Читать книгу Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund - Anna Ruhe - Страница 13
ОглавлениеMaila bestand darauf, die beiden bis zum Hafen zu begleiten, und so folgten sie ihr dankbar durch die Straßen von Eldena. Der Boden unter ihren Füßen wippte unaufhörlich auf und ab. Es war spät am Abend und im Vergleich zu ihrer Ankunft waren die Gassen nun wie leer gefegt. Ein leichter Dunst hing in der Luft und verbreitete einen unangenehm stechenden Geruch. Alles wirkte auf einmal trister und auch die wenigen Menschen in den Straßen blickten grimmig vor sich hin.
Maila beschleunigte ihr Tempo. »Kommt schon! Der Nebel zieht auf.«
Eilig hasteten sie hinter ihr her.
An einem der Anlegestege schaukelte ein auffällig hohes Fahrzeug im Wasser. Max traute seinen Augen kaum. Es sah aus wie die Kreuzung aus einem dreistöckigen Omnibus und einem U-Boot. Die gläserne Frontscheibe bog sich halbmondförmig nach außen. Anstelle von Fenstern zogen sich seitlich Bullaugen über die Metallkarosserie. Das schwankende Ding war in einem kräftigen Blau gestrichen und mit einem weißen Stern bemalt. Daneben stand in schwungvollen Buchstaben Tintenblaue Linie 265.
Maila lief auf den Pier. »Da ist er! Der 265er ist der Expressbus. Da drüben könnt ihr eure Fahrscheine kaufen.« Sie zeigte auf eine Warteschlange vor einem kleinen Metallverschlag.
»Wie ist es denn so in Milmar?«, fragte Max und sah Maila dabei zu, wie sie von einem Bein aufs andere trat.
»Groß und total eng. Papa meint immer, da leben nur Verrückte und Verbrecher, aber das sagt Papa über jede Stadt außer Eldena.« Maila sah hinauf zu den Dunstschwaden, die sich immer dichter zusammenzogen. »Ich muss los. Kommt mal wieder vorbei!« Sie winkte den beiden, dann lief sie davon.
»Warum hatte sie es auf einmal so eilig?«, fragte Emma.
Max zuckte mit den Schultern und starrte auf die blaue Wand, die vor ihnen aufragte. Aus einigen der unzähligen Bullaugen blickten Fahrgäste und an jedes der Stockwerke war eine Zahl gemalt. Insgesamt mussten es sechs Passagierdecks sein, wobei nur Deck vier, fünf und sechs aus dem Wasser herausragten.
Die Warteschlange bewegte sich und endlich waren sie an der Reihe.
»Das macht zwei große Greshams.«
Emma zog die zwei äußersten Ringe der Münzen ab und reichte sie dem Mann am Schalter.
»Ohne Platzreservierung«, sagte er und winkte sie zur Einstiegsluke, einer Art Doppeltür, die in den Wasserbus hineinführte. Die äußere der beiden Türen bestand aus Glas, nur ein schwerer Rahmen umfasste sie. Die innere war aus Metall, mit Ausnahme eines kleinen runden Fensters auf Augenhöhe. Es schien sich um eine Schleuse zu handeln, denn zwischen den zwei Türen lag ein enger Raum, von dessen Wänden es auf den feuchten Boden tropfte.
Innen drängten sie sich durch enge Sitzreihen voller Menschen. Jeder Platz im Bus schien entweder belegt oder es stapelten sich Gepäckstücke und Koffer darauf. Auf einem Doppelsitz schaukelte ein breites Wasserglas mit Pflanzen darin. Emma und Max schoben sich vorwärts, um über die steilen Treppen hinunter ins Unterdeck zu gelangen. Endlich erspähten sie zwei freie Plätze.
»Ich will am Bullauge sitzen«, rief Emma.
