Читать книгу Todes Tochter - Anna-Lina Köhler - Страница 10

Der steinige Weg zum Ziel

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Die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Wald in einen wundervollen Glanz und ließen ihn magisch erstrahlen. Lia fror und war völlig erschöpft. Einen Tag und eine Nacht waren sie jetzt schon durchgeritten, hatten gekämpft und getötet. Doch nun waren Müdigkeit und Erschöpfung dabei, ihr die letzten Kraftreserven zu rauben. Ragon hatte ihr versprochen, diese Nacht ein Lager aufzuschlagen, in dem sie sich ausruhen und etwas schlafen konnte. Lias Wunsch zu schlafen war groß, doch sie war auch aufgeregt. Ragon wollte sie trainieren. Er wollte ihr das Kämpfen beibringen und sie zum Kampf rüsten.

„Wie werden wir trainieren?“, fragte sie.

Es war das erste Mal, dass sie wieder miteinander sprachen, seitdem sie gekämpft hatten.

„Ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst. Nicht nur das Kämpfen. Jeder kann mit Kraft und Gewalt seinen Gegner in die Knie zwingen. Aber nur wenige können dies mit Gewissen und Verstand.“

„Wie soll ich denn mit meinem Verstand kämpfen?“ Lia legte fragend den Kopf zur Seite.

„Das wirst du schon noch sehen.“

Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Es war wie Balsam für ihre Seele. Lia kannte ihn schon ihr Leben lang und wenn er an sie glaubte, dann gab ihr das Kraft.

„Wir sollten uns langsam nach einer Unterkunft für die Nacht umsehen“, mahnte Ragon.

„Aber wo sollen wir schlafen? Wir haben kein Geld.“

Ragon grinste. „Aber wir besitzen Holz und Feuersteine. Eine wichtige Lektion für die Todes Tochter lautet: Nimm das, was du hast und mach das Beste daraus.“

Lia stellte fest, dass ihr diese Lektion logisch erschien, dennoch behagte sie ihr nicht.

„Das heißt, wir werden draußen schlafen?“

Anstatt ihr eine Antwort zu geben, grinste Ragon sie frech an. Das Mädchen schluckte. Der Gedanke, auf dem harten, kalten Waldboden zu liegen, während eklige kleine Insekten ihr in die Haare und Ohren kriechen und sie als Schlafplatz nutzen würden, konnte ihr nicht gefallen.

„Dort drüben ist eine Lichtung. Dort können wir unser Lager aufschlagen.“

Der Todesritter zeigte auf einen kleinen Fleck im Wald, frei von Bäumen, auf den das meiste Sonnenlicht fiel und der Platz dadurch einen kleinen Hauch von etwas Besonderem bekam. Lia stieg vom Pferd und band es an einem dünnen Baum am Rande der Lichtung an.

„Ich gehe Feuerholz suchen“, rief Ragon ihr zu, bevor er zwischen den Bäumen verschwand. „Ich bin bald wieder da. Hol doch solange schon einmal die Feuersteine aus meinem Rucksack.“ Lia nickte bloß. Sie hatte seit zwei Tagen nicht geschlafen und die Müdigkeit ließ sich nun kaum noch ignorieren. Immer wieder fielen ihr die Augen zu, sodass sie in letzter Zeit immer wieder befürchtet hatte, auf dem Rücken des Pferdes einzuschlafen und dann schmerzhaft mit dem Gesicht auf dem Waldboden zu landen. Langsam ging sie zu Ragons Rucksack. Sie griff hinein und suchte nach den Feuersteinen.

„Mist!“ Lia schrie entsetzt auf und zog ruckartig ihre Hand aus dem Rucksack. Blut tropfte von ihrer Handfläche auf den Boden. Etwas Scharfes hatte sich in ihre Hand gebohrt. Anstatt erneut in den Rucksack zu greifen, nahm sie ihn und schüttete seinen Inhalt auf den mit Laub bedeckten Waldboden. Zuerst kamen der Laib Brot und das Stück Käse zum Vorschein. Dann fiel das gebogene Schwert mit dem roten Edelstein aus dem Rucksack. Lia wollte ihn schon wieder zur Seite legen, als sie plötzlich einen Schimmer in Ragons Gepäckstück wahrnahm. Zögernd griff sie hinein und zog den Gegenstand heraus.

