Читать книгу Todes Tochter - Anna-Lina Köhler - Страница 7

Eine helfende Hand

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Enago stürzte sich ins Wasser und begann sich das Blut von den Handflächen zu waschen. Den stechenden Schmerz, der ihm dabei die Tränen in die Augen trieb, versuchte er zu ignorieren. Den ganzen Weg von dieser verfluchten Höhle bis zu diesem Fluss war er gerannt, in der ständigen Angst, zurückgeholt zu werden. Der faulige Atem seines Meisters hatte ihn fast ohnmächtig werden lassen. Er war gerannt, soweit ihn seine Füße noch getragen hatten. Denn er wusste nicht, wie lange er seine Kraftreserven noch weiter erschöpfen konnte. Seine einzige Chance auf Gnade bestand darin, die Todes Tochter zu finden und sie seinem Meister zu bringen. Sollte ihm das nicht gelingen, würde er seine Füße, seinen ganzen Körper nicht mehr brauchen. Er würde seine einzelnen Gliedmaßen auf der ganzen Welt suchen und wieder zusammennähen können, sollte er erneut versagen. Die Geduld seines Herrn war schon zu oft auf die Probe gestellt worden und bei seinem nächsten Fehler würde der dünn gespannte Faden endgültig reißen.

Doch wie um alles in der Welt konnte er die Todes Tochter zu seinem Meister schaffen?

Sie besaß magische Kräfte und war ebenfalls eine Meisterin im Schwertkampf. Das hatte man ihm zumindest erzählt. Natürlich war es als Schattendiener keine Besonderheit, die Kunst des Schwertkampfes zu beherrschen, dennoch war sich Enago sicher, dass er einer der Besten war, wenn es darum ging, Körper aufzuschlitzen und Feinden den Kopf abzuschlagen. Jahrelang war er vom Schatten persönlich ausgebildet worden. Er vermochte nun perfekt mit jeglicher Waffe umzugehen und seinen Gegner in Sekundenschnelle zu töten. Jedoch war er sich der Tatsache bewusst, dass er seine Feindin dieses Mal nicht umbringen, sondern lediglich gefangen nehmen sollte. Der Schatten höchstpersönlich würde ihm sein Schwert in den Leib rammen oder ihn enthaupten lassen, wenn er der Todes Tochter die Kehle durchschneiden würde.

Außerdem blieb noch immer der zweite Todesritter, ihr Beschützer. Leise fluchte Enago vor sich hin. Sie waren zu zweit. Er dagegen war alleine. Er, ein völlig verdreckter, vor Furcht schlotternder Niemand, besaß die geradezu törichte Absicht, sich gegen gleich zwei Feinde behaupten zu wollen, die mit ihren magischen Fähigkeiten seine natürlichen Kräfte weit überragen würden. Was hatte ihn nur dazu getrieben, seinem Meister diesen absurden Vorschlag zu unterbreiten?

Unruhig fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Es war Angst gewesen, die ihn getrieben hatte – Todesangst. Langsam schleppte Enago sich aus dem Fluss und brach völlig erschöpft am Ufer zusammen. Das Wasser hatte sich zum Teil rot gefärbt und sein Blut begann langsam mit den Stromschnellen flussabwärts zu fließen. Enago beobachtete, wie sein kostbarer Lebenssaft im klaren Wasser verschwand. Wie konnte es nur so weit kommen? Warum nahm er all diese Strapazen, all diese Schmerzen auf sich, um einer Kreatur aus der Unterwelt zu gefallen? Zorn wallte in Enago auf. Der Schatten hatte ihm versprochen, aus ihm einen wohlhabenden Mann zu machen, sodass er über sein eigenes Reich herrschen würde und ebenso mächtig wäre wie ein König. Dafür hatte er mit seinem Blut geschworen, dass er ihm dienen würde – ein Leben lang. Bis jetzt waren Schmerzen und Kummer der einzige Lohn gewesen, den er jemals erhalten hatte. Dazu kamen Furcht vor dem baldigen Tod und Folter für sein Versagen.

Die Flucht aus der Hölle hatte den Schatten viel Kraft gekostet. Es hatte lange Zeit gebraucht, bis er sich wieder vollständig erholt und zu seiner alten Kraft gelang war. Doch nun war die dunkle Kreatur wieder so mächtig wie zuvor, sie hatte sich erholt und war nun bereit, diese Welt in ihre Gewalt zu bringen. Die Zeit schien reif. Schon seit einigen Jahren verweilte der Schatten in seiner Höhle. Er hatte sich Wissen angehäuft, magisches Wissen, und damit Diener seines Abbildes erschaffen, die Schattendiener.