Max verdrehte die Augen. »Das war klar.«
Rufe erschollen und draußen lösten sich die Taue. Türen wurden verriegelt und ein ohrenbetäubendes Tuten ertönte. Der Wasserbus setzte sich in Bewegung.
Durch die Bullaugen sahen sie hinaus in das klare Hellblau des Wassers. Max lehnte sich gerade auf seinem Sitz zurück, als eine füllige Frau zwei Beutel über seinen Kopf hinweg auf den Sitz vor ihnen warf. Sie trug den auffälligsten Anzug, den Max bisher gesehen hatte. Einen ziemlich knappen Zweiteiler mit blau-weißen Rüschen, leicht gepufft an den Schultern, was ihre ohnehin stattlichen Oberarme noch massiger wirken ließ.
Als die Frau Max’ Blick bemerkte, sah er schnell beiseite. Es war allerdings so eng, dass er nun einen jungen Mann fixierte, der zu seiner Rechten in einer Zeitung las. Statt umzublättern, zog er sie immer wieder auseinander, genau wie Ziggy es mit den Karten getan hatte.
Die Luft im Bus roch irgendwie fischig. Emma war ungewöhnlich still und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe ihres Bullauges.
»Heiße Getränke, Quallenchips, Kaulquappenhappen!« Ein Mann mit einem Bauchladen wankte durch die vollen Sitzreihen. Er beugte sich über Max’ Sitz. »Getrocknete Fischkaugummis gefällig?«
»Uh«, stieß Max verdutzt hervor. »Nein … danke.«
Emma lächelte in sich hinein, bevor sie sich wieder zum Bullauge lehnte. Davor schimmerte ein Fischschwarm. Wie eine flirrende Wolke glitt er neben ihnen dahin.
*
Seit einer gefühlten Ewigkeit versuchte Max, eine bequeme Haltung einzunehmen. Sein Sitz war so schmal, dass er gerade wie ein Besenstiel sitzen musste, um nicht ständig gegen Emma oder seinen Zeitung lesenden Nachbarn zu rutschen.
Es war echt nicht zu fassen. Heute Morgen erst hatte er beschlossen, in einen Bus zu steigen und seinen Vater zu suchen. Jetzt saß er zwar auch in einem Bus und war auf dem Weg zu seinem Vater, nur geplant hatte er das alles irgendwie anders.
»Kneif mich mal bitte«, sagte er zu Emma.
»Oh, gerne.« Sie kniff so kräftig in seinen Oberarm, dass ihm ein lautes »Au!« entfuhr. »Kneifen, nicht amputieren.«
»Wenn es nicht wehtut, hilft es nicht.« Sie grinste und deutete auf die Leute in ihren seltsamen Gummianzügen um sie herum. »Ich hab schon überlegt, ob wir in der Höhle vielleicht giftige Dämpfe eingeatmet haben und das alles nur träumen oder so.«
Max musste lachen und erntete dafür prompt tadelnde Blicke seiner Nachbarn.
»Sag mal«, fing Emma nach ein paar Minuten leise an, »du heißt doch auch Hickmans mit Nachnamen, oder? Wer ist denn dieser Mortensen?«
Max hatte gehofft, dass Emma ihn nicht danach fragen würde. Aber gut, sie würde es früher oder später ja sowieso erfahren. Er griff nach dem Umschlag, holte das Hochzeitsfoto hervor und hielt es Emma hin. »Die Frau rechts ist meine Ma Lynn Hickmans und neben ihr steht Mortensen Hickmans.« Er schluckte. »Er ist mein Vater, aber ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Dein Vater. Na klar.« Emma rieb sich die Stirn. »Aber wieso wohnt der denn hier?«
»Keine Ahnung. Ich hab den Umschlag erst heute Morgen gefunden.«
»Hm.« Emma legte ihren Kopf zurück an die Lehne ihres Sitzes. »Und ich dachte immer, mit meinem Vater ist man gestraft. Aber immerhin ist der nicht einfach abgehauen.«
Max spürte den Kloß im Hals dicker werden. Er wollte jetzt nicht über seinen Vater reden. Stattdessen schlug er vor, sich nach etwas Essbaren umzuschauen, und stand schnell auf, bevor Emma ihm noch mehr Fragen stellen konnte.