Es war ein zweites Schwert. Es besaß die gleiche Form, die gleiche schwarze Klinge und den gleichen, schwarzen Griff wie das erste. Nur der Edelstein leuchtete in einer anderen Farbe. Er war stechend grün. Lia nahm das Schwert vorsichtig in ihre linke Hand, so als könnte es zerbrechen. Sie bemerkte, dass ihr Blut an der Klinge klebte, sie musste sich daran geschnitten haben, doch das scherte sie wenig. Plötzlich schien alles möglich. Sie hätte sich vom Gipfel eines Berges stürzen können und hätte geglaubt, dass sie diesen Sturz überleben würde. Wozu laufen, wenn sie doch schweben könnte? Sie nahm das andere Schwert in ihre rechte Hand und ließ es etwas kreisen. Die zwei Schwerter in ihren Händen fühlten sich perfekt an, sie ergänzten sich. Lia hatte das Gefühl, vollständig zu sein. Sie ließ die Schwerter langsam über ihrem Kopf kreisen. Dann machte sie plötzlich einen Schritt nach vorne und stieß das Schwert in ihrer rechten Hand in einen Baum. Lia war nicht bewusst, mit welcher Kraft sie das Schwert führte. Es bohrte sich durch den Stamm und kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein. Ihre Versuche, es wieder herauszuziehen, scheiterten kläglich.

„Verdammt!“ fauchte sie.

„Lia?“ Ragon ließ das Holz, das in seinen Armen lag, zu Boden fallen.

„Was hast du gemacht?“

„Ich, ...“ Lia stotterte. Ihr war die Sache sichtlich unangenehm.

„Ich habe diese Schwerter im Rucksack gefunden und wollte damit ein bisschen üben. Aber dann habe ich die eine Waffe in den Baum geschlagen und …“

„… und du kannst sie nicht wieder herausziehen“, vollendete Ragon ihren Satz.

Lia wurde knallrot und Ragon setzte ein schelmisches Grinsen auf.

„Du bist noch nicht bereit, mit Viridis und Rufus zu kämpfen.“ „Was sagst du?“ Lia legte die Stirn in Falten. „Was sind Viridis und Rufus?“

Wieder grinste Ragon.

„Das Schwert, das du so schwungvoll in den Baum gerammt hast, trägt den Namen Rufus. Das andere in deiner Hand heißt Viridis.“

Lia zog die Augenbrauen nach oben und biss sich auf die Unterlippe. „Die Schwerter haben also Namen?“

„Nicht nur das.“ Ragon ging zu dem aufgespießten Baum und zog Rufus heraus.

„Sie besitzen sogar einen eigenen Charakter. Rufus, das Schwert mit dem roten Edelstein, besitzt alle schlechten Eigenschaften eines Menschen. In ihm befinden sich Hass und Verzweiflung, Wut, Enttäuschung und Aggression. Viridis, das Schwert mit dem grünen Edelstein, besitzt jedoch die guten Eigenschaften der Menschen. Gnade, Fairness und Vergebung.“

Lia war begeistert. Sie hatte noch nie von Schwertern mit Charakter gehört.

„Als ich die Schwerter hielt“, berichtete sie, „hatte ich das Gefühl, vollständig zu sein.“

Ragon zog wissend die Brauen hoch.

„Hält die Todes Tochter Rufus, so wird sie beim Kampf von schlechten Eigenschaften geleitet. Sie wird Wut entwickeln und sie manchmal sogar gegen die eigenen Leute wenden. Kämpft sie alleine mit Viridis, so würde sie getötet werden, bevor sie auch nur das Schwert erheben kann, denn sie würde nur Gnade walten lassen wollen. Aber wenn sie mit beiden Schwertern kämpft, so wird sie unbesiegbar sein. Sie wird Gnade bei den Menschen walten lassen, die sich ändern werden. Jedoch wird sie die bestrafen, die der Welt Unrecht antun wollen. Genau das wird sie unbesiegbar machen. Das Gleichgewicht von Gut und Böse.“

„Unbesiegbar!“ Lia riss die Augen auf. „Ich bin unbesiegbar!“

„Nein“, schüttelte Ragon den Kopf.

