Читать книгу Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund - Anna Ruhe - Страница 11
ОглавлениеPsst!« Max legte einen Zeigefinger auf seinen Mund. Aus der Ferne erklang plötzlich ein leises Brummen und Wellen schlugen in immer kürzeren Abständen an den Felsvorsprung unter Max und Emma. Auch Emma hatte sich aufgerichtet und lauschte. Das Geräusch wurde immer lauter. Soweit Max sehen konnte, gab es hier nirgendwo eine Möglichkeit, sich zu verstecken. Mit dem Rücken zur Höhlenwand beobachteten sie regungslos ein flackerndes Licht, das aus der Tiefe der gigantischen Höhle auf sie zukam.
Schließlich konnten sie eine Art Floß ausmachen. Es erinnerte Max an ein Schlauchboot, nur dass es anscheinend aus Metall bestand. Auf dem glänzenden Deck stand in einem seltsamen Anzug ein Mann, der wie einer dieser Gondolieri aus Venedig eine lange Stange hinter sich hielt, mit der er zu steuern schien. Auf einmal erstarb das Brummen, das Boot wurde langsamer und der Mann legte die Stange beiseite. Er schaute in ihre Richtung – offenbar hatte er sie ebenfalls entdeckt.
Instinktiv hielt Max die Luft an. Auch Emma schien ausnahmsweise mal kein passender Satz einzufallen. Sie saßen unschlüssig nebeneinander, während das Floß immer weiter auf sie zutrieb. Der Mann sah nicht einmal bedrohlich aus, nur sehr ungewöhnlich. Unter einem braunen, eng anliegenden Overall trat sein Bauch wie eine halbierte Kugel hervor. Der Anzug erinnerte Max ein wenig an die Neoprenanzüge von Surfern. Als das Floß so nah gekommen war, dass es ihren Felsvorsprung berührte, stopfte Max Mortensens Brille schnell wieder in den Umschlag zurück. »Ähm … hallo«, stieß er hervor.
»Tag auch!«, antwortete der Mann. »Was macht ihr denn hier?«
»Wir haben uns verirrt«, erklärte Emma. »Können Sie uns bitte sagen, wie wir zurück nach Bittie Cross kommen?«
»Bittie-was?«
»Nach Bittie Cross. Wir sind durch einen Tunnel gekommen, der in dem Wasserfall hier endet.« Emma zeigte hinauf zur Decke. »Wissen Sie, ob es hier irgendwo eine Treppe gibt?«
Der Mann sah sie völlig irritiert an. »Entschuldigung. Wo wollt ihr hin?«
»Nach Bittie Cross. Es muss direkt über dieser Höhle liegen«, wiederholte sie langsam.
»Über uns?« Er lachte auf, als hätte ihm gerade jemand einen richtig guten Witz erzählt. »Davon habe ich ja noch nie gehört! Und das muss was heißen, ich kenne mich in der Gegend nämlich ziemlich gut aus.« Mit geübten Bewegungen machte er das Floß an einem Stein fest und sprang dann zu Emma und Max auf den Felsvorsprung. »Lasst mich erst mal kurz an die Arbeit, Kinder.« Er bückte sich zum Boot und zerrte eine große Kiste hinter sich her. Mit einem langen Messer begann er, einen Riesenpilz nach dem anderen anzuschneiden, und ließ die Stücke in der Kiste verschwinden.
»Und jetzt mal Klartext, ihr zwei: Wo sind eure Eltern?«
Emma runzelte verständnislos die Stirn. »Zu … Hause?«
»Und euer Flosyn?«
»Unser was, bitte?«, fragte Max.