Zwischen Koffern und Menschen wankte er durch die Sitzreihen und hinauf in die oberen Stockwerke. Im letzten angekommen, trat er in einen rundum verglasten Ausguck, der auf dem Bus thronte. Mit einem sanften Auf und Ab schnitt der Bus durch die Wellen. Max versuchte, den Himmel zu entdecken, sah aber nichts als dichten Nebel über sich. Entfernt entdeckte er ein paar fliegende Fische in der Luft, die kurz darauf wieder ins Wasser abtauchten. Trotz des Fahrtwindes hörte er ein schrilles Fiepen. Dicht neben dem Bus segelte ein Schwarm aus winzigen Vögeln. In einem weiten Bogen sausten sie plötzlich ins Wasser und versanken, um nach ein paar Sekunden mit flirrenden Schwingen wieder aufzutauchen. Max blickte den glänzenden Körpern hinterher, bis sie im Nebel verschwanden.
Er durchstreifte die Decks und kam bei einem Shop für Andenken und Süßigkeiten vorbei. Hier gab es nichts, was er von zu Hause kannte. In der Auslage lagen Lutscher, die je nach Lichteinfall ihre Farbe wechselten, und daneben unzählige Tütchen bedruckt mit einem Seeanemonenmuster und der Aufschrift Nubi-Kubi-Bonbons. Unter dem Schild Kandierte Austern lagen erbsengroße, schrumpelig braune Kügelchen. Das Einzige, das nicht nach Lebensmittelvergiftung schrie, entdeckte Max in einer Schale. Es sah ein wenig wie roter Wackelpudding aus, der tropfenförmig aufeinandergestapelt war. Kurzerhand bestellte er einen und bezahlte ihn mit dem kleinsten Ring ihrer restlichen Greshams. Der Verkäufer verwendete eine Schöpfkelle, um den Tropfen in eine spitze Tüte zu bugsieren. Als Max daran leckte, klebte ein süßer Film auf seiner Zunge. Schmeckt wie gezuckerte Fischstäbchen, dachte er. Gar nicht so übel. Also kaufte er noch einen für Emma.
Ein plötzliches Zischen und Blubbern außerhalb des Wasserbusses trieb Max zu den Fenstern. Er spähte durch eines der Bullaugen und sah, dass sie abtauchten.
Als er wieder an ihrem Platz ankam, lehnte Emma am Bullauge und schlief. Auch von den anderen Sitzen erklangen leise Schnarchgeräusche. Im gedämpften Licht der Bordlampen aß Max seinen Tropfen und starrte schläfrig ins tiefblaue Wasser.
*
Ein unsanfter Stoß in seine Seite ließ ihn hochschrecken.
»Guck dir das an!« Emma zog ihn aufgeregt zum Bullauge. »Da draußen! Da ist eine Stadt, eine Unterwasserstadt!«
Max rieb sich die Augen und schaute ungläubig hinaus. Der Wasserbus tauchte zwischen Hochhäusern hindurch, die irgendwie spiegelverkehrt in die Tiefe ragten, so massig und lang, als hätte man den Big Ben verkehrt herum ins Wasser gehängt. Unzählige Stockwerke hinter glattem Stein und Metall erleuchteten durch ihre rund gewölbten Fenster das Wasser. Im Innern der Häuser war es offenbar trocken.
Der Wasserbus schwamm zwischen zwei massiven Metallketten entlang, die von leuchtenden Kugeln markiert wurden. Mehrere solcher Wasserstraßen lagen in verschiedenen Höhen wie Stockwerke übereinander. Durch senkrechte Abzweigungen fuhr der Wasserbus zu den darüber- oder darunterliegenden Straßenebenen. Hier und da ragten schwere Eisenketten senkrecht in die Tiefe.