„Du wirst nur dann unbesiegbar sein, wenn du lernst, mit den Schwertern richtig umzugehen. Wenn du lernst, Menschen wie ein Buch zu lesen und die Augen als Spiegel der Seele anzusehen, dann wirst du vielleicht als unbesiegbar angesehen werden.“

„Was genau meinst du mit ‚Menschen wie ein Buch lesen’?“

Ragon zuckte mit den Schultern. „So, wie ich es gesagt habe. Du kannst Menschen lesen. In ihre Gedanken dringen und alles über ihr Leben erfahren, wenn du es möchtest.“

Beeindruckt senkte Lia den Kopf. „Kannst du mir etwas zeigen?“, bat sie.

„Nein!“ Ragon schüttelt abermals den Kopf. „Du musst warten, bis wir beim Lunus Berg angelangt sind. Deine Kräfte jetzt unnötig zum Einsatz zu bringen, das würde uns nur viel Zeit und Mühe kosten und beides haben wir momentan nicht.“

Die Todes Tochter drehte sich mit gespielter Wut weg und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Warum müssen wir so lange warten? Wenn der Schatten doch mit jedem Tag mächtiger werden kann.“

Hinter sich hörte sie wie Ragon das Holz stapelte. Lia drehte sich um.

„Ich meine, ich muss doch noch kämpfen lernen und, wie du sagst, Menschen lesen.“ Ragon ging zu seinem Rucksack und öffnete eine Seitentasche, die Lia vorher noch nicht aufgefallen war. Er zog die Feuersteine heraus und machte sich daran, ein Feuer zu entzünden. Als der erste Funke übersprang, schenkte er ihr endlich eine Antwort.

„Du hast recht. Der Schatten wird von Tag zu Tag mächtiger. Wir können deine Kräfte jetzt schon strapazieren, dich vielleicht sogar damit töten und dem Schatten diese Welt überlassen oder wir warten noch eine Weile und dann zeige ich dir, wie du deine Kräfte gefahrlos zum Einsatz bringen kannst. Dann werden wir den Schatten zurück in die Hölle schicken.“ Ragon grinste. „Alles zu seiner Zeit, Todes Tochter. Du wirst mehr über die Welt der Magie und Wunder lernen, als dir lieb ist.“


„Wenn du nicht weißt, wo die Person sich aufhält, die du suchst, wie willst du sie dann finden?“ Keira wandte sich fragend zu Enago um.

„Ich weiß es nicht.“

Er hätte sich gewünscht, ihr eine klügere Antwort geben zu können, doch er wusste keine passende Lüge.

„Ich weiß weder wo sie wohnt, noch ob sie dort überhaupt noch verweilt.“

Es musste eine Spur Verzweiflung in Enagos Stimme gewesen sein, denn Keira legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulte.

„Ist es denn sehr wichtig, dass du sie findest?“

Enago lachte kurz auf. Natürlich konnte sie nicht wissen, wie wichtig es für ihn war, doch trotzdem fand er die Frage lächerlich.

„Man könnte sagen, dass mein Leben davon abhängt, ob ich sie finde oder nicht!“

Keira legte die Stirn in Falten, hakte aber nicht weiter nach. „Vielleicht …“ Keira zögerte kurz. „Vielleicht kann ich dir helfen.“

Enagos Blick verriet Überraschung und Neugier.

„Wie willst du mir denn helfen?“

Wieder begann Keira zu zögern und Enago beschlich das Gefühl, dass sie ihr Angebot bereute.

„Meine Mutter war eine Art Magierin. Nichts Großes, jedoch beherrschte sie einige Zaubersprüche. Ich erinnere mich an einen Spruch, mit dem es möglich war, Menschen zu finden. Ich weiß nicht, ob meine magischen Wurzeln dazu ausreichen, aber ich erinnere mich an den Zauber und kann sie dadurch vielleicht finden.“

Die Augen des Schattendieners wurden groß und blitzten erfreut auf. War seine Seele tatsächlich gerettet? Hatte er sich damit seinem grausigen Schicksal entzogen?

„Dafür brauche ich nur ihren Namen.“

Das Glitzern in seinen Augen wich einem erschrockenen Funkeln. Eben noch hatte er sich befreit gefühlt, gerettet. Sollte er ihr jedoch sagen, dass er die Todes Tochter suchte, so würde sie ihn mit Sicherheit für verrückt erklären! Es gab viele Menschen, die die Geschichte der Todes Tochter kannten. Die Geschichte des grausigen Schattens, der die Welt unterjochen wollte, die Menschen und auch die magisch begabten Personen zu seinen Sklaven machen wollte. Wenn er ihr sagte, dass er diesem Monster diente, so würde sie ihn doch niemals zur Retterin der Welt führen. Sein Schicksal schien erneut besiegelt. Verzweifelt zerbrach er sich den Kopf, wie er sich aus dieser Situation wieder befreien konnte.

