Читать книгу Todes Tochter - Anna-Lina Köhler - Страница 9

Keira

Оглавление

Kleine, warme Hände lösten die Seile, die Enago am Sattel hielten und zogen ihn vom Pferd. Er wunderte sich, dass so schmächtige Hände gleichzeitig so kräftig sein konnten. Sie hoben ihn hoch und schleiften ihn über den Boden. Enago nahm das alles nur im Halbschlaf wahr. Er wurde durch eine Tür hindurchgeführt und auf ein weiches Bett gelegt. Die Hände ließen ihn los, doch Enago griff wieder danach, wollte nicht, dass sie ihn loslassen. Er fühlte sich so sicher. Vorsichtig wurden die kleinen Hände aus seinen gezogen. Enago wollte aufstehen, doch er war zu müde. Immer wieder sank er zurück auf die weiche Matratze. Die schmächtigen Hände berührten in plötzlich wieder an den Schultern und drückten ihn zurück auf das Bett. Eine weiche Decke wurde über ihn gelegt. Enago hatte aufgehört sich zu wehren und übergab sich seinem Schicksal. Er war müde, unglaublich müde. Sein Gesicht schmerzte. Während des Rittes hatte seine Nase aufgehört zu bluten, doch der Schmerz war noch längst nicht verschwunden. Er musste schrecklich aussehen. Sein Gesicht rot gefärbt durch sein eigenes Blut. Seinen Gegner hatte Enago nicht ein einziges Mal verletzen können. Insgeheim schämte er sich dafür. Er war ein Schattendiener. Sein Herr hatte ihm jahrelang die verschiedensten Künste und Techniken gezeigt. Mit einer Waffe umzugehen, das hätte er eigentlich im Schlaf können müssen. Er übergab sich schließlich der Dunkelheit. Ob er je wieder aufwachen würde, war ihm in diesem Moment gleich. Das Einzige, das er sich im Moment wünschte, war Ruhe und Frieden. Seine letzten Gedanken galten seinem Retter, dann ließ er sich sachte in den Schlaf führen.

Der köstliche Geruch von bratendem Fleisch lockte ihn aus seinem Schlaf. Enago richtete sich auf und fuhr sich mit der flachen Hand durch die kurzen, schwarzen Haare. Verwirrt sah er sich um. Er befand sich in einem höhlenartigen Raum. Sein erster Gedanke war, zurück bei seinem Meister zu sein. Doch dafür war der Raum zu hell und zu freundlich. Es standen Regale überall an den Wänden, die mit seltsamen Flaschen unterschiedlicher Farben gefüllt waren. Enago lag in einem weißen Bett, das mit wunderschönen Schnitzereien verziert war. Weiße Flammen tanzten an der Bettkante entlang und wurden von einem wunderschönen Regenbogen durchbrochen. Überrascht stellte er fest, dass seine Wunden versorgt worden waren. Seine Nase schien gerichtet und das getrocknete Blut war aus seinem Gesicht gewischt worden. Außer ein paar hässlichen Blutergüssen entdeckte er keine weiteren Verletzungen mehr. Er fühlte sich ausgeruht und genoss es, den Schmerz endlich losgeworden zu sein.

Da entdeckte er eine Tür an der hinteren Höhlenwand. Anders als der Rest des Raumes, war sie aus einem dunklen Holz gefertigt worden, sodass der Schattendiener sie zuerst übersehen hatte. Langsam schlug er die Decken zurück und erhob sich aus seinem Bett. Der Höhlenboden war nicht wie erwartet hart und kalt, sondern bestand aus weicher, warmer Erde. Trotzdem fröstelte er leicht, als die kalte Luft an seine Haut drang und er zog den Umhang fester um seine Schulter.

Langsam näherte er sich der Tür. Sein Herz schlug schneller, als er den goldenen Türknopf hinunterdrückte. Seine Erwartungen wurden jedoch enttäuscht, als er feststellte, dass sie verschlossen war. Doch Enago ließ sich davon nicht abhalten. Seine Neugier hatte ihn übermannt und er ließ sich auf die Knie sinken. Langsam, als könnte die Tür zum Leben erwachen, blies er den Staub aus dem Schlüsselloch und sah hindurch. Der Raum war leicht mit Kerzen beleuchtet und strahlte eine unheimliche Stimmung aus. Enago konnte nicht erkennen, ob sich Möbelstücke oder sonstige Dinge in dem Raum neben ihm befanden, sein Sichtfeld reichte dafür nicht aus.