Max fehlten die Worte. Dass es möglich sein sollte, unter Wasser zu leben, hätte er sich im Traum nicht vorstellen können. Aber hier wohnten Menschen in einer riesigen Stadt – einer Unterwassergroßstadt.
Ihr Bus fuhr dicht an einer lang gestreckten Fensterfront entlang und gab den Blick in einige der Wohnungen und Läden frei. Vor den Häusern im Wasser schwammen Leute herum. Sie trugen alle die schon vertrauten Gummianzüge, hatten aber über Hände und Füße mal mehr, mal weniger farblich passende Flossen gestreift. Kein Anzug glich dem anderen.
Max fiel auf, dass manche einen Helm trugen, von dem zwei Schläuche in einen Kanister auf ihrem Rücken führten. Andere hatten sich hingegen nur einen Rucksack umgehängt, aus dem ebenfalls dünne Schläuche zu einem Mundstück führten. Auch aus einigen Häuserwänden hingen welche. Daneben waren Bänke und Sessel befestigt, auf denen Menschen saßen und sich unterhielten. Ab und zu sogen sie an den Schläuchen wie an einer Wasserpfeife, um kurz darauf feine Luftbläschen ins Wasser abzugeben.
Emmas Zeigefinger schnellte durch die Luft. »Müssten die Häuser nicht voller Wasser laufen?«
Max drückte sich ebenfalls näher zum Bullauge. »Nee, schau mal, da.«
Vor ihnen im Wasser öffnete ein Mann eine der gläsernen Haustüren und betrat eine dahinterliegende, mit Wasser gefüllte Schleuse. Darin betätigte er einen Knopf, als stünde er in einem Fahrstuhl. Augenblicklich zischte das Wasser aus dem Zwischenraum heraus, bis der Mann im Trockenen stand, die zweite Tür öffnete und im Inneren des Hauses verschwand.
Um sie herum tuckerten weitere Wasserbusse umher. Neben ihrem blauen gab es noch gelbe, grüne und violette. Sie hießen Anemonengelbe Linie oder Seegrasgrüne Linie. Auch kleinere Fahrzeuge zischten durchs Wasser. Manche von ihnen waren so klein, dass nur eine einzige Person darin Platz fand. In anderen lugten mehrere Gesichter aus den Bullaugen.
Eine Lautsprecheransage ertönte: »In Kürze erreichen wir Milmar-Haupthafen. Die Tintenblaue Linie 265 endet hier.«
Kurz darauf wechselte ihr Bus auf eine der vertikalen Wasserstraßen und tauchte zwischen den Unterwasser-Hochhäusern senkrecht hinauf. Bevor sie die Oberfläche erreichten, drehte er ab und bewegte sich auf ein besonders eindrucksvolles Gebäude zu. Auf der mächtigen, aufwändig verzierten Fassade lasen sie in roten Leuchtbuchstaben Milmar-Haupthafen.
Über ihnen glitzerte die Wasseroberfläche. Emma und Max erkannten mehrere große Öffnungen. Auf eine davon steuerte ihr Wasserbus geradewegs zu. Innen im Haupthafen nahm der Bus weiter Kurs nach oben. Je weiter sie in dem Gebäude auftauchten, desto lauter tosten die Motoren. Draußen blubberte und zischte es. Zwei Sitze hinter ihnen weinte ein Kind und neben ihnen trommelten die Finger des jungen Mannes ungeduldig auf die Zeitung. »Milmar-Haupthafen«, verkündete die Lautsprecheransage. »Bitte gedulden Sie sich noch einen Augenblick, bis wir endgültig angelegt haben.«
Sofort sprang Emma auf und drängelte sich durch die Menschenmassen zur Treppe und Richtung Ausgang. Dicht hinter ihr schob sich Max durch die Sitzreihen.