Die Lösung schien simpel und dennoch falsch. Hatte er doch schon getötet und betrogen und auch zu lügen hatte ihn nie beschämt. Warum sollte er ihr nun die Wahrheit sagen? Er konnte sie genauso gut belügen. Konnte er sie belügen? Immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet. Was für eine Frage! Im Stillen ärgerte Enago sich über sich selbst. Natürlich konnte er! Schließlich hatte er schon andere Personen hintergangen. Personen, die ihm sehr nahe standen – seine Familie, seinen Vater. Der Gedanke an ihn ließ ihn innerlich verkrampfen.

„Ich komme wieder.“

Seine letzten Worte hatte er niemals vergessen.

„Ich werde zu dir zurückkehren“, hatte er geschworen.

Und er war wiedergekommen. Er war gekommen und hatte seinen eigenen Vater ermordet. Er hatte ihn brutal erstochen, um dem Schatten seine Loyalität zu beweisen. Krampfhaft versuchte er diesen Gedanken wieder in die hintersten Ecken seines Kopfes zu befördern und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Er hatte seinen Vater belogen und getötet, er war ein grausamer Mensch und wenn er nun Keira die Wahrheit sagte, würde ihn auch das nicht zu einem besseren Menschen machen!

„Du wirst mich auslachen!“

„Nein!“ Keira legte beschwörend ihre Hand auf ihr Herz.

Enago holte tief Luft.

„Ich suche die Todes Tochter.“

Für eine kurze Zeit meinte er ein Anzeichen eines Lächelns auf ihrem Gesicht zu erkennen. Doch dann besann sie sich wieder und ihre Miene wurde ernst.

„Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfen werde und dass ich dich begleite, das war mein freier Wille. Jedoch beschäftigt mich nun eine Frage. Warum willst du die Todes Tochter finden?“

Enago senkte den Blick. Er biss sich nervös auf die Unterlippe, wollte ihr eine Antwort geben. Doch das konnte er nicht. Wie auch? Wenn er ihr die Wahrheit sagte, würde sie ihm dann noch helfen? Er wäre verloren. Angestrengt blickte er auf seine Stiefelspitzen, während er stotternd versuchte, sich eine passende Lüge zurechtzulegen.

„Ich, ich habe Geschichten gehört. Geschichten, in denen es um das Wohl der Menschheit geht. Und ich möchte helfen. Wir alle leben hier und ich finde, jeder sollte seinen Teil dazu beitragen. Ich möchte der Todes Tochter helfen. Sie bei ihrem Kampf unterstützen.“

Innerlich verpasste sich der heimliche Schattendiener selbst einen Fausthieb in die Magengrube. Wie war er bloß auf so einen Unfug gekommen?

Keira legte die Stirn in Falten.

„Was ist, wenn es sie gar nicht gibt. Was ist, wenn du dich irrst, was diese Geschichten angeht?“

„Nein!“ Der Schattendiener schüttelte heftig seinen Kopf. „Ich bin mir sicher, dass es sie gibt, und dass ich ihr helfen kann.“

Eine Weile herrschte Stille zwischen den beiden. Leises Gezwitscher zweier gelber Vögel brach schließlich das Schweigen und Keira setzte sich in Bewegung.

„Wir brauchen Feuerholz.“

„Wieso?“ Enago zog die Brauen hoch.

„Du willst die Todes Tochter finden“, erklärte Keira. „Und außerdem wird es bald dunkel. Ich habe nicht vor zu frieren.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging weiter in den Wald hinein. Enago folgte ihr - wieder begeistert über ihren starken Willen und ihre tolle Ausstrahlung.

Das Feuer knisterte und warf die Schatten der zwei Gefährten an die Bäume. Keira hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf sich selbst. Enago saß neben ihr und beobachtete sie genau. Ein leichter Wind ließ ihn erschaudern und Keira öffnete ihre Augen.

„Gib mir deine Hände“, flüsterte sie.

