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2.REISEVERLAUF

TEIL A: ALGARVE (FARO, ALBUFEIRA, LAGOS), SETUBAL UND LISSABON

1.Tag: Anreise Hamburg – Faro/​Portugal, 19. August

Glitzernde Sonnenstrahlen, die Sonne scheint als runder, glühender Ball über dem See, als ich im Zug sitze. Ich denke an meine Lieben daheim und daran, dass alles zwei Seiten hat. Auf der einen Seite die Wehmut, mit der mich mein Mann und mein Sohn bedenken. Sie lassen mich nur ungern ziehen, das fühle ich genau – und doch, ich will diese Zeit – Zeit für mich, auch wenn ich gegen mein schlechtes Gewissen ankämpfen muss. Meine drei erwachsenen Kinder erleben bei mir zur Zeit eine „verkehrte Welt“, denn gerade gestern habe ich bei meinem älteren Sohn festgestellt, dass sich die Zeiten schnell ändern: Vor kurzem noch hatten die Kinder Zeit zum Reisen und ich musste arbeiten, doch nun ist es auf einmal umgekehrt, die Welt hat sich verändert, und das schneller als erwartet.

Wenn ich mich nach dem „Warum?“ frage, so erscheint mir selbst meine Sichtweise widersprüchlich. Reicht es, dass ich in jungen Jahren nicht derartig reisen konnte? Vielmehr denke ich, dass ich frei sein will, Freiheit fühlen und leben will, endlich mal das tun, was ich möchte! Spannung erleben, Neues sehen und hören, mich selbst wieder fühlen nach so langer Zeit. Im Älterwerden wird mir immer klarer, dass unsere Zeit auf Erden begrenzt ist, dass es nun gilt, das Beste aus der noch verbleibenden Zeit herauszuholen, herauszuleben, herauszufühlen. Intensives Leben zu haben und nicht nur darauf zu warten, Alltägliches abzuarbeiten.

Ich sitze im Zug und versuche, nach vorne zu sehen in Erwartung auf all das, was in den folgenden sechs Wochen auf mich zukommen wird. Was werden sie mir bringen? Mit welchen Gefühlen werde ich im Oktober wieder nach Hause fahren? Ich weiß es nicht und vielleicht ist das auch gut so. Werde ich die Einsamkeit aushalten? Was wird mir mein Weg für neue Menschen schenken? Die Zuhausegebliebenen tun mir Leid, weil sie weiterhin die Pflicht haben und ich – endlich – die Kür leben darf. Trennung auf Zeit, in der jeder wieder „ich“ und nicht immer „wir“ ist, Gelegenheit sich neu zu finden und zu definieren.

Was macht das Leben mit uns, wenn wir uns nach vielen Jahren des Zusammenlebens einfach nicht mehr fühlen können, wenn wir zu einem Einheitsbrei von Gemeinsamkeiten verkocht sind? Eigentlich mag ich dich – noch immer – jedoch nicht immerzu, nicht pausenlos. Ab und zu möchte ich einfach ich sein und nur für mich planen, denken, fühlen, ohne zu teilen, ohne Rücksicht zu nehmen, ohne immer an andere zu denken! Ich möchte dabei keine Schuld empfinden, kein schlechtes Gewissen haben. Ich möchte glücklich sein dürfen, auch mit mir allein, zufrieden, dass ich mein eigenes Leben habe. Leben und sterben, gesund und krank ist jeder für sich allein, auch wenn man zu zweit ist. Auch in Gesellschaft hat jeder seine eigenen Schmerzen, auch in Gesellschaft tut manchmal das Herz weh. Also, packen wir es an, das eigene Leben, nehmen wir es in die Hand und uns selbst an die Hand, planen wir neu und individuell für uns – nein, für mich!

So erreiche ich Hamburg, Hauptbahnhof, und fahre mit dem Flughafenbus, der unmittelbar vor dem Bahnhof hält, weiter zum Flughafen. Ich bin pünktlich da, habe noch eine knappe Stunde Zeit, bis ich einchecken kann. So gehe ich einen Kaffee trinken und schlendere durch die Auslagen der Geschäfte, bis ich dann bei meiner Fluggesellschaft anstehe, um mein Gepäck abzugeben. Das geht zügig und schnell, so dass ich kurze Zeit später durch die Personen- und Handgepäckkontrolle gehen kann. Hier werde ich – wie gewohnt – auf Herz und Nieren durchgecheckt, muss meine Bauchtasche, mein Handy und alle persönlichen Dinge in den dafür vorgesehenen Korb zum Durchleuchten legen und gehe dann durch die Kontrolle hindurch. Danach sortiere ich alle persönlichen Gegenstände wieder an den richtigen Platz und setze mich in den Wartebereich, um zu lesen.

