Читать книгу Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund - Anna Ruhe - Страница 8
ОглавлениеMax spähte hinauf zu den dichten Wolken, die der Sonne den Blick auf Bittie Cross verwehrten. Unter seinen Füßen quietschten die Sohlen seiner Turnschuhe. Er presste entschlossen die Lippen aufeinander und lief den Fußweg neben der Steinmauer entlang, vorbei an einem verrotteten Schuppen. Biccas Haus lag schon weit zurück und vor ihm schlängelte sich die einzige Straße, die durch das Dorf führte. Hier fuhr so gut wie nie ein Auto vorbei, aus keinem Fenster drang Musik und die leer gefegten Gehsteige erinnerten an eine Geisterstadt. In Bittie Cross war es still. Stiller als still.
Ein bisschen mies kam sich Max ja schon vor. Ihm war klar, dass es nicht sehr nett war, einfach so abzuhauen, und Bicca sollte sich wirklich nicht dafür verantwortlich fühlen, wenn er sich aus dem Staub machte. Seine Großmutter konnte schließlich nichts dafür, dass jeder ohne Hörgerät oder künstliche Zähne in Bittie Cross an Langeweile starb.
Der nächste Linienbus fuhr erst wieder nachmittags und so entschied sich Max, den ausgetretenen Schleichweg am See zu nehmen, um dort die Zeit totzuschlagen. Er führte ein Stück durch den Wald, am Rand des Dorfes entlang. Dick wuchs das Moos an den Stämmen und am Boden durchbrachen die Wurzeln den Sand. Nirgends lag auch nur eine Tüte oder ein leer getrunkener Pappbecher herum.
Hier ist es so idyllisch wie auf einem Friedhof, schoss es Max durch den Kopf. Keine Ahnung, warum seine Mutter glaubte, in Bittie Cross mehr Erfolg mit ihrer Malerei zu haben. Welcher Fischer gab schon Geld für Bilder mit leeren Vasen und Kannen in Neonfarben aus? Er wollte nicht ihre Bilder schlechtmachen. Ihm gefiel, was seine Ma malte. Aber wo sollte sie die hier schon ausstellen? Außerdem verdiente man als Kellnerin in einer der Dorfkneipen ganz bestimmt noch weniger als in einem Londoner Café. Sie bräuchte nur eine zweite Chance, war ihr einziges, völlig unlogisches Argument dagegen und bei Oma Bicca fiel ja auch die Miete weg.
Genervt stieß Max die Luft zwischen seinen Lippen hindurch. Egal. Er für seinen Teil würde einfach wieder zurück nach London fahren und seinen Vater suchen. Den Mann, von dem angeblich keiner wusste, wo er steckte. Wenn das mal stimmte. Ab heute würde er der Sache selbst auf den Grund gehen. Jetzt hatte er seine Adresse und das veränderte alles. Ganz sicher. Außerdem konnte seine Mutter ihn nicht ernsthaft zwingen, mit ihr in dieses Nest zu ziehen. London war sein Zuhause, seit er denken konnte, und in Bittie Cross gab es außer ein paar Wiesen und einer ach so malerischen Steilküste gar nichts: kein Kino, keinen Fußballplatz, nicht mal Internet. Und wer bei Bicca einen Fernseher suchte, schaute wortwörtlich in die Röhre.
Bislang hatte Max seine Großmutter ja immer ganz gern besucht, auch wenn in dem Steinhaus die Wasserleitungen rumorten, es manchmal eiskalt durch die Fenster zog und die Heizung nur sporadisch ansprang. Solange es sich um einen Besuch handelte, konnte man es in Bittie Cross schon aushalten. Aber hier wohnen? Für immer? Das war echt etwas anderes. Nicht mal die Touristen, die brav jedes Dorf in Cornwall abklapperten, kamen hierher. Und in den letzten drei Wochen hatte er wirklich genug Landluft geschnuppert.
Über Max raschelten die Blätter im Wind und der Himmel blitzte kaum durch die Baumkronen hindurch. Plötzlich stolperte er über eine dieser bescheuerten Wurzeln und landete fluchend auf allen vieren. Mist! Jetzt war auch noch sein rechtes Hosenbein zerrissen und das Knie darunter brannte. Als er sich wieder hochrappelte, stockte er. Da war noch jemand, ebenfalls auf dem Boden. Ungefähr zehn Schritte von ihm entfernt lagen zwei dünne Beine mitten auf dem Pfad. Den Rest des Körpers bedeckte ein Busch am Ufer.
