Читать книгу Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund - Anna Ruhe - Страница 10
ОглавлениеNachdem sich Emma und Max eine Zeit lang nur ratlos angeschwiegen hatten, drückte sich Max kurz entschlossen wieder durch den Spalt.
»Was hast du denn jetzt vor?«
Max straffte seine Schultern. »Was wohl? Nach einem Ausgang suchen!«
»Ach was. Auf einmal hast du nichts mehr gegen den Tunnel?«
»Ist ja nicht so, als hätten wir eine Wahl. Hier versauern will ich jedenfalls nicht.«
Emma kicherte. »Wer weiß? Vielleicht führt uns der Gang ja geradewegs in die Kanalisation. Du weißt schon, zu Ratten, Spinnen und –«
»Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich? Dass ein Trinkwasserbrunnen keinen Tunnel hat und schon gar keinen, der in die Kanalisation führt, davon hat sogar der Großstadtjunge schon gehört.« Max stapfte durch das dunkle Wasser. »Aber vielleicht ist es ja wirklich ein alter Geheimgang …«
»Genau.« Hinter ihm drückte sich Emma durch den Spalt und ließ das Licht ihrer Taschenlampe über die Wände tanzen. »Wenn wir Glück haben, kommen wir einfach an einer anderen Stelle in Bittie Cross wieder raus. Und wenn nicht, gehen wir zurück und sind auch nicht schlechter dran als jetzt.«
Sie tasteten sich an den glitschigen Mauern entlang. An einigen Stellen hatte Max das Gefühl, er würde einen Berg hinabsteigen, so abschüssig verlief der Gang. Das Wasser ging ihm inzwischen wieder bis zu den Knien und er spürte eine leichte Strömung. Wo kam sie her? Offenbar war der Tunnel nicht nur mit dem Brunnenschacht verbunden.
»Mist!« Direkt vor Max’ Füßen ging es plötzlich mindestens zwei Meter steil bergab. Unten schwappte das schwarze Wasser an die Felswände.
»Hier geht’s nicht weiter, das Wasser wird zu tief«, sagte Max mit einem Seufzen. »Drehen wir um.«
»Wieso? Kannst du nicht schwimmen?«, fragte Emma.
»Schwimmen? Da durch? Spinnst du jetzt total?!«
Statt einer Antwort drückte sich Emma einfach an ihm vorbei. Die Taschenlampe klemmte sie sich zwischen die Zähne, bevor sie über die Kante ins Wasser rutschte und keine Sekunde später mit kräftigen Bewegungen losschwamm.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Doch Emma paddelte einfach weiter.
»Bleib hier! Das fass ich jetzt nicht!« Max griff sich an die Stirn und verfolgte ungläubig, wie sich Emmas Kopf von ihm entfernte. Sie macht mich wahnsinnig! Wenn er nicht allein im Dunkeln Wurzeln schlagen wollte, musste er ihr wohl oder übel folgen. Max vergewisserte sich, dass Mortensens Brille gut verpackt im Umschlag lag, und rutschte widerwillig ins Wasser.
Emma schwamm schnell. Mit zusammengekniffenen Lippen versuchte Max, hinter ihr zu bleiben und sich nicht vorzustellen, was möglicherweise noch in dieser Brühe herumschwamm. Noch nie in seinem Leben war ihm so kalt gewesen, dass er mit den Zähnen klappern musste. Jetzt schlugen sie im Eiltempo aufeinander.
Wie weit Emma voraus war, verriet nur der wackelnde Lichtpunkt an der Mauer. Plötzlich spürte Max, wie die Strömung um ihn herum zunahm. Das Wasser rauschte immer steiler nach unten und zog ihn mit sich. Mit aller Kraft ruderte er gegen das Reißen an. Vergeblich versuchte er, an der glitschigen Tunnelwand Halt zu finden, aber der Strom ließ ihm keine Chance. Max erhaschte einen letzten Blick auf den Lichtpunkt von Emmas Taschenlampe, dann drückte ihn der Sog gurgelnd unter die Wasseroberfläche. Sein Rücken und seine Arme schrammten über Felswände. Um ihn herum war nichts als rasendes Sprudeln.
