vorbei zu kommen und ihr zum Abschied zu zuwinken, wie sie sagte. Wahrscheinlich wollte sie sich aber nur vergewissern, ob Sophia auch tatsächlich losfuhr.

Der Verkehr hielt sich an diesem Julimorgen in Grenzen. Die LKWs auf der rechten Spur waren mittlerweile schon ein so fester Bestandteil der Autobahnen, dass sich Sophia über die nicht enden wollende Schlange gar nicht mehr aufregte.

Sie hatte ihre Bryan-Adams-CD eingelegt und sang vergnügt die Lieder mit. Auch das war ein Laster, dem sie jetzt ohne Einschränkungen frönen konnte. Katie hatte immer über ihre äußerst dürftigen Sangeskünste gelästert und prophezeit, dass der Himmel anfangen würde zu weinen, sobald sie zu singen begann.

Es war tatsächlich so, dass Sophia nach und nach immer mehr Dinge entdeckte, die sie aus Rücksicht auf ihre Tochter jahrelang gar nicht oder nur eingeschränkt getan hatte. Und mit einem Schlag überfiel sie ein Tatendrang und eine Unternehmungslust, wie sie sie seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Noch als sie heute Morgen in ihr Auto gestiegen und Schwester Marie-Agnes’ Gestalt im Rückspiegel immer kleiner geworden war, war sie fest davon überzeugt gewesen, dass es ein paar schöne Tage in den Bergen werden würden. Mehr nicht. Aber bei genauerem Hinsehen erschien es ihr gar nicht mehr so abwegig Alles umzukrempeln. In ihrem Leben hatte ein völlig neuer Abschnitt begonnen. Da war es eigentlich vollkommen normal, dies auch durch äußere Veränderungen zu dokumentieren.

Ihre Gedanken wanderten weiter. Pfarrer Maierhofer hatte geschrieben, dass eine möblierte Wohnung mietfrei zur Verfügung stünde. Es würden also keinerlei Kosten für Neuanschaffungen auf sie zukommen.

Ihre Nichte Martina, die sich an der Uni in München eingeschrieben hatte, war sowieso gerade auf Wohnungssuche. Martina könnte die Wohnung in der Vivaldistraße übernehmen. Auf die Art bräuchte Sophia nicht zu kündigen, die Möbel nicht zu verkaufen und wenn es in Saas Gurin doch nicht so das Wahre wäre, könnte sie ohne große Probleme wieder zurück kommen.

Sie stellte die Musik noch eine Spur lauter, schaute in den Außenspiegel, setzte den Blinker und fuhr auf die Überholspur.

Sie war bereit. Das Abenteuer konnte beginnen!

Schwingen des Adlers

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