Es dauert gar nicht lange, bis ich Gesellschaft bekomme, ein Herr in meinem Alter setzt sich neben mich und betrachtet seine beiden Bordkarten. Erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich nur eine Bordkarte bekommen habe, nämlich für Hamburg – Palma de Mallorca. Etwas panisch unterlegt, springe ich auf, will zurück zum Ticketschalter gehen und stelle fest, dass ich dafür ganz aus dem Flughafengelände herausgehen muss. So stehe ich erneut am Ticketschalter an, warte, bis ich dran bin und reklamiere, dass ich die Bordkarte für Palma – Faro nicht bekommen habe, warum auch immer. Nach mehrmaliger Erklärung und kritisch prüfenden Blicken auf den Computer bekomme ich die zweite, mir noch fehlende, Bordkarte ausgehändigt. Ich bin in diesem Moment unglaublich froh, dass ich das Fehlen der zweiten Bordkarte noch hier in Hamburg bemerkt habe, denn sonst hätte ich wahrscheinlich in Palma festgesteckt, ohne zu meinem Bestimmungsziel Faro planmäßig hinkommen zu können. So muss ich ein zweites Mal durch den Sicherheitscheck, um dann nach einer weiteren, kurzen Wartezeit, planmäßig in das Flugzeug einsteigen zu können.

Endlos warte ich auf den Start, auf das Ankommen, auf das Kommende. Ich lese, ich schreibe, ich sehe, ich höre, jedoch so richtig gut geht es mir nicht – noch nicht. Ich weiß, dass meine Lieben zu Hause sich Sorgen machen, Angst um mich haben, und doch muss ich dieses tun, es ist wichtig für mich. Ich, die ich Jahre lang nur noch aus Rücksichtnahme bestand, beginne wieder zu leben, selbständig und autark. Das ist ein sehr erhebendes Gefühl.

Ankunft in Palma – Zwischenstopp – warme und laue Luft empfängt mich. Ich muss anstehen und auf den Ausstieg warten, fahre mit dem Bus zum Flughafengebäude hin. Hier muss ich nun den richtigen Flugsteig suchen, um dort nach einiger Wartezeit, mit Ausweis und Bordkarte in der Hand, erneut einzuchecken.

Und wieder startet das Flugzeug, dieses Mal in Richtung Faro, wo es nach zweieinhalb Stunden landet.

Bei der Ankunft stelle ich fest, dass wir eine Stunde später als angegeben gelandet sind, jedoch handelt es sich dabei um die Zeitverschiebung, die Uhr ist in Portugal um eine Stunde später einzustellen als in Deutschland. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug mache ich mir so meine Gedanken, befinde mich in aufgeregter Erwartung und überlege, ob es wohl möglich sein wird, in der noch bestehenden Hauptsaison ein billiges Privatquartier zu finden. Auch denke ich an meine Familie, die mich auf meinem Reiseweg gedanklich liebevoll begleitet. Bei mir jedoch sind Wehmut und Heimweh verflogen, ich bin voller Erwartung und richte meinen Blick jetzt ausschließlich nach vorn.

Das ist auch notwendig, denn angekommen in Faro, erwartet mich die erste Überraschung, denn mein Rucksack ist nicht da, kommt auch nicht auf dem Laufband angereist. Suchend warte ich, bis alle Umstehenden ihr Gepäck an sich genommen haben, und schließlich stehe ich allein da. Nun muss ich mich durchfragen, englisch geht, zum richtigen Schalter „Lost and Found“, mache meine Meldung, bekomme eine Bearbeitungsnummer und stehe immer noch ohne Rucksack und ohne Angabe, wann und wo ich diesen bekomme, da. Na, das ist ja ein merkwürdiger Start in meine Pilgerreise!

Bevor ich das Flughafengebäude verlasse, frage ich mich zur Touristeninformation durch, bekomme dort eine Karte von Faro und ein Verzeichnis von Pensionen. Nun bin ich gut vorbereitet und gehe leichten Schrittes ohne mein Gepäck aus dem Flughafengebäude heraus. Die Busstation kann ich erst nach dreimaligem Nachfragen finden, weil so viele wartende Menschen überall herumstehen. Nach fast zwanzig Minuten Wartezeit kommt der Bus, ich steige ein und versuche, schon im Bus sitzend, herauszubekommen, wo sich das Zentrum von Faro befindet und wo ich dann aussteigen muss. Hinter mir sitzt eine Französin, die mir genau zeigen kann, wie weit ich mit dem Bus mitfahren muss. Schließlich erreiche ich das Zentrum, steige aus und sehe mich um.

