Читать книгу Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund - Anna Ruhe - Страница 14
ОглавлениеÜber der Ankunftshalle wölbte sich eine mächtige Kuppel. Der Boden unter ihren Füßen schwankte leicht von einer Seite zur anderen. Zwischen einem Paar, das sich freudestrahlend in die Arme fiel, und einer Familie mit quengelnden Zwillingen blieben Emma und Max stehen und legten die Köpfe in den Nacken.
»Wie absolut abgefahren!«, entfuhr es Emma. Kunstvoll gearbeitete Metallstreben stützten weit über ihren Köpfen eine schillernde Glaskonstruktion, die die Ankunftshalle in ein grellbuntes Licht tauchte. An der gegenüberliegenden Wand reihten sich Ticketschalter aus poliertem Metall. Der Vater neben ihnen drängte seine Zwillinge zu einem Tor, das aus der Halle hinausführte. Max und Emma folgten ihnen, mussten aber immer wieder achtgeben, nicht von den herumwuselnden Menschen umgerannt zu werden.
Draußen vor dem Hafen schienen die nah beieinandergebauten Hochhäuser direkt aus dem Wasser in den Himmel zu wachsen. Es waren dieselben Hochhäuser, die sie gerade durch die Bullaugen gesehen hatten. Sie ragten genauso hoch in die Luft wie unter Wasser in die Tiefe. Ein Netz aus breiten Gehwegen und Brücken verband sie miteinander.
Langsam liefen Emma und Max durch das geschäftige Treiben den breiten Fußweg entlang, der sie vom Hafen wegführte. Unzählige U-Boot-ähnliche Fahrzeuge schossen über die Wasseroberfläche oder lagen vertäut neben den Wegen.
Emma deutete nach vorn. Eine ganze Reihe schwarzer Fahrzeuge mit weißen Streifen wartete vor dem Hafen. Ihre Fahrer winkten ihnen zu. »Wahrscheinlich Taxis, oder?«, sagte Max, woraufhin Emma nur ungläubig ihren Kopf schüttelte.
Die gesamte Stadt wippte leicht hin und her und folgte den Bewegungen des Wassers. Max kniete sich an den Rand des Weges und betastete die Außenkanten. Wellen schwappten daran empor. Emma sah zu ihm hinunter. »Was machst du da?«
»Ich versteh nicht, wie die Häuser gebaut sind. Es gibt ja keine Fundamente, die müssten doch umkippen, so hoch, wie die sind.«
Emma lugte nach unten, zuckte aber schließlich mit den Schultern. »Komm schon, Einstein, guck dir lieber die mal an.« Sie lief an den im Wasser dümpelnden Fahrzeugen entlang und blieb schließlich neben einem mit greller Metallic-Lackierung stehen. »Warum hat man nie einen Fotoapparat, wenn man einen braucht. Das glaubt uns doch niemand!« Mit der Hand strich sie über das kalte Metall.
»Lass uns mal auf Ziggys Karte schauen«, bat Max. »Wir haben überhaupt keine Ahnung, wo wir jetzt hinmüssen.« Während Emma sich in die Elastopri-Karte vertiefte, holte er den Umschlag aus seiner Hosentasche hervor. »Wir müssen zum Holdeener Steg 71543, im Distrikt Emptern, und – warte mal, hier auf dem Umschlag ist noch was. Sieht aus wie eingeprägt.« Max hatte einen kleinen geschwungenen Kreis entdeckt. In seiner Mitte stand etwas, das sich nur schwer entziffern ließ, darunter eine Jahreszahl. »Muss eine Art Stempel sein. Wenn das stimmt, ist der Umschlag schon fast dreizehn Jahre alt. Hoffentlich gibt es die Adresse überhaupt noch.«
Emma nickte nachdenklich und tippte auf eine der kleineren Straßen. »Da ist der Holdeener Steg.«
»Na also, los geht’s«, rief Max nach einem kurzen Blick auf die Karte und wollte dem Fußweg weiter folgen.
»Jetzt mal halblang, du Orientierungsgenie«, sagte Emma. »So kommst du bestimmt nicht im Distrikt Emptern an. Als Erstes würde ich dir empfehlen, die Karte richtig herum zu lesen. Wir müssen also erst mal da lang, nach zwei Blocks müsste dann der Holdeener Steg abgehen.« Emma warf ihm einen selbstzufriedenen Blick zu, faltete die Karte zusammen und stolzierte voraus.