Er zögerte kurz, doch dann streckte Enago seine Hände in ihre Richtung und es wurde wieder still. Sie starrte in die Flammen. Schien sie mit ihrem Blick förmlich aufzusaugen. Plötzlich leuchteten die Flammen auf. Sie schienen in allen Farben zu glänzen und zeigten Umrisse von zierlichen Gestalten, die sich wie unter Schmerzen wanden. Kleine schwarze Schatten tanzten durch die Flammen, sprangen umher und verschmolzen mit einem anderen. Das Winden entwickelte sich zu einem Tanz, indem sich die schwarzen Figuren langsam verzerrten und zu neuen Bildern zusammensetzten. Da leuchtete die Flamme wieder auf und verschlang die kleinen Schatten. Das Feuer nahm wieder normale Größe an und leuchtete bloß noch in seinen typischen Farben. All dies dauerte nur ein paar Sekunden.

Enago kam es jedoch vor wie eine Ewigkeit. Keira saß noch eine Weile mit geschlossenen Augen da. Ihre Hände hatten sich wieder voneinander getrennt. Unruhig rutschte Enago hin und her, wartend, dass sie die Augen wieder aufschlug -hoffentlich mit dem Aufenthaltsort der Todes Tochter. Sein stilles Flehen wurde erhört.

Keira öffnete die Augen.

„Und?“ überfiel er sie gleich.

Keira atmete schwer. Der Zauber schien sie sehr angestrengt zu haben.

„Hast du sie gesehen? Wo ist sie?“

Keira stand auf. Hastig erhob sich Enago ebenfalls. Dass sie nicht antwortete, beunruhigte ihn.

„Keira? Bitte, sag etwas.“

Sie hob den Kopf, sah ihm direkt in die Augen. Es war ein klarer, jedoch eiskalter Blick, der in ihren Augen lag. Enago spürte, wie es ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er hatte das Gefühl, den Regenbogen des Feuers in ihren Augen wiederzufinden. Plötzlich leuchteten ihre Augen auf. Wurden für ein paar Sekunden strahlend weiß. Dann war alles vorbei. Keira sank in die Knie, ihr Kopf knickte nach vorne und für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob sie das Bewusstsein verloren hätte. Enago begab sich besorgt zu ihr nach unten und berührte sie leicht am Arm. Sie schien erschöpft. Der Zauber musste an ihren Kräften gezerrt haben. Keira schnappte noch ein paar Mal nach Luft, ehe sie ihn wieder ansah.

„Ich weiß, wo sie ist.“

Der Geruch faulen Fleisches stieg den zwei Reisenden in die Nase und erinnerten Enago an die Wandverzierungen seines Meisters. Auch Keira hielt sich stöhnend die Nase zu. Fünf Männer, oder eher das, was von ihnen übriggeblieben war, lagen tot am Boden. Das faulige Fleisch hing an den langen, roten Mänteln. Die toten Körper waren mit Fliegen übersät und kleine Maden krochen an ihren Beinen hoch. Die Haut an ihren Schädeln hing schlaff herab und ihre Augen waren ungesund aus ihren Höhlen hervorgequollen.

„Sie sind schon etwas länger tot. Ich schätze einmal zwei bis drei Tage.“

Keiras Stimme zerriss die Stille. Sie ging langsam zu einem der Leichname und begann in seinen Taschen zu wühlen.

„Was machst du denn da?“ Enago rümpfte die Nase.

„Ich sehe nach, ob sie etwas Nützliches bei sich tragen.“

„Ich glaube kaum“, zweifelte Enago, „dass ihnen jetzt noch etwas nützt.“

Keira schüttelte lachend den Köpf.

„Dummkopf. Ich meine natürlich, nützlich für uns.“

Enago begann an seinem Schwertgriff herumzuspielen. Er war sich der Dummheit seiner Frage nicht bewusst gewesen.

„Und?“ fragte er zögerlich. „Tragen sie etwas bei sich, das wir gebrauchen können?“

Keine Antwort. Enago ließ von seinem Schwertgriff ab und hob den Kopf. Er sah, dass Keira einen der Männer umgedreht hatte und nun schockiert auf seinen Mantel blickte.

„Was ist?“

Keira strich mit einer Hand über die goldenen Verzierungen des Kleidungsstückes.

„Die Zeichen!“ Sie schloss die Augen.

Vorsichtig näherte sich Enago ihr. Obwohl er sie noch nicht lange kannte, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war.

„Was sind das für Zeichen, Keira?“ Es dauerte einen Moment, bis Enagos Frage beantwortet wurde.