Plötzlich nahm Enago eine Gestalt hinter der Tür wahr. Sie bewegte sich leicht, fast, als ob sie fliegen würde. War dies die Person, die ihn hierhergebracht hatte? Und wenn ja, warum hatte sie ihm geholfen?

Enago zuckte zusammen. Die Gestalt näherte sich, kam langsam zur Tür. Er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, dann wurde die Tür mit einem kräftigen Ruck nach innen aufgestoßen, sodass Enago von ihr erfasst und zurückgestoßen wurde. Unsanft schlitterte er ein paar Meter zurück. Fluchend strich er sich über die aufgeschürften Handflächen. Schließlich trat die Gestalt aus dem Raum heraus ins Licht. Enago hob neugierig den Kopf. Endlich würde er das Gesicht seines Retters erblicken dürfen. Enago stöhnte verwundert auf, als der dünne Lichtschein auf die Gestalt traf.

Es war eine junge Frau, die den verwirrten Enago mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete. Sie trug ein langes, rotes Kleid. Es war an den Ärmelrändern und am Rock mit goldenen Schriftzügen verziert. Lange Bänder an den Schultern verliehen ihrer schmächtigen Gestalt ein glanzvolles Auftreten. Bei jeder ihrer Bewegungen schwangen die Bänder um ihr Kleid und tanzten in der Luft. Ihre langen, blonden Haare strahlten auch in dem wenigen Licht, das in die Höhle fiel.

Enago blieb die Luft weg. Noch nie war ihm eine so wunderschöne Frau begegnet. Plötzlich bemerkte er, in was für einer peinlichen Situation er sich befand. Er errötete und stand hastig auf. Die junge Frau lächelte ihn belustigt an.

„Wie ich sehe, bist du wach.“

Enago wollte ihr antworten, brachte jedoch nur ein kurzes Stottern zustande. Sie ging auf ihn zu und nahm seine Hand. Nachdem sie ihm aufgeholfen hatte, führte sie ihn langsam und behutsam zu einem Tisch. Enago nahm Platz. Die Frau im roten Kleid gab ihm eine kleine Schale aus Holz. In dieser Schale befand sich eine duftende, braune Brühe mit verschiedenen Gemüsesorten und grünen Blättern. Gierig schlang Enago sie hinunter. Es war nicht das Beste, das er jemals gegessen hatte, doch da völlig ausgehungert, war er froh, als sie ihm die Schüssel noch einmal auffüllte. Eine Zeit lang sah sie ihm beim Essen zu. Schließlich setzte sie sich auf einen der glänzend weißen Stühle neben ihn an den Tisch.

„Schön, dass es dir schmeckt“, sagte sie und ihre Stimme klang so freundlich, dass Enago für einen kurzen Moment seine Suppe vergaß.

„Die meisten meiner Gäste wissen mein Essen nicht zu schätzen.“

Enago räusperte sich. „Es schmeckt hervorragend.“

Wieder kam ihr schönes Lächeln zum Vorschein. „Wie heißt du eigentlich?“

„Mein Name ist Enago.“

„Warum hast du dich in so einer dreckigen kleinen Stadt aufgehalten, Enago? Du siehst mir nicht wie einer von diesen Trunken und Raufbolden aus, die in dieser Stadt scharenweise vorzufinden sind.“

Warum Enago ihre Frage beantwortete, wusste er im Nachhinein selbst nicht mehr. Ihre Stimme klang nicht fordernd, ganz im Gegenteil. Sie war hell und freundlich und vielleicht war es genau das, was Enago zum Sprechen brachte.

„Ich habe jemanden gesucht.“

„Wen denn?“, fragte sie neugierig. „Ich kenne mich gut in dieser Gegend aus, vielleicht kann ich dir ja helfen.“

Ihre Frage ließ Enago aufschrecken. Für einen kurzen Moment rang er damit, ihr die Wahrheit zu erzählen. Doch dann entschied er sich anders. Sie hatte ihn zwar gerettet, doch das hieß nicht, dass er ihr seine Geheimnisse erzählen musste. Was tat er hier überhaupt?