»Na, euer Flosyn!«, wiederholte der Mann und zeigte auf das Metallfloß, das schaukelnd im Wasser lag. »Womit seid ihr sonst hergekommen?«
Emma warf Max einen ungläubigen Seitenblick zu. »Wie gesagt, wir sind durch den Wasserfall von da oben gekommen.«
Der Mann verschränkte die Arme. »Ihr wollt mir wirklich weismachen, dass ihr von oberhalb der Höhle kommt?«
»Genau«, antwortete Emma. »Wir suchen einfach nur den Weg zurück.«
Er kratzte sich am Kinn. »Wahrscheinlich gibt es dafür eine ganz einfache Erklärung. Wenn man die Orientierung verloren hat, ist man manchmal ein bisschen verwirrt. Wir finden schon den Weg zurück in euer Pittie Ville.«
»Bittie, Bittie Cross«, berichtigte ihn Emma.
»Wie auch immer. Wie heißt ihr überhaupt?«
»Ich heiße Max und das ist Emma.«
»Ich bin Ziggy. Ihr habt wirklich Glück, dass ich heute zur Pilzernte hergekommen bin. Wenn ihr wollt, kann ich euch mit nach Eldena nehmen und ihr zeigt mir auf einer Karte, wo genau euer Dorf liegen soll.« Er winkte die beiden zu sich auf das Flosyn. »Wenn ihr ein bisschen zusammenrückt, passt ihr da neben die Kiste.«
Emma stellte sich so nah neben Max, dass sich ihre Arme leicht berührten. »Wir kennen den doch gar nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und ich glaub, er spinnt ein bisschen.«
Max flüsterte zurück: »Vielleicht kann er uns trotzdem helfen. Außerdem sind wir ja zu zweit.«
»Na los, ich hab nicht ewig Zeit. Wollt ihr nun mitfahren oder nicht?«
Zögernd stiegen sie auf die Plattform des eigenwilligen Floßes, das bei der kleinsten Bewegung sofort hin und her schwankte. Es war nicht leicht, das Gleichgewicht zu behalten.
»Ihr tut ja gerade so, als würdet ihr das erste Mal mit einem Flosyn fahren. Setzt euch lieber, bevor ihr wieder ins Wasser fallt.« Er nahm die Stange auf und sofort ertönte wieder ein Brummen. Schwerfällig nahm das Flosyn Fahrt auf.
»Echt nett von Ihnen, dass Sie uns mitnehmen«, sagte Emma. »Ach, Kinder, das versteht sich doch von selbst. Ich bin schon gespannt, von wo ihr wirklich herkommt. So ganz erklären kann ich mir das alles ja nicht.« Geschickt steuerte er das Flosyn um den Wasserfall herum. Schnell nahmen sie Fahrt auf und glitten sanft auf dem Wasser dahin.
»Die Höhle ist riesig«, flüsterte Emma Max zu und zeigte in die Ferne, wo zwei große Tunnel ins Dunkle führten.
»Ich weiß nicht, ob es so schlau war, sich von der Stelle am Wasserfall wegzubewegen«, murmelte Max zurück.
Ziggy räusperte sich. »Wie ihr beide es ohne Flosyn über die langen Wasserstraßen geschafft habt, ist mir wirklich ein Rätsel. Das ist es ein gutes Stückchen Fahrt und dazwischen gibt es keinen einzigen Ort. Bislang dachte ich immer, dass Eldena den Cidumhöhlen am nächsten liegt.« Ziggy schien mehr mit sich selbst zu sprechen und erwartete offensichtlich keine Antwort von den beiden. Als es ein wenig dunkler wurde, stieß er mit seinem Fuß gegen eine Art Lampe: ein rundes Drahtgeflecht umgab einen kleinen Felsbrocken, der nach dem Stoß zu leuchten begann.
Den Blick nach vorn tuckerten sie dahin. Die Felswände entfernten sich immer weiter von ihnen, bis sie bald nichts anderes als Wolken und Wasser umgab – so, als wären sie auf offenem Meer. Aber Wolken? In einer Höhle? Die Decke war so weit entfernt, dass man sie gar nicht mehr erkennen konnte. Über ihnen erstreckte sich ein dichter hellgrauer Himmel. Das Licht schien irgendwie gedämpft … und es warf keine Schatten.