Kurz öffnete sich das Wasser wieder über ihm und er schnappte verzweifelt nach Luft. Er hing in einer Felsrinne, durch die das Wasser wie in einer steilen Rutsche nach unten schoss. Für einen Moment konnte er sich daran festklammern, doch die Wasserströmung war viel zu stark. Noch ehe er begriff, was mit ihm geschah, befand er sich im freien Fall. Es rauschte und wirbelte um ihn herum – und dann schoss Max erneut tief ins Wasser.
Luft!!! Panisch kämpfte sich Max dahin, wo er oben vermutete. Gab es überhaupt noch ein Oben? Da durchstieß er die Wasseroberfläche. Gierig und keuchend sog er die Luft ein. Sein Kopf dröhnte, als hätte er einen Schlag abbekommen. Ein Rauschen klang in seinen Ohren, während er hektisch um sich blickte.
Hinter ihm toste ein Wasserfall. Darüber wölbte sich eine Höhlendecke aus hellem Stein. Es war warm und viel heller als eben im Tunnel. Das Wasser, in dem er schwamm, schimmerte türkis und war glasklar. Es sah aus wie ein riesiger unterirdischer See.
Max hörte seinen Namen. Er paddelte einmal um seine eigene Achse und entdeckte Emma auf einem Felsvorsprung neben dem Wasserfall.
»Bist du okay?«, rief sie.
»Sieht so aus.« Mit langen Zügen schwamm er am Wasserfall vorbei und kletterte neben Emma auf den Felsen. »Wahnsinn! Was ist das? Wo sind wir hier?«
Emma zog die Schultern hoch. »Na ja. In einer Grotte unter der Erde?«
»Ich glaub das nicht«, stieß Max hervor. »Wusstest du, dass es so was hier gibt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber immerhin müssen wir nicht verhungern.« Sie grinste schief und zeigte hinter sich. Auf dem Felsvorsprung wuchsen eigenartige Pilze. Die kräftigen Stiele unter riesigen Schirmen waren größer als alles, was Max jemals gesehen hatte.
Mit der Handfläche strich er über die glitschige Oberfläche. »Dann gibt es heute wohl rohen mutierten Champignon ohne alles.« Er stand auf. »Im Ernst, wo sind wir hier nur gelandet?« Schnell hatte er den kleinen Felsvorsprung umrundet. Er suchte die Höhlenwand hinter sich ab, in der Hoffnung, dort irgendeinen Gang zu finden. Aber da war nichts.
Von der Höhlendecke ergoss sich das Wasser aus dem Tunnel in den See. Die Tunnelöffnung befand sich sicherlich zehn Meter hoch über ihren Köpfen und die Felswand war steil und glatt – keine Chance, an ihr hinaufzuklettern. Außerdem war die Strömung viel zu stark, um dagegen anzuschwimmen.
Es gab keine Möglichkeit, den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückzugehen.
Max schluckte. »Und jetzt? Hier kommen wir nie mehr raus.« Mutlos kickte er gegen einen der Felsen hinter sich – und fuhr erschrocken zurück: Der Felsen knisterte leise und begann plötzlich zu leuchten. Auch Emma klappte der Mund auf. Nach einem Moment schlug sie mit der Handfläche zaghaft gegen die Höhlenwand und genau dort, wo ihre Hand lag, breitete sich ein kreisrunder leuchtender Fleck aus.
Max zog seine Augenbrauen so eng zusammen, dass sie beinahe eine durchgehende Linie bildeten. Leuchtende Steine? Ernsthaft?
»Darum ist es hier unten so hell. Irre! Vielleicht sind das irgendwelche Edelsteine?« Emma legte den Kopf in den Nacken und blickte fasziniert zur Höhlendecke hinauf.