Max stöhnte. »Nur weil du ausnahmsweise mal recht hast, brauchst du dich nicht gleich so aufzublasen.«
Eine frische Brise wehte ihnen durch die Haare. Das unaufhörliche Schaukeln des Bodens ließ sie immer wieder taumeln. Die meisten Fußwege führten zu Plätzen, in deren Mitte mehrere Fontänen wie Springbrunnen aus dem Boden schossen.
»Dahinten geht der Weg Richtung Emptern ab. Noch zwei Brücken geradeaus, dann rechts und wir kommen auf den Dachtenweg«, erklärte sie, während sich die beiden an einem Pulk Menschen in bunten Gummianzügen vorbeischoben.
Als sie endlich im Holdeneer Steg Nr. 71543 ankamen, erwartete sie jedoch eine böse Überraschung. Fassungslos starrten beide auf das mehrstöckige Haus vor ihnen. Die Türen hingen zersplittert in den Angeln und an den zerbrochenen Fenstern wehten klägliche Gardinenreste. Die zweite Etage war komplett ausgebrannt, die Fassade darüber rußgeschwärzt.
Emma ging einen Schritt auf die ramponierte Haustür zu und spähte ins Innere. »Bist du ganz sicher, dass das auch die richtige Nummer ist?«
Ohne ein Wort zu sagen, hielt Max ihr den Umschlag mit der Adresse unter die Nase.
»Was meinst du, wie lange das Haus schon so aussieht?«, fragte sie, während Max das Klingelschild unter die Lupe nahm.
»Schau mal.« Er zog Emma zu sich heran. »Unter G. Rourk und über Familie Tuller steht Hickmans, Mortensen Hickmans! Das ist im zweiten Stock.«
Emma ging drei Schritte rückwärts und sah an der Hauswand empor. »Der zweite Stock ist ausgebrannt. Da ist überhaupt nichts mehr. Verdammt!« Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und blickte den Holdeneer Steg hinunter.
Max schluckte schwer. Mit aller Kraft unterdrückte er die in ihm aufsteigende Enttäuschung. Er hatte so sehr gehofft, seinen Vater hier zu treffen und für all das hier eine Erklärung zu bekommen. Und jetzt? Wie sollten sie ohne Mortensen je wieder nach Hause kommen?
»Fragen wir in dem Geschäft nebenan. Vielleicht wissen die, was mit dem Haus passiert ist.« Zielstrebig steuerte Emma auf einen Gemischtwarenladen zwei Häuser weiter zu. Als sie die Tür öffnete, schlug ihnen ein strenger Geruch von getrocknetem Fisch entgegen. Einfache Lampions tauchten den Raum in ein diffuses Licht.
»Ja bitte?« Hinter einem Regal schaute ein junger Mann mit langen Haaren hervor. »Kann ich euch helfen?«
Max räusperte sich. »Ich habe eine Frage zu dem Haus nebenan. Wissen Sie, wo die Leute, die dort gewohnt haben, hingezogen sind?«
»Das Haus steht doch schon seit Jahren leer. Ich weiß nur, dass es einen Brandanschlag auf das Labor gab.«
»Das im zweiten Stock? Was für ein Labor war das denn?«
»Zweiter Stock, ja. Und keine Ahnung, was das für ein Labor war. Wieso fragst du?«
»Wir suchen jemanden, der früher da gewohnt hat.«
Der Langhaarige beäugte sie nur ratlos und empfahl ihnen, auf der nächsten Polizeiwache zwei Ecken weiter nachzufragen.
Zurück auf der Straße fiel Max und Emma auf, dass es noch diesiger geworden war. Ein seltsamer Dunst hing in der Luft, genau wie bei ihrer Abfahrt in Eldena. Die ganze Stadt verlor in diesem Nebel ihre Farbe. Selbst die leuchtenden Buchstaben über den Geschäften wirkten auf einmal matt und verwaschen.
Emma zeigte auf eine Art Monitor, der gegenüber an einer Hauswand befestigt war. Er war riesig und flimmerte. »Hier hängen überall Bildschirme. Die sieht man alle paar Meter. Wozu die wohl gut sind?«
Max zuckte nur mit der Schulter. »Vielleicht schauen sie ja Fußball zusammen, falls die hier so was überhaupt haben.«
Um sie herum schienen alle Menschen ihre Schritte zu beschleunigen. Beunruhigt blickte Max einer älteren Frau hinterher, die vor sich hin brabbelnd an ihnen vorbeihastete. »Irgendwas stimmt hier nicht. Lass uns lieber schnell die Polizeiwache suchen.«
*
Die Eingangstür in der spiegelblanken Fassade der Polizeiwache sah aus wie der gepanzerte Tresor einer Bank. Dahinter befand sich ein stickiger, spärlich möblierter Raum, in dem unzählige Menschen dicht gedrängt darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Ein verärgertes Gemurmel vibrierte im Raum. Max und Emma konnten nur schwer erkennen, was sich am Ende des Raumes hinter der Warteschlange befand. Im Gedrängel wurden sie ständig hin und her gedrückt.