Auch Enago war ein Schattendiener, doch war er auch ein Mensch. Ein Mensch, der sich dem dunklen Meister aus freien Stücken angeschlossen hatte. Wie er letztlich zu seinem jetzigen Herrn gekommen war, das war bloß noch ein ferner Gedanke. Wenn sich Enago zu erinnern versuchte, was vor seinem Leben als Schattendiener passiert war, tauchten bloß ein paar verschwommene Bilder in seinen Gedanken auf. Auf den meisten von ihnen sah er sich selbst, sich und eine Menge Blut. Der Schatten hatte ihn manipuliert, das war ihm inzwischen klar geworden. Man brauchte keine magischen Fähigkeiten, keine außergewöhnlichen Begabungen, um mit Lug und Trug das Vertrauen leichtgläubiger Menschen zu gewinnen. Es war viel einfacher, dies wusste er jetzt. Und hätte Enago früher geahnt, welches Leid auf ihn zukommen würde, er hätte zweimal überlegt, bevor er aus Gier zu dem wurde, was er heute nun einmal war. Doch es war zu spät. Es gab kein Zurück mehr – nie wieder.

Plötzlich huschte ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht, in seinen Augen blitzte ein Schimmer der Hoffnung auf. Er blieb nur kurz, bevor er wieder erlosch, dennoch reichte es dem Schattendiener aus, um ein Stück seines angenagten Selbstvertrauens wiederzuerlangen. Er musste die Todes Tochter nicht bekämpfen. Es war doch so viel einfacher! Hastig rappelte er sich auf und machte sich auf den Weg. Er begab sich auf den Weg, doch wohin er ging, gehen musste, wusste er selbst nicht.

Es war Abend geworden. Die Sonne versteckte sich schon halb hinter den Bergen, als der Schattendiener ein kleines Dorf erreichte. Völlig ausgelaugt, schleppte er sich durch die immer dunkler werdenden Gassen auf der Suche nach einem Wirtshaus oder sonstigen Unterkunft, die ihm für heute Nacht als Schlafstätte dienen konnte. Plötzlich hörte er lautes Gelächter und sah mehrere Lichter aus dem hinteren Teil des Dorfes. Es roch angenehm nach Braten, aber auch der strenge Geruch von Alkohol und Erbrochenem lag in der Luft. Angetrieben durch Hunger, Durst und Müdigkeit, lief er durch die Straßen, begegnete immer wieder ein paar Betrunkenen, die in düsteren Gassen ihren Kater ausschliefen oder sich aus vollem Halse übergaben. Das Licht wurde heller und das Gelächter lauter und schon bald erreichte er ein altes, heruntergekommenes Gebäude. Die Farbe an den Wänden begann langsam abzublättern und Enago sah, dass neben ein paar eingeschlagenen Fenstern auch das scheinbar undichte Dach einen Handwerker nötig hatte. Das Schild, das vor der Tür hing und eine betrunkene Wildsau zeigte, schien nicht sehr einladend. Doch Enago war den halben Tag lang gelaufen und hätte wahrscheinlich auch in einem Fass übernachtet, hätte man es ihm angeboten. Seine Hand hielt kurz inne, bevor sie die Klinge erreichte, er zögerte. Doch die Vorstellung, ein halbwegs gemütliches Strohbett gegen eine kalte Gasse mit betrunkenen Raufbolden einzutauschen, ließ ihn letztlich die schwere Holztür aufstoßen.

Die Inneneinrichtung war lieblos und nicht anders zu erwarten gewesen - alt, heruntergekommen und schlicht eingerichtet. Überall standen kleine, runde Tische, um die winzige Hocker gequetscht worden waren und auf denen mehrere betrunkene Männer mit fetten Bierbäuchen saßen, die ständig in gackerndes Gelächter ausbrachen.

Enago spürte, wie sein Verstand ihm sofort riet zu verschwinden. Mit riesigen, muskelbepackten Männern war nicht zu spaßen, erst recht nicht, wenn sie betrunken waren und er war zu erschöpft, um heute noch gegen einen dieser Trunkenbolde bestehen zu können. Einen kurzen Moment lang kämpfte er mit sich selbst, betrachtete den großen Raum, als sein Blick plötzlich auf die unscheinbare Theke am hinteren Ende des Raumes fiel. Auch hier saßen riesige Kerle mit noch riesigeren Bierkrügen in den Händen und kicherten wie kleine Mädchen. Hinter der Theke stand der Wirt, den das ganze Spektakel nicht zu interessieren schien. Der Wirt schien nicht recht in das ganze Spektakel seines Hauses zu passen, er fiel auf wie ein Tropfen Blut im sonst so makellos weißen Schnee. Anders als seine Gäste war er klein und schmächtig und anstatt eines Grinsens auf den Lippen zierte ihn ein gelangweilter Gesichtsausdruck.