Max spürte seinen Herzschlag am Hals pulsieren. Während er zögernd auf die zwei Beine zuging, plätscherte irgendetwas im See hinter den Sträuchern. Als er nur noch einen Schritt entfernt stand, räusperte er sich. Sofort kam Bewegung in den Körper. Max atmete erleichtert aus – immerhin war dieser Jemand am Leben.
Ein Mädchen kroch unter dem Uferbusch hervor und baute sich vor ihm auf, während sie den Sand von ihrer ausgebeulten Jeans klopfte. Das T-Shirt unter ihrer grünen Kapuzenjacke war vor Dreck schon ganz starr und der Blumenaufdruck darauf etwa so modern wie Biccas Nachthemden. Das glatte rotbraune Haar auf ihrem Kopf reichte ihr gerade bis unter die Ohren. Komischer Haarschnitt, dachte Max. Außerdem glänzte es im Licht, als wäre es feucht. Sie war dünn und ziemlich groß, zumindest für ein Mädchen.
»Was glotzt du so?«, blaffte sie und warf dabei den Kopf nach hinten. Die Sommersprossen auf ihrer hellen Haut lagen so dicht beieinander, als hätte sie jemand mit Farbe bespritzt.
»Ich glotze überhaupt nicht. Ist nur komisch, wenn sich jemand einfach so unter einen Busch legt.«
Statt einer Antwort hievte das Mädchen einen Eimer mit Wasser und ein kleines Fangnetz hinter den Sträuchern hervor und stellte beides mitten auf den Weg. »Nicht dass es dich was angeht, aber ich fange Kaulquappen!« Sie funkelte ihn aus ihren dunklen Augen an.
Aha. Kaulquappen. Was man halt so machte in einem Kaff wie Bittie Cross. »Na dann noch viel Spaß damit. Darf ich mal vorbei?«
Das Mädchen hob eine Augenbraue »Also, so viel steht mal fest, von hier bist du nicht. So wie du aussiehst, tipp ich mal auf London. Stimmt’s?« Sie grinste spöttisch, während sie seine Kleider und die zerrissene Jeans musterte. »Bist du etwa hingefallen? Ist ja auch eine echt gefährliche Gegend hier, was?«
»Oh Mann, lass mich einfach in Ruhe.«
Sie gluckste immer noch, als Max sich an ihr vorbeidrückte. »Pass auf, dass dich auf dem Weg kein Grashalm attackiert!«, rief sie ihm hinterher.
Max verdrehte nur die Augen und ging weiter. Weil er nicht wirklich wusste, wohin er eigentlich sollte, lief er zur Bushaltestelle. Er lehnte sich gegen das Schild mit den Abfahrtszeiten, das ihm nur sagte, was er bereits wusste: In den nächsten vier Stunden hielt hier kein einziger Bus.
Über ihm schwebten die grauen Wolken wie eine zu niedrige Zimmerdecke und natürlich fing es jetzt auch noch an zu nieseln. Max zog sich die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. Wie sollte er nur die nächsten Stunden rumkriegen? Im Haus seiner Großmutter zu warten, wäre zu riskant. Seine Ma war zwar gerade in den Nachbardörfern auf Jobsuche, doch Bicca würde merken, dass er irgendwas vorhatte. Mit ihrem sechsten Sinn spürte sie immer sofort, wenn etwas nicht mit ihm stimmte. Dann quetschte sie einen so lange aus, bis sie mit der Antwort zufrieden war. Und sie anzulügen, das wusste Max jetzt schon, würde er sowieso nicht schaffen. Sobald Bicca ihn über ihre dicke Hornbrille hinweg ansah, würde er ihr alles gestehen. Keine Ahnung, wie sie das anstellte. Seine Großmutter war eigentlich in einem Alter, in dem die meisten schusselig wurden, aber Bicca war eben Bicca. Und gemütlich zu Hause auf dem Sofa rumhängen, bis der Bus kam – das konnte er mit ihr direkt vergessen.
Es regnete immer stärker, bis das Wasser nur noch so vom Himmel hinabstürzte. Natürlich gab es in diesem Kaff nicht mal eine überdachte Bushaltestelle. Max’ Pullover hing schwer und nass an ihm herunter. Er spurtete los. Vor dem verfallenen Schuppen gab es einen Brunnen mit einem Blechdach darüber. Max setzte sich auf den Steinrand – hier war es zwar nicht bequem, aber wenigstens trocken.
In seiner Hosentasche beulte sich der dicke Briefumschlag. Vorsichtig zog Max ihn hervor und strich mit dem Finger darüber. Er fühlte sich seltsam weich an, fast ein bisschen klebrig. Das war kein normales Papier, sondern ein hauchdünnes Gummimaterial. Die Adresse seines Dads schimmerte bläulich, wie eine Tätowierung, die jemand mit Nadel und Tinte in das Material gestochen hatte. Mortensen Hickmans, stand da. Holdeener Steg 71543, Distrikt Emptern, Milmar.