„Die goldenen Zeichen, ich kenne sie. Es sind die Zeichen der Wächter des Lunus.“

Enago zog unwissend die Brauen hoch.

„Was oder wer ist ein Lunus?“

Keira betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Misstrauen. Neben ihr kam sich Enago plötzlich klein und unwissend vor.

„Die Wächter des Lunus sind ein magischer Orden. Sie beschützen den Lunus Berg, der der Legende nach vom Zauberer Lunus dazu genutzt wurde, die Todes Tochter zu erschaffen und das Schicksal einer Welt in Knechtschaft zu verhindern. Die Wächter warten ein paar Meilen entfernt des Berges, um jeden Eindringling zu vernichten, denn dieser Pfad, auf dem wir uns gerade befinden, ist der einzige, der zu diesem magischen Ort führt.“

Enago schluckte. Sie wusste viel. Viel über die Todes Tochter. Sie wusste über die Legende und das schreckliche Schicksal der Welt Bescheid. Sie wusste mehr als er und genau das begann ihm langsam Sorgen zu bereiten. Wie lange würde er sie noch belügen können, wenn er von ihr abhängig war?

„Hast du mir gerade zugehört?“ Ihre liebliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Wie bitte, Entschuldigung, was hast du gerade gesagt?“

„Ich sagte, dass all dies nun alles einen Sinn ergibt.“

„Ich verstehe nicht.“ Enago legte die Stirn in Falten.

„Mein Zauber! Durch ihn hab ich gesehen, dass sich die Todes Tochter auf einer Lichtung ein paar Meilen jenseits dieses Pfades befindet. Wohin sollte sie sonst gehen, als zum Lunus Berg! Sie wird dort mit ihrer Ausbildung beginnen.“ Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Es ist so offensichtlich gewesen. Wir hätten den Zauber gar nicht erst anwenden müssen.“

Enago schüttelte den Kopf.

„Nichts ist niemals umsonst geschehen. Nun wissen wir, wo sie hingeht und wir wissen auch, wohin wir gehen müssen.“

Er lächelte Keira zu. Es wirkte herzlich und aufmunternd, doch es war ein falsches Lächeln, das er ihr schenkte. Sie war ihm nützlich, sehr nützlich sogar. Denn ohne sie wäre er wahrscheinlich noch immer ziellos herumgeirrt. Der kalte Hauch, die Angst und der Tod im Nacken. Er blickte auf die toten Kadaver der Männer hinab und sein Blick verriet keinerlei Mitgefühl.

„Wie und durch welche Hand die Männer wohl gestorben sind?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie leise und es war, als ob Trauer in ihrer Stimme mitschwang. „Aber wir können nur hoffen, dass nicht er es war.“

„Wer ist er?“ hakte Enago nach.

„Der dunkle Herrscher, der Schatten. Die dunkle Kreatur, die aus der Hölle entkam!“

Ihre Worte trafen Enago wie einen Fausthieb in den Magen. Es war, als ob jegliche Luft plötzlich aus seiner Lunge gepresst worden war. Keira schien seine Sprachlosigkeit als Zeichen der Unwissenheit zu deuten.

„Weißt du, von wem ich spreche?“

Enago biss sich auf die Unterlippe. Er wusste zu gut, wen sie meinte. Jahrelange Knechtschaft und die Angst, die dies mit sich brachte. Körperlicher und seelischer Schaden waren nur ein Teil der Schmerzen, die er bis heute mit davongetragen hatte. Jetzt, wo Keira seinen Namen ausgesprochen hatte, kam die Erinnerung an seine Aufgabe zurück. Es war nicht so, dass er sie vergessen hätte. Er hatte sie nur kurz verdrängt und für einen Augenblick schien es, als ob er ein ganz normaler Mensch wäre. Doch das war er nicht. Er war ein Schattendiener!

„Ich habe von ihm gehört“, sagte er nur.

„Wir können nur hoffen, dass nicht er oder einer seiner abscheulichen Diener diese Männer getötet hat.“ Keira blickte ihm in die Augen. „Ansonsten wird die Todes Tochter nicht mehr lange am Leben sein!“

Erschrocken stöhnte Enago auf. Es war sein Auftrag, sie zu seinem Meister zu bringen. Hatte er ihm etwa misstraut und noch weitere seiner Untergebenen auf die Suche geschickt? Dies war Enagos letzte Chance, Gnade zu finden, sonst würde er sterben.

