Читать книгу Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund - Anna Ruhe - Страница 9
ОглавлениеWas war das da eigentlich gerade auf deiner Nase?« Emma sah Max schräg von der Seite an. »Ist das gerade schick in London, mit einem Uralt-Sehgestell für Halbblinde durch die Gegend zu rennen?«
»Das geht dich gar nichts –« Noch bevor Max zu Ende sprechen konnte, hatte Emma ihm schon die Brille aus der Hand gerissen und hielt sie sich vors Gesicht.
»Sieht ja komisch aus.«
»Gib sie sofort zurück!« Max versuchte, ihr die Brille wieder abzunehmen. Doch jedes Mal, wenn er danach griff, zog Emma sie nur weiter weg. Schließlich sprang sie auf und Max blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. »Du musst dich hier ja echt zu Tode langweilen, so nervig, wie du drauf bist.«
Emma schien ihn gar nicht richtig zu hören. »Das ist überhaupt keine richtige Brille! Wer braucht so was?«
Max verfolgte Emma, aber sie war immer einen Schritt voraus, während sie um den Brunnen herumliefen. Jetzt reichte es! Entschlossen zog Max an ihrer Jacke, damit sie endlich stehen blieb.
»Hey, spinnst du …« Der Ruck bremste Emma mitten in der Bewegung, sie taumelte seitwärts Richtung Brunnenrand – während die Brille mit Schwung durch die Luft flog. Im nächsten Moment war ein dumpfes, klatschendes Geräusch zu hören.
Gleichzeitig beugten sich beide über den Rand und starrten ins Dunkle.
»’tschuldigung«, nuschelte Emma schließlich kleinlaut.
Max kochte. »Verdammt! Die Brille gehört mir nicht mal. Danke! Echt, vielen Dank!«
»Warum hast du auch so an mir gezogen? Ich hätte sie dir schon wieder zurückgegeben.«
»Klar, jetzt bin ich auch noch selbst schuld!«
Emma seufzte und sah hinunter in den Brunnen. »Was meinst du, wie tief es da runtergeht?«
Max lugte in die Dunkelheit. Am Grund war es so finster, dass er nicht mal erahnen konnte, wo die Brille gelandet war. »Keine Ahnung. Fünf oder zehn Meter. Ist doch auch egal.«
»Warte kurz, bin gleich wieder da.«
Bevor er auch nur den Kopf heben konnte, rannte Emma schon davon. Als sie wenige Minuten später wieder zurückkam, holperte eine Schubkarre vor ihr her. »Glück gehabt«, rief sie mit einem triumphierenden Lächeln. »Mein Dad schließt den Schuppen sonst immer ab. Los, fass mal mit an.«
»Was soll das denn jetzt werden?«, fragte Max und starrte misstrauisch zur Strickleiter, die Emma aus der Schubkarre wuchtete.
»Der Brunnen wurde schon vor Ewigkeiten stillgelegt.« Sie knotete die Strickleiter an einem der Metallringe des Brunnens fest und ließ sie hinabfallen. Prüfend rüttelte sie an den Seilen.
»Du willst jetzt nicht ernsthaft da runterklettern?«, stieß Max ungläubig hervor.
»Wieso nicht?«
»Das ist viel zu gefährlich! Was, wenn du abrutschst?«
Aber Emma ignorierte Max, klemmte sich eine Taschenlampe in ihren Hosenbund und stieg rückwärts auf die schlingernde Leiter.
»Bist du verrückt? Das kannst du nicht machen!« Reflexartig griff Max nach den Seilen der Strickleiter, unsicher, ob sie Emma halten würden. »Sei vorsichtig!« Entweder war sie lebensmüde oder total irre.
»So tief ist der Brunnen auch wieder nicht. Mach dir nicht gleich ins Hemd, Großstadtjunge.«
Bevor Max noch etwas sagen konnte, war Emma schon losgeklettert. Max umklammerte die Seile und starrte über den Brunnenrand. Wenige Augenblicke später hörte er ein schmatzendes Geräusch, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.
»Emma?«
»Alles klar! Es ist nass, es ist stinkig, aber ziemlich überschaubar hier unten!«
Von oben konnte Max dem Schein der Taschenlampe folgen, mit der Emma den Brunnengrund absuchte.
Max unterdrückte einen erleichterten Seufzer und beugte sich noch weiter vor. »Pass auf, dass du nicht auf die Brille trittst!«
»Echt? Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen«, hallte ihre Stimme zu ihm empor.
»Und?«
Emma jubelte. »Jep! Hab sie.«
»Super, dann komm wieder hoch!«
»Ja, gleich. Warte mal kurz!« Max folgte dem Lichtstrahl ihrer Taschenlampe. Plötzlich hörte er einen gedämpften Schlag und der Schein erlosch.
»Was war das?«, rief Max. »Alles okay bei dir?«
Emma gab keine Antwort.
»Emma?!« Max starrte in die Dunkelheit. »Wenn das ein Witz sein soll, ich find’s nicht lustig! Echt nicht!«
Nichts.