Enago zog es wieder zur Tür hinaus, doch dann siegte die Müdigkeit und er ließ sich an einem der Hocker neben der Theke nieder.

„Was darf’ s sein?“

Die tiefe Stimme des Barkeepers, die so gar nicht zu seinem Aussehen passte und ihn eher lächerlicher als männlicher erscheinen ließ, ließ ihn hochschrecken.

„Wie bitte?“

„Was willst du?“

Die Bohnenstange hauchte ihm seinen miefigen Atem ins Gesicht und einen kurzen Augenblick lang sah sich Enago wieder über den kalten Höhlenboden kriechen. Hastig versuchte er den grausamen Gedanken wieder abzuschütteln.

„Ich möchte bitte ein Wasser“, stotterte er.

Der Wirt sah ihn kurz irritiert an, so als ob er von diesem Getränk noch nie in seinem Leben etwas gehört hätte. Schließlich ging er jedoch zu einem der unzähligen Fässer, die hinter ihm aufgereiht waren und begann eine braune Brühe in ein verdrecktes Glas zu füllen. Enago war sich nicht sicher, ob das, was ihm der Wirt da auf den Tisch knallte, wirklich Wasser war. Aber er war sich sicher, dass es nicht gesund sein konnte.

„Danke.“

Langsam hob er das Glas zum Mund, überlegte es sich schließlich doch anders, als er den toten Körper einer Fliege im Glas schwimmen sah und ließ es wieder auf die Theke sinken. Nur mit Mühe hielt er den Inhalt seines Magens davon ab, zum Vorschein zu treten. Plötzlich fühlte er sich unangenehm beobachtet. Ein kalter Hauch breitete sich in seinem Nacken aus, ließ ihn leicht frösteln.

Enago hatte im Laufe der Zeit ein Gefühl dafür entwickelt, die Dinge nicht nur mit seinen Augen zu sehen, sondern sich auf alle Instinkte und Gefühle zu verlassen und drehte sich ruckartig um. Hinter ihm stand ein riesiger Mann. In Enagos Kopf erschien sofort das Bild eines gewaltigen Ochsen. Der Vergleich war keineswegs übertrieben. Der Typ war locker zwei Meter groß und besaß das Gesicht eines Stiers. Seine Nase war ziemlich breit und platt. Enago vermutete, dass sein Riechorgan durch eine Schlägerei so zugerichtet worden war. Seine Augen waren im Verhältnis zum Rest seines muskelbepackten Körpers winzig und blickten trotzdem grimmig drein. Sein rechtes Ohr schien unversehrt. Vom linken jedoch fehlte die Hälfte und sein Atem, den er ihm ununterbrochen ins Gesicht hauchte, sprach dafür, dass er heute nicht nur ein Bier zu sich genommen hatte.

„Was für ein Mädchen haben wir denn hier?“ Seine Stimme passte völlig zu seinem Aussehen.

„Entschuldigung, was hast du gesagt?“

Enago erhob sich von seinem Hocker und stellte sich dem Kraftprotz gegenüber. Er fühlte sich dadurch jedoch nicht besser, musste er doch seinen Kopf in den Nacken legen, um ihm überhaupt in die Augen sehen zu können.

„Ich will keinen Ärger“ Enago setze sich wieder.

Der Dicke fing an zu lachen.

„Ich schon!“, entgegnete er. „Und wie ich sehe, haben wir einen Gewinner.“ Er stemmt seine dicken Arme in die Hüften.

„Du Wicht sitzt auf meinem Stuhl!“, schnaubte er.

„Verzeih, das wusste ich nicht“, säuselte der Schattendiener. „Ich habe gar kein Schild gesehen, auf dem ein fetter Ochse abgebildet ist.“

Gleich nachdem die Worte seinen Mund verlassen hatten, biss sich Enago hastig auf die Zunge. Doch es war zu spät. Er hatte den Riesen in aller Öffentlichkeit beleidigt und das würde er sich sicher nicht gefallen lassen. Eine Menge Schaulustiger hatte sich währenddessen um die Theke herum versammelt und gaffte Enago neugierig von allen Seiten her an. Enago sah, wie die Meute aufgeregt zu tuscheln begann und ein paar der Kraftprotze Wetten über den Ausgang des unvermeidbaren Streites abzuschließen begannen. Hastig legte Enago eine Münze auf die Theke und erhob sich erneut. Doch der Kraftprotz, dessen Gesicht ein zorniges Rot angenommen hatte, schob sich vor ihn.

„Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du das, was noch von dir übrig ist, von der Straße kratzen.“

Er hatte sein Gesicht ganz dicht vor Enagos geschoben und seine kleinen Augen funkelten ihn bedrohlich an. Der Schattendiener unternahm einen weiteren kläglichen Versuch, sich an dem Riesen vorbeizudrücken, doch dieser packte ihn an der Schulter und drückte ihn zurück auf den Hocker. Enago sah sich verzweifelt nach dem Wirt um, doch der starrte wie gebannt auf einen Fleck auf der Theke und bearbeitete ihn unentwegt mit einem braunen Putzlappen.

„Wo willst du denn hin? Hat das kleine Mädchen die Hosen voll?“

Der Dicke und seine Kumpels, die sich mittlerweile hinter ihm aufgebaut hatten, grölten vor Lachen. Für einen kurzen Moment achtete der Riese nicht mehr auf Enago, sondern amüsierte sich über seinen eigenen Witz. Enago jedoch reichte dieser kurze Augenblick aus, um sich aus dem Staub zu machen. Blitzschnell huschte er zwischen den Beinen seines Gegenübers hindurch zur Tür, riss sie auf und rannte auf die Straße hinaus. Er blieb kurz stehen, um sich zu orientieren, doch das stellte sich als Fehler heraus.

Der Riese schien körperlich zu schwerfällig und zu besoffen, um ihm schnell folgen zu können, doch trotz der erheblichen Menge an Alkohol hatte er schnell begriffen, dass sein Opfer die Flucht ergriffen hatte. Plötzlich wurde er an der Schulter herumgezogen. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte unsanft auf das harte Pflaster. Enago wollte sich aufrichten, um zum Angriff überzugehen, doch da folgte der nächste Schlag mitten ins Gesicht. Er spürte, wie sein Nasenbein brach. Keuchend warf er sich auf den Bauch und entging damit nur knapp einem weiteren Fausthieb. Panisch versuchte er den Griff seines Schwertes, das er unter seinem Umhang verborgen hatte, zu erreichen, doch da spürte er, wie ein paar mächtige Hände ihn packten und erneut zu Boden schleuderten. Enago wurde die Luft aus den Lungen gepresst. Hustend und Blut spuckend, wand er sich am Boden und rang verzweifelt nach Atem. Doch selbst eine kurze Pause schien ihm nicht gegönnt. Es folgte der nächste Schlag. Er spürte, wie die Faust des Ochsen ihn zum Röcheln brachte und sein Fuß hart gegen seinen Kopf und sein Schienenbein trat. Enago versuchte aufzustehen, wollte sich verteidigen, doch da packte ihn die kalte Hand des Todes. Verzweifelt versuchte er sie abzuschütteln und nicht in ewiger Finsternis zu versinken. Im letzten Augenblick, kurz bevor der Fuß des Raufboldes seinen Kopf ein zweites Mal erreichte, hörte er die Stimme eines weiteren Mannes.

„Hey Ron, das reicht jetzt langsam. Er hat seine Lektion gelernt!“

Es bestand kein Zweifel darin, dass der schmächtige Wirt ihm gerade das Leben gerettet hatte, seine tiefe Stimme war schon nach kurzer Zeit unverkennbar. Ron brummte etwas Unverständliches, ließ dann jedoch von Enago ab und zog sich zurück in das Wirtshaus. Enago wurde blutend auf der Straße zurückgelassen. Alles drehte sich um ihn herum. Ihm war schlecht. Das heiße Blut aus seiner Nase floss ihm direkt in den Mund. Er musste schlucken, doch das Blut hinderte ihn daran. Ihm wurde übel und er übergab sich auf die Straße. Er fror. Es war mittlerweile stockdunkel geworden und nur das leichte Licht des Mondes erhellte die Straßen.

Der Schattendiener spuckte Blut, versuchte krampfhaft aufzustehen oder die Augen zu öffnen, doch beides gab er nach ein paar kläglichen Versuchen auf. Fast wünschte er sich, der Riese hätte ihn mit dem letzten Schlag ins Jenseits befördert, da er so kläglich erfrieren würde.

Plötzlich hörte er Hufgetrappel. Es waren die Schritte von ein oder zwei großen Pferden. Er spürte, wie der Boden leicht vibrierte, als ein Reiter auf den Boden sprang.

„Komm steh auf.“

Die helle Stimme, die zu ihm sprach, gab ihm neue Kraft und half ihm dabei, langsam aufzustehen. Die Welt drehte sich weiter und er drohte wieder zu fallen. Doch die Gestalt packte und hielt ihn fest.

„Wir sind gleich da, halt durch.“

Enago wurde auf ein Pferd gehoben und mit einem Seil am Sattel festgebunden, damit er nicht herunterfallen konnte. Langsam setzte sich das Tier nun in Bewegung. Mit wem Enago mitging und wohin, das war ihm nicht bewusst. Es war ihm auch egal. Nur diese Übelkeit sollte aufhören.




Todes Tochter

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