„Ich bin mir sicher, dass du sie nicht kennst.“

Sie blickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf ihre Fingernägel. „Ja, wahrscheinlich hast du recht.“

Eine Weile lang war es still. Enago wusste nicht, ob er sie mit diesem Satz vielleicht verletzt hatte, schließlich hatte sie ihm nur helfen wollen. Außerdem wünschte Enago sich, ihr schönes Lächeln noch einmal zu sehen, es war, als ob es ihm neue Kraft geben würde.

„Wie heißt du eigentlich?“

Die Frau hob den Kopf.

„Ich? Oh, Entschuldigung. Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Keira.“

Da war es wieder. Ihr schönes Lächeln.

„Hast du mich vorhin vor diesem Typen gerettet?“ Enago versuchte, die Scham, die in seinen Worten mitschwang, zu verbergen, jedoch war sie noch deutlich herauszuhören.

„Ja“, gab sie zu. „Ich habe gesehen, wie dich dieser Mann zusammengeschlagen hat. Ich sage ja, eine dreckige Stadt voller Trunken- und Raufbolde, wo jeder jeden für nur ein bescheuertes Goldstück in die Hölle schicken würde.“

Sie sahen sich an. Enago betrachtete ihre wunderschönen blauen Augen. Schließlich wandte er den Blick von ihr ab.

„Das war sehr mutig von dir.“

Sie grinste erst, musste dann lachen. Er sah sie verwundert an.

„Ich war nicht mutig“, lachte sie. „Ich habe nur abgewartet, bis diese Kerle weg waren und dich dann hierher gebracht, um dich zu heilen. Niemand verdient den Tod in solch schäbigen Straßen.“

„Ich verstehe.“

Auch Enago rang sich ein kurzes Lachen ab. Es tat ihm gut. Doch ihre Worte erinnerten ihn daran, dass auf ihn noch ein viel abscheulicherer Tod warten würde, sollte er versagen. Seine Gedanken schweiften zurück zu seinem Herrn und sein Lächeln erstarb. Er musste los. Seine Aufgabe duldete keinen Aufschub, wenn er noch ein paar weitere Jahre auf dieser Erde leben wollte. Schließlich hatte er keine Ahnung, wo sich die Todes Tochter befand und es schien, als ob seine Reise noch eine gute Weile dauern würde. Hastig stand er auf.

„Ich muss gehen.“

Keira erhob sich ebenfalls. Enago glaubte einen kurzen Moment der Enttäuschung in ihrem Gesicht lesen zu können, doch es war ihm bewusst, dass er darauf keine Rücksicht nehmen konnte.

„Musst du wirklich schon gehen?“, fragte sie.

„Ja.“ Seine Antwort war knapp und fiel kühler aus als beabsichtigt.

„Die Person, die ich suche, will wahrscheinlich nicht gefunden werden und mir bleibt kaum Zeit.“

„Lass mich mit dir gehen!“

Ihr Angebot überraschte ihn. Die junge Frau kannte ihn gar nicht und trotzdem schenkte sie ihm ihr Vertrauen. Enago schüttelte kurzerhand den Kopf. Sie stünde ihm bei seiner Aufgabe bloß im Weg, wäre nichts weiter als ein lästiges Anhängsel – ein lästiges, aber unglaublich schönes Anhängsel.

„Es könnte gefährlich werden. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert“, versuchte er sich rauszureden.

„Es gibt vielleicht Menschen, denen meine Ankunft nicht gefallen wird. Es könnte zum Kampf kommen und ich kann nicht uns beide gleichzeitig beschützen!“

„Kannst du kämpfen?“

Ihre Frage verwirrte Enago.

„Ja, natürlich!“

„Dann ist ja gut. Denn ich kann uns beide auch nicht gleichzeitig beschützen.“

Mit einem Griff schob sie den linken Ärmel ihres Kleides nach oben und zog einen kleinen silbernen Dolch mit zwei Drachenköpfen am Griff hervor.

„Jeder verteidigt sich selbst, denn beide können wir kämpfen.“

Mit diesen Worten marschierte sie an Enago vorbei aus der Tür. Der Schattendiener stand einen kurzen Moment wie versteinert im Türrahmen. Ihre entschlossene Art und ihre schlagkräftigen Argumente hatten einen verblüfften Ausdruck auf sein Gesicht gezaubert. Schließlich zog er die Tür hinter sich zu.

„Na dann los!“




Todes Tochter

Подняться наверх