„Wir müssen weiter.“

Mit schnellen Schritten ging er weiter den Pfad entlang, Keira folgte ihm. Schließlich drehte sich noch einmal um und sah auf ihre alten Freunde hinab. Sie alle waren tot. Gestorben durch eine unbekannte Klinge. Dem Orden, dem sie angehörte, waren diese Männer durchaus bekannt. Man könnte fast sagen, dass sie befreundet waren, denn sie kämpften alle für das gleiche Ziel. Doch nun waren sie in den finsteren Abgrund gestoßen worden, in die ewige Dunkelheit. Konnte sie Enago vertrauen? War ihr Geheimnis bei ihm sicher? Schon mehrmals hatte sie sich diese Frage gestellt. Zu gerne würde sie ihm ihr Geheimnis verraten, doch das konnte sie nicht. Sie kannte ihn erst seit wenigen Tagen und wenn ihre Kräfte sie nicht zum ihm geführt hätten, wäre er mit Sicherheit bereits tot.

„Wo bleibst du denn?“ Keira zuckte überrascht zusammen. Enago stand ein paar Meter von ihr entfernt und sah sie mit fragendem Blick an.

„Ich komme schon!“, rief sie ihm zu.

Kurz bevor sie die Stätte des Todes verließ, rollte ihr eine kleine Träne über die Wange und fiel zu Boden. Sie fiel auf eine kleine Blume, die kurz danach in Flammen aufging.

Die Nacht nahte. Ein Käuzchen flog über die Köpfe der beiden Gefährten und ließ sie mit ihrem Ruf kurz zusammenzucken. Enago drängte Keira dazu weiterzugehen, doch sie bat ihn darum, diese Nacht zu rasten, um schlafen zu können.

Dem heimlichen Schattendiener gefiel dieser Vorschlag überhaupt nicht. Die Zeit drängte und umso eher sie die Todes Tochter gefunden hatten, umso eher würde er wieder ruhig einschlafen können. Albträume grausamster Art plagten ihn des Nachts, suchten ihn heim und flüsterten ihm tödliche Dinge ins Ohr. Jedes Mal war Enago schweißgebadet hochgeschreckt, hatte am ganzen Körper gezittert. Er wollte seinem nahenden Schicksal entgehen und das um jeden Preis. Doch die schöne Frau bestand darauf, ein Lager aufzuschlagen. Widerwillig hatte Enago schließlich zugestimmt.

Der Himmel hatte sich schwarz gefärbt und nur ein gelblicher Streifen am Horizont ließ noch etwas Licht in die Dunkelheit dringen. Fledermäuse flogen durch die Lüfte, auf der Jagd nach etwas Essbarem. Auch den zwei Gefährten knurrte schon seit ein paar Stunden der Magen. Sie waren ausgehungert und müde. Das Feuer, das Enago mit ein paar dürren Ästen und zwei herumliegenden Steinen entfacht hatte, bot etwas Wärme, sodass die beiden in der kalten Nacht nicht frieren mussten. Plötzlich stand Enago auf. Keira sah zu ihm hoch.

„Wo gehst du hin?“

„Ich werde nach etwas Essbarem suchen.“

Enago griff nach seinem Umhang, den er vorhin ausgezogen und zur Seite gelegt hatte und zog ihn fest um seine Schultern.

„Sei vorsichtig!“, mahnte ihn Keira. „Wer weiß, was diese Wälder für Geheimnisse verbergen. Du möchtest ihnen sicher nicht alleine in der Dunkelheit begegnen.“

Enago nickte ihr zu, dann verschwand er zwischen den Bäumen. Die junge Frau hatte das Gefühl, dass er ihre Warnung nicht ernst genommen hatte. Zwar hatte es den Anschein, dass Enago ein kluger Mann war und auch das Schwert an seinem Gürtel war ihr schon aufgefallen, doch mit wilden Tieren und unbekannten Mächten war nicht zu spaßen. Sie wusste, wovon sie sprach, wusste wahrscheinlich wesentlich mehr als er. Auch in ihr schlummerten verborgene Kräfte. In ihrem Blut staute sich die Magie. Als sie vor einem Tag Enago von den Kräften ihrer Mutter erzählt hatte, hatte sie nicht gelogen. Ihr verdankte sie ihre magischen Fähigkeiten. Kräfte, die sie jedoch bloß im Schein eines Feuers zum Einsatz bringen vermochte oder wenn sich ihre Kräfte selbstständig machten. Ihrer magischen Begabung war es zu verdanken, dass Enago noch unter den Lebenden weilte. Ihre Magie hatte sich an diesem Tag selbständig gemacht, hatte ihr gezeigt, was zu tun war. Nun war sie hier.