Der Umschlag stammte aus Biccas Haus. Genauer gesagt, hatte ihn Max heute Morgen auf dem Boden des Raumes gefunden, der an diesem ganzen verdammten Umzug schuld war: dem Atelier seiner Mutter, in dem schon Dutzende Farbeimer, Pinsel und zerschnittene Pappkartons darauf warteten, einen Platz zu bekommen.
Erst hatte Max den Umschlag nur aufheben und auf den Tisch zurücklegen wollen, aber dann war ihm der Name seines Vaters aufgefallen und er hatte für einen Moment das Atmen vergessen. Mortensen Hickmans, dieser völlig Fremde, der sich kurz vor seiner Geburt aus dem Staub gemacht hatte und von dem seither jedes Lebenszeichen fehlte. Normalerweise dachte Max nur wenig über seinen Vater nach. Jemanden, den man nicht kannte, vermisste man für gewöhnlich auch nicht. Doch plötzlich wirbelten tausend Fragen in seinem Kopf herum.
Der Briefumschlag war bereits geöffnet gewesen. Eine Brille mit schwerem Metallgestell steckte darin. Und ein ausgeblichenes Farbfoto. Auf einer blühenden Wiese unter einem Apfelbaum stand ein Mann und hielt seine Mutter im Arm. Sie trug ein Kleid, das an eine Spitzengardine erinnerte, und sah unheimlich glücklich aus.
Über den kantigen Gesichtszügen des Mannes wuchs schwarzes, üppiges Haar. Ein gut aussehender Typ, der so breit lachte, dass er sich dabei fast in die Ohren biss. Als Max das Foto umgedreht hatte, war ihm ganz flau geworden. Hochzeit, Lynn & Mortensen stand in blauer Tinte darauf. Bislang existierte in seinem Kopf nur eine vage Vorstellung von seinem Vater, die er sich aus den ausweichenden Erzählungen seiner Mutter zusammengereimt hatte. Warum verheimlichte sie ihm dieses Bild?
Er ähnelte ihm, seinem Vater – mit den schwarzen, dichten Haaren, die sich kaum bändigen ließen, und den buschigen Augenbrauen. Genau wie er war auch Mortensen nicht besonders groß. Ob Max selbst später mal so aussehen würde? Bisher war ihm sein Aussehen immer recht durchschnittlich vorgekommen. Das einzig Besondere an ihm waren seine verschiedenfarbigen Augen. Das linke war grün, während das rechte einen leichten Blauschimmer hatte.
Behutsam drehte Max den Umschlag in seinen Händen. Das war alles, was von seinem Vater übrig war. Na ja, fast. Bis auf diese seltsame Brille. Als Max nach ihr griff, musste er grinsen. Dick und rund wie Bullaugen waren die Gläser. Entweder war Mortensen echt altmodisch oder halb blind. Auf dem Foto mit seiner Mutter trug er allerdings keine Brille.
Das zerkratzte klobige Metallgestell lag schwer auf Max’ Nase. Wozu brauchte man diese extradicken Brillengläser? Er sah durch die Brille genau so scharf wie ohne sie.
Was für ein albernes Ding. Aber vielleicht konnte er seinen Vater bald selbst fragen, was es damit auf sich hatte. Wenn er erst einmal in London war, würde er ihn sicher finden...
Plötzlich rannte das Mädchen von eben direkt auf den Brunnen zu. Ihr Haar klebte in nassen Strähnen an ihren Wangen und aus dem Eimer in ihrer Hand schwappte das Wasser. Fluchend zwängte sie sich neben Max unter das Blechdach auf den Brunnen. Hastig nahm er die Brille wieder ab.
»Mistwetter!« Mit ihrem roten Halstuch wischte sie sich über ihr nasses Gesicht. »Bist du eigentlich dieser Max, Biccas Enkel?«
»Woher weißt du das?«
Das Mädchen zuckte nur die Schulter. »Hier weiß jeder alles.«
»Aha. Und wer bist du?«
»Emma Leeves.«
»Ich hab dich hier noch nie gesehen.«
»Wir sind erst seit letztem Winter in Bittie Cross. Wir wohnen in dem Cottage am Ortsausgang.«
»In der alten Bruchbude?«
Emma schnaubte bloß und schüttelte genervt den Kopf. Die Unterhaltung schien für sie beendet. Über ihnen trommelte der Regen auf das Blechdach, als wollte er mit aller Kraft die unangenehme Stille übertönen.