Panik stieg in ihm auf. Ohne lange nachzudenken, griff Max nach der Strickleiter und kletterte hinab. Sofort stieg ihm ein modriger Geruch in die Nase. Die Mauern um ihn herum waren mit Moos bewachsen. Er schlingerte bei dem Versuch, Emma irgendwo in der Finsternis unter sich zu entdecken. In seiner Aufregung verfehlte er eine Sprosse und rutschte ein gutes Stück die Strickleiter hinab.
Am Ende der Leiter spürte Max kaltes Wasser an seinem Schuh. Schnell verdrängte er jede Vorstellung an alles, was hier unten wohl leben mochte. Einfach nicht dran denken. Erst als er bis zu den Oberschenkeln in der dunklen Brühe versank, spürte er den Grund unter seinen Füßen. Selbst seine direkte Umgebung erkannte er nur schemenhaft, also tastete sich Max vorsichtig an den klammen Mauern des Brunnens entlang.
Von Emma keine Spur.
»Das ist echt der Wahnsinn!«, drang plötzlich ihre gedämpfte Stimme zu ihm herüber.
Max zuckte kurz zusammen, als die Taschenlampe wieder den Brunnen erhellte und ihm direkt ins Gesicht schien.
»Los, komm her, das musst du dir angucken!«, rief Emma ihm entgegen.
In dem Moment, als das Licht ihn nicht mehr blendete, entdeckte Max, weshalb Emma so aufgeregt war. Dort war ein breiter Spalt in der Mauer.
»Sag mal, spinnst du?«, stieß er atemlos aus. »Wieso hast du nicht geantwortet? Ich hab gedacht, dir ist hier unten sonst was passiert!«
»Ich bin nur auf den Stein dahinten geklettert. Dann hat er nachgegeben und auf einmal war da dieses Loch. Jetzt komm schon!«
Mit Mühe quetschte sich Max Emma hinterher, die bereits im Spalt verschwunden war, und fand sich mit einem Mal in einem düsteren Gang wieder. Sie standen nun nicht mehr bis zu den Oberschenkeln im Wasser, sondern nur noch in einer Pfütze, dafür tropfte es jetzt von der Decke. Emma ließ den Lichtpunkt der Taschenlampe über die dunklen Felsmauern wandern. Vor ihnen erstreckte sich ein Gang wie eine kugelrunde Röhre ins schwarze Nichts. Ein schimmliger Geruch hing in der Luft.
»Was glaubst du, wohin das führt?« Emmas Stimme klang wie elektrisiert vor Aufregung.
»Keine Ahnung, ist mir auch egal. Ich will raus aus diesem Loch.« Max wartete erst gar nicht auf eine Reaktion. Kurzerhand nahm er Emma die Brille ab und drückte sich durch den Spalt zurück in den Brunnen.
»Bist du nicht wenigstens ein bisschen neugierig, wo der Gang hinführt?«, rief Emma ihm hinterher.
Max schüttelte entschlossen den Kopf. London. Er würde zurück nach London gehen. »Nein.«
»Vielleicht ist das ja ein Geheimgang!«
»Von mir aus kann dein Tunnel nach Atlantis führen. Ich bin echt nicht scharf drauf, durch schleimige Gänge zu marschieren.« Max griff nach der Leiter und machte sich an den Aufstieg.
»Langweiler.« Emma schob sich ebenfalls zurück in den Schacht und Max konnte spüren, wie sie sich hinter ihm an die Leiter hängte. Gott sei Dank. Nur raus hier!
Max hatte etwa die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als es einen plötzlichen Ruck in den Seilen gab. Hektisch versuchte er, sich irgendwo festzuhalten, doch es war zwecklos. Im nächsten Moment rutschte er an der Mauer des Brunnens entlang und fiel klatschend zurück ins Wasser, wobei er halb auf Emma landete.
Prustend und spuckend versuchte Max, wieder auf die Beine zu kommen. Er schmeckte fauliges Wasser. T-Shirt, Pullover, Jeans – alles klebte nass an ihm. Verdammter Mist! »Emma? Alles okay?«
»Ja, geht schon.« Neben ihm ruderte Emma mit ihren Armen ziellos im Wasser herum – wahrscheinlich auf der Suche nach der Taschenlampe.
»Warum hast du nicht einfach gewartet, bis ich oben bin?«, wetterte er und wischte sich irgendetwas Schleimiges aus den Haaren.
»Normalerweise hält so eine Strickleiter auch locker zwei Leute aus.«
»Normalerweise?« Max betastete sein schmerzendes Knie. »Machst du so was öfter, oder was?«
Plötzlich wurde die Dunkelheit von einem Lichtstrahl durchschnitten. Emma nestelte an der Taschenlampe herum. »Super, geht noch!«
Echt super. Max blickte in den hellen Kreis über ihren Köpfen. »Hallo!«, rief er, so laut er konnte. »Wir sind hier unten. Haaalooo!«
»Hör schon auf damit.« Emma leuchtete ihn an. »Da oben ist doch niemand, wer soll dich denn hören? Bei dem Wetter kommt hier so schnell keiner vorbei.«