Sie wartete noch eine Weile, bis sie sich ganz sicher glaubte, dass Enago schon tief in den Wald hineingegangen war, dann rief sie ihre Magie hervor. Sie begann sich auf die Flammen zu konzentrieren, wie sie im Wind hin und her tanzten und miteinander verschmolzen. Dann ließ sie ihre Kräfte frei. In Gedanken rief sie immer wieder den Namen der Todes Tochter, stellte ihn sich bildlich vor. Das Feuer begann größer zu werden, unkontrolliert sprangen Funken in alle Richtungen davon. Schatten, kleine schwarze Figuren tanzten im grellen Licht, umarmten einander und wanderten über die verschiedenen Farben der Flammen. In Keiras Kopf zeigten sich nun Bilder. Sie zeigten die Todes Tochter und ihren Gefährten, wie sie ebenfalls rasteten, im Wald, nicht weit von ihnen entfernt. Es war Gewissheit, die Keira dazu verleitet hatte, ihre Magie erneut anzuwenden. Sie war sich deren Ziel durchaus bewusst, befürchtete jedoch, dass sie sich geirrt haben könnte. Doch so war es nicht. Das junge Mädchen, mit den langen braunen Haaren, lag neben dem Todesritter auf dem Waldboden und schien zu schlafen. Der junge Mann blickte mit einem gefühllosen Gesichtsausdruck in die Dunkelheit des Waldes und murmelte etwas in sich hinein.

Die Bilder begannen zu verschwimmen. Die Gestalten verzerrten sich und das Feuer nahm seine ursprüngliche Farbe an. Schweißperlen standen Keira auf der Stirn, sie atmete schwer. Jedes Mal, wenn sie ihren Zauber anwandte, verbrauchte sie viel Energie. Einmal hatte sie sogar das Bewusstsein verloren, als sie den Zauber zu lange aufrecht erhalten hatte. Keiras Bauch hob und senkte sich unregelmäßig. Immer wieder schnappte sie nach Luft, fürchtete zu ersticken. Mit ihren Fingernägeln, die sie in die weiche Erde gerammt hatte, hielt sie sich aufrecht. Plötzlich vernahm sie ein Geräusch. Es war ein Zweig, der unter einem Gewicht zu Bruch gegangen war. Trotz ihrer Erschöpfung hielt sie aufgeregt die Luft an und starrte gebannt in die Richtung, aus der der Laut gekommen war.

Keira bezweifelte, dass sie jetzt in ihrem Zustand noch in der Lage war zu kämpfen. Das Geräusch ertönte erneut, ein Rascheln, Schritte. Jemand näherte sich. Keira umfasste vorsichtshalber den Griff ihres kleinen Dolches. Einer der Drachenköpfe am Griff bohrte sich mit seinem Ohr tief in ihre Haut, doch die junge Frau ignorierte den Schmerz. Die Schritte kamen immer näher. Schließlich atmete Keira erleichtert auf, als Enago durch das Dickicht schritt. In der Hand hielt er ein paar knallrote Beeren. Schon öffnete er den Mund, wollte etwas sagen, doch es kam kein Laut über seine Lippen. Stattdessen starrte er sie erschrocken an.

„Ist irgendetwas passiert?“ Seine Stimme klang besorgt und Keira gefiel es, dass er sich um sie sorgte. Dennoch schüttelte sie den Kopf.

„Bei mir ist alles in Ordnung.“

Enago beäugte sie misstrauisch.

„Wirklich“, versicherte die junge Frau und stand auf. „Zeig du lieber einmal, was du im Wald gefunden hast.“

Der heimliche Schattendiener öffnete seine Hand und zeigte ihr die roten Beeren. Keira nahm eine von ihnen in die Hand, hielt sie gegen das Licht der Flammen und legte sie dann zurück auf Enagos Handfläche.

„Ich hoffe, du hast noch keine davon gegessen“, sagte sie und ging zurück ans Feuer. „Die Beeren sind nämlich giftig!“






Todes Tochter

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