»Was auch immer es ist, wir haben jetzt echt andere Probleme.«
Emma seufzte. »Okay. Vielleicht gibt es noch einen anderen Weg zurück in den Tunnel. Ich meine, irgendeinen Sinn muss der Gang doch gehabt haben. Niemand baut einfach so einen unterirdischen Tunnel, der zu einer Grotte führt, aus der man dann nicht mehr herauskommt. Vielleicht führt ja irgendwo wieder eine Treppe nach oben.«
»Warum nicht gleich ein Fahrstuhl.« Max verdrehte die Augen. »Mal im Ernst, siehst du hier irgendwo eine Treppe?«
Emma schüttelte nur den Kopf. »Wahrscheinlich müssen wir weiter in die Grotte hineinschwimmen, um mehr zu sehen. Ich brauch nur eine Minute, ich bin von dem Wasserstrudel noch fix und fertig.«
Max setzte sich wieder neben Emma auf den Felsvorsprung und sah zu, wie sie ihre Beine ins Wasser baumeln ließ.
»Ich war noch nie in meinem ganzen Leben an einem so schönen Ort«, sagte sie nach einigen Minuten. Sie lächelte verträumt, während sie auf die klare Oberfläche starrte. »Wie toll das Wasser schimmert und leuchtet!«
Max richtete seinen Blick skeptisch zu den Riesenpilzen über ihnen. »Wir sind irgendwo tief unter der Erde und haben keine Ahnung, wie wir hier wieder rauskommen sollen. Ich kann mir echt Schöneres vorstellen.«
»Jetzt bleib mal locker. Wir finden schon wieder zurück. Wenn man hier reinkommt, kommt man auch wieder raus. Und bis dahin kannst du dir auch mal eine Sekunde lang diese irre Höhle angucken!« Je lauter Emma wurde, desto stärker hallten ihre Worte durch die Grotte.
Max seufzte. »Irre Höhle, ist echt super hier...«
Emma warf ihm einen Seitenblick zu. »Mach dir nicht so viel Stress. Wahrscheinlich suchen nach dir eh schon alle und du bist schneller wieder zu Hause, als du glaubst. Da hab ich es leichter. Ich kann hierbleiben, solange ich will.« Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte ins Wasser. So wirklich glücklich schien sie der Gedanke nicht zu machen.
»Und was ist mit deinen Eltern? Machen die sich keine Sorgen, wenn du plötzlich verschwindest?«
»Nö, nicht so schnell. Mein Vater ist froh, wenn er seine Ruhe hat. Der rennt ganz sicher nicht sofort los, wenn ich mal nicht gleich auftauche.«
»Und deine Mutter?«
Emma schüttelte nur den Kopf und presste ihre Lippen aufeinander. »Die ist genug mit sich selbst beschäftigt.«
Max starrte vor sich hin. Die Gischt vom Wasserfall wirbelte herum und hinterließ kleine Spritzer auf ihren Beinen. »Tut mir leid«, sagte er schließlich. Was konnte er dazu auch sonst sagen?
Emma zuckte nur mit den Achseln und schwieg. Max hatte plötzlich das Bedürfnis, sie aufzuheitern. Auch wenn er nur ihretwegen in dem ganzen Schlamassel steckte, gefiel es ihm nicht, dass sie so traurig aussah. Also griff er in seine Hosentasche und setzte sich Mortensens Brille wieder auf die Nase. Mit aufgerissenen Augen blickte er durch die dicken und viel zu großen Gläser zu ihr herüber.
Emma lächelte. »Steht dir total gut.«
»Na ja … Die funktioniert nicht mal. Hat zwar extrafette Gläser, trotzdem sieht man genauso viel wie vorher.« Max hob die Schultern. »Blöd, dass wir ausgerechnet wegen so einem nutzlosen Ding hier festsitzen.«
»Verrätst du mir jetzt, woher du die hast?«
»Hab sie in Biccas Haus gefunden.« Max holte den Umschlag hervor und hielt ihn Emma entgegen. »Hast du so was schon mal gesehen? Das Wasser hat ihm überhaupt nichts ausgemacht. Innen ist es total trocken.«
Emma strich vorsichtig mit ihrem Finger über die Adresse auf dem gummiartigen Material. »Echt komisch«, stimmte sie zu und zog den Umschlag wie einen Kaugummi auseinander, bis die Buchstaben kaum noch zu erkennen waren.