Max drehte sich zu Ziggy. »Wieso ist es hier so hell?«
»Ja, also … lernt ihr Kinder heutzutage denn gar nichts mehr in der Schule? Wegen der Lumiroks natürlich.«
Emma und Max blickten sich ratlos an. »Lumiroks?«
Ziggy rieb sich über die Stirn, als hätte er es mit zwei Idioten zu tun. »Na, die glühenden Steine.«
»Äh … klar, natürlich. Wie machen die Steine das denn?«
Ziggy sah Max jetzt an, als wäre ihm spontan ein zweiter Kopf gewachsen. »Na, man bringt sie zum Glühen. Für Wärme und Licht. Du weißt schon … indem man sie in Schwingung versetzt.«
Schwingung, glühende Steine … Max schwirrte der Kopf. Was war das hier? Oder war dieser Kerl wirklich ein Spinner? Er öffnete den Mund einige Male und schloss ihn dann wieder. Wahrscheinlich machte es keinen Sinn, jetzt noch mehr Fragen zu stellen.
Brummend glitten sie weiter. Das Licht wurde allmählich schummrig, als würde es dämmern. Nach ein paar Minuten schlug Ziggy mit seiner Stange gegen zwei trichterförmige Steine, die vorne am Floß befestigt waren und daraufhin wie zwei Scheinwerfer einen Lichtkegel auf das Wasser vor ihnen warfen.
»Guck mal, da!« Emma zeigte auf ein paar Lichter, die ihnen aus der Ferne entgegenleuchteten.
»Ist das Eldena?«, fragte Max.
»Jawohl.« Zielstrebig steuerte Ziggy auf die vielen Lichtpunkte zu, bis eine Ansammlung von Häusern zu erkennen war, die mitten im Wasser auf und ab wippten. Unter und zwischen ihnen schwammen lang gezogene Plattformen, von denen sich ihnen unzählige Bootsstege entgegenstreckten. Beim Näherkommen sah man, dass der Boden aus einzelnen Gliedern bestand, die die Häuser wie eine Kette eng miteinander verbanden. Wie zusammengeschustert wirkte die kleine Stadt, als ob sie ihr Baumaterial von einem Schrottplatz geliefert bekommen hätten. Die Häuser waren aus Metallplatten gemacht, von denen jede in einer anderen Farbe leuchtete. Manche Häuser bestanden nur aus einem Stockwerk, andere aus drei oder vier. Die flachen Dächer dienten offensichtlich als Terrassen, bestückt mit unzähligen Kübeln, aus denen seltsame Pflanzen wucherten.
Auf den meisten der metallenen Hausfassaden glänzten bunte, schrille Wandgemälde. Die Fassade, auf die sie geradewegs zusteuerten, zeigte ein Bild mit tanzenden Tintenfischen. Daneben prangte das Porträt eines älteren Mannes mit zurückgekämmtem silbrigem Haar über dem Kopf. In der Hand hielt er einen Dreizack und auf seinem Kopf thronte ein Blumenkranz.
Na toll. Hippies, dachte Max unwillkürlich. Nur das ganze Metall passte irgendwie nicht dazu. Aber er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Ziggy steuerte auf einen der vielen Stege zu.
»Scheint so eine Art Hafen zu sein«, flüsterte Emma und zeigte auf die Flosyns vor ihnen.