»Guck mal da«, flüsterte Emma Max ins Ohr und zeigte auf ein gezeichnetes Porträt, das an die Wand geheftet war. »Der musste wahrscheinlich so lange warten, da ist ihm ein Bart gewachsen.«
Max grinste. Dem Mann auf dem Bild wucherte tatsächlich sein Bart zottig bis zur Brust hinunter. Auf seinem Kopf stand das Haar strohig in alle Richtungen ab. Obwohl es nur eine Zeichnung war, schien sie der Mann mit seinem Blick förmlich zu durchbohren. Zu Schlitzen zusammengezogene Augen fixierten abschätzig seine Betrachter. Unter dem rechten Auge war eine kleine Träne eintätowiert. Signor Doma stand darüber und daneben: Kopfgeld – 1000 große Greshams.
Max wollte noch etwas zu Emma sagen, aber sie drängelte sich schon vor ihm durch die wartenden Leute. Dabei rief sie jedem, der ihr nicht zügig Platz machte, ein strenges »’tschuldigung, Notfall!« zu.
Der ist echt nichts peinlich. Max seufzte und schob sich so unauffällig wie möglich hinterher. Ein paar Minuten später standen sie, begleitet von empörten Blicken, tatsächlich vor einem der Schalter. Max wäre gerne im Boden versunken.
»Name, Anschrift, Beruf?«, fragte sie ein dunkelblau uniformierter Mann, ohne aufzublicken.
»Ich bin Emma Leeves und wohne in der Bent Road 14 in –«
»Bent Road 14?«, schnaubte der Polizist hinter seinem Schreibtisch. »Gibt’s hier nicht!« Er tastete wild auf einer weichen durchsichtigen Schreibtischoberfläche herum. In dem zähen Material steckten Schaltflächen und Markierungen. Jedes Mal, wenn er seine Finger darin versinken ließ und auf etwas drückte, öffneten sich Textseiten, Tabellen oder Diagramme im Inneren des Tisches, die jedoch sofort wieder verschwanden, wenn er seine Finger zu einer anderen Markierung bewegte.
»Leeves ist nicht erfasst. Noch mal bitte!«
»Aber so heiße ich und … eigentlich suchen wir auch nur jemanden. Nämlich Herrn Morten…«
»Stopp! Sie müssen mir Ihren Namen, Anschrift, Beruf und Einkommen nennen, sonst kommen wir hier nicht weiter. Erst trage ich Ihre Daten ein, dann bringen Sie Ihr Anliegen vor.«
»Ich hab aber keinen Beruf, ich gehe noch zur Schule.« Der Mann am Schalter hob jetzt zum ersten Mal seinen Kopf und schaute Emma an. »Verstehe«, stieß er scharf hervor. »Dann vielleicht Namen und Adresse des kleinen Herrn hier?«
»Ich heiße Max Hickmans und wohne genau wie Emma in der…«
»In ganz Seeland ist kein Max Hickmans registriert, nur ein Mortensen Hickmans und eine Lilla Hickmans, die aber bereits verstorben ist. Kinder, ich hab keine Zeit für solche Scherze.«
»Aber genau den suchen wir doch: Mortensen Hickmans!«
»Wenn es keine Daten zu euch gibt, kann ich euch auch nicht behilflich sein. Der Nächste bitte!«, rief er barsch.
»Aber …«, begann Max. »Wir brauchen nur seine Adresse und seine Telefonnummer, das ist alles.«
»Te-le-fon-num-mer?«, wiederholte der Beamte, als ob Max ihm einen schlechten Witz erzählt hätte, und winkte schon den Nächsten heran. Der Mann hinter ihnen drängte Emma beiseite. Empört hielt sie dagegen, aber der Polizist beachtete sie schon gar nicht mehr.
»Das hat hier keinen Sinn«, sagte Max missmutig.
»Sie müssen uns doch helfen!«, rief Emma dem Polizisten zu. »Was sollen wir denn jetzt machen?«
»Komm schon.« Max zog Emma zur Tür hinaus und auf die Straße.
»Und was jetzt?« Ratlos zog Emma die Karte hervor und starrte darauf, als könnte sich aus