Am Busbahnhof ist Markt, viele Stände sind mit bunten Kleidern und sonstigem aufgebaut, doch ich habe so gar keinen Sinn dafür, da ich ohne Gepäck völlig überfordert in einer fremden Stadt herumirre. Ein wenig anders hatte ich mir den Beginn meiner Pilgerreise nun doch vorgestellt.

Nach der Zeitumstellung von einer Stunde ist es 16.30 Uhr, die Sonne ist immer noch schön warm, als ich mich weiter zum Zentrum von Faro durchfrage. Es ist viel Betrieb in den Straßen, viele Leute sitzen in den Straßencafés bei Eis und Kaffee und ich bewundere alte Häuser mit schmiedeeisern vergitterten Fenstern, viele bunt abgesetzt angestrichen.

Allmählich erreiche ich die ersten Pensionen und höre „completo“, also besetzt, ausgebucht, es gibt einfach so schnell kein Quartier für mich. Auch der Preis ist mir mit 25,00 Euro vielfach zu hoch. Im Reiseführer habe ich gelesen, dass es in Portugal billig sein soll, das passt für mich nicht zusammen und scheint nach meinem ersten Eindruck nicht für die Algarve zu gelten. Schließlich frage ich mich zu der Pension durch, die ich noch zu Hause in einem Internetforum gefunden habe, die in der Rua Capitao Mor liegt, den gleichen Namen der Straße trägt und zu der auch ein Restaurant gehört.

Dort bekomme ich ein Zimmer mit Bad auf dem Flur für 20,00 Euro, welches mir ein unfreundlicher Herr, der mit den Sprachbarrieren völlig überfordert ist, zeigt. Ich miete mich vorerst für zwei Nächte ein und beziehe mein Zimmer, um dort zu telefonieren. Anruf bei der Fluggesellschaft in Deutschland, beim Flughafen, ob es etwas Neues gibt. Dort melde ich meine aktuelle Adresse, falls mein Rucksack wieder auftaucht, was ich doch stark hoffe. Mir geht es nicht gut, ich leide unter „Gepäcknotstand“ und weiß nicht so recht, wie es weitergehen soll. Zum Glück ist es so früh, dass ich das Notwendigste, was ich für die Übernachtung benötige, noch einkaufen kann. Jedoch bin ich genervt, enttäuscht, dass aus einem lockeren, entspannten Start in meine Reise so nichts geworden ist. Nicht auszudenken, was werden soll, falls mein Gepäck dauerhaft verschwunden sein sollte. Muss ich dann meine geplante Reise ganz abbrechen? Ich bezweifle stark, dass es mir gelingen könnte, mein gesamtes Reisegepäck vor meiner Wanderung neu einzukaufen. So fühle ich mich nicht so recht wohl und mache mir doch erhebliche Gedanken, wie das Ganze wohl weitergehen könnte.

Trotz allem will ich nicht auf meinem Zimmer bleiben und gehe nach draußen in den lauen Abend. Ich schlendere durch die kleinen Gassen der Altstadt von Faro. Überall gibt es altes, ausgetretenes Kopfsteinpflaster, im Zentrum zum Teil sehr schön als Mosaik ausgelegt. In den engen Gassen stehen bei sehr gedämpfter Beleuchtung vielerorts Tische und Stühle draußen vor kleinen Restaurants, Kneipen, Pizzerien. Auch hier gibt es natürlich „McD …“ und ich finde es so schade, dass offensichtlich im europäischen Ausland der typische Landescharakter immer mehr verloren geht.

Schließlich bleibe ich in einem Lokal hängen, von dem aus ich einen traumhaften Blick auf das Hafengelände habe. Es riecht eindeutig nach salziger Meeresluft, der Hafenquai ist mit Palmen umsäumt, als rotviolett die Sonne so allmählich, mit Glitzerstrahlen untergehend, weiße Luxusjachten im Hafenbecken beleuchtet. Das ist ein so schöner, urlaubsnaher Anblick, der mich fast mein Rucksackproblem vergessen lässt. So genieße ich den Abend in lauer Luft in sicherer Gewissheit, sechs Wochen Zeit für mich zu haben, sechs Wochen zum Leben, zum Fühlen, zum Wahrnehmen, eine Auszeit für die Sinne.

Schließlich ziehe ich mich gegen 22.00 Uhr in mein Zimmer zurück, um dort in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen.

Traumzeit – auf den Spuren des Jakobus

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