»Für Metallmüll vielleicht«, raunte Max leise genug, damit Ziggy ihn nicht hörte. »Guck mal da drüben.« Etwas entfernt von ihnen wippten noch weitere, viel eigenartigere Boote im Wasser. Ihre entweder kugelrunden oder länglichen Formen mit den seitlichen Fenstern sahen aus wie eine Kreuzung aus einem U-Boot und drei übereinandermontierten VW-Bussen. Alle unterschieden sich in Größe, Form und Farbe voneinander. Manche ragten weit in die Luft hinauf, während andere ganz im Wasser versanken und sich nur durch ihre runden Metalldächer knapp über der Wasseroberfläche verrieten. Das Brummen erstarb und sie legten an einem der Stege an. Ziggy hob das Ruder an und vertaute sein Flosyn an einem der Pfeiler. »So. Alle aussteigen bitte. Willkommen in Eldena.«
Sie folgten ihm den Steg entlang, der in eine breite Gasse zwischen den Häusern überging. Ihre Schritte erzeugten ein leises schepperndes Geräusch. Über ihren Köpfen vibrierten reihenweise leuchtende Steine in Drahtgeflechten wie Lampions. Die feuchte Abendluft roch salzig. Einige der Gebäude waren offensichtlich Einkaufsläden. Vor einem der kleineren blieb Ziggy stehen und winkte durch die Fensterscheibe einer Frau im Innern zu.
»Wartet kurz, ich muss hier noch schnell was besorgen.« Mit einem quietschenden Geräusch öffnete er die schiefe Metalltür, auf der in weiß-grünen Buchstaben Neptuns Natur stand. Emma und Max drückten sich neugierig hinter Ziggy in den engen Laden hinein. Ein durchdringender Geruch von getrocknetem Fisch, Salz und Algen empfing sie. Drinnen konnte man sich kaum um seine eigene Achse drehen, überall auf dem Boden standen überquellende Kisten mit seltsamen knollenartigen Pflanzen und Kräutern herum.
Die Frau, der Ziggy zugewunken hatte, lehnte hinter einer grün lackierten Theke, auf der eine Waage stand. »Hallo Ziggy. Einen Beutel Anemonenbrösel und zwei Stauden Algen, wie bestellt!« Gut gelaunt legte sie alles auf die Theke. »Die Algen sind ganz frisch. Toni hat sie gerade erst geschnitten.«
»Danke Vela, das klingt köstlich.« Ziggy legte zwei ineinandergesteckte Metallringe auf die Theke und griff sich seine Einkäufe. »Hab’s leider eilig, bis morgen dann.«
»Grüß Muriel«, rief ihm die Verkäuferin noch hinterher.
Ziggy marschierte voraus, in immer engere Nebengassen, bis er vor einem dreistöckigen rot-braun gestrichenen Haus stehen blieb. Wegen der verschieden großen Fenster wirkte es völlig schief.
»Hereinspaziert!« Ziggy öffnete die Haustür, die direkt in eine Küche führte, und rief gegen das Stimmenwirrwarr darin an: »Muri, Schatz, ich hab Besuch mitgebracht!« Er schob die zwei vor sich in einen verwinkelten Raum. Bunt und zusammengewürfelt wirkte auch das Innere des Hauses.
»Das hier sind Emma und Max, ich hab die beiden auf einem unserer Cidumfelder aufgelesen. Haben sich wohl verlaufen und sind jetzt ein bisschen verwirrt.«
Im Augenwinkel konnte Max sehen, wie Emma tief Luft holte, um zu widersprechen, aber eine kräftige Frau mit glatten schwarzen Haaren kam ihr zuvor.
»Oh, hallo ihr zwei«, begrüßte sie Ziggys Frau. »Kommt doch erst einmal rein. Darf ich vorstellen: Das ist Maila, meine Tochter, und ihre Brüder Maik und Manon. Und dahinten in dem Sessel sitzt unsere Urgroßmutter Elsa.« Mit einem Schlag verstummte das laute Geplapper in der Küche und Emma und Max wurden neugierig von mehreren Augenpaaren gemustert. Dass sich alle in der Familie irgendwie ähnelten, lag wahrscheinlich an der Tatsache, dass jeder von ihnen einen dieser Gummianzüge trug. Aber da war noch etwas anderes … etwas viel Eigenartigeres, das Max schon bei Ziggy aufgefallen war: Sie alle hatten unterschiedlich farbige Augen. Ein seltsames Gefühl beschlich Max. Er hatte immer gedacht, dass das total selten war – aber hier hatten anscheinend alle ein grünes und ein blaues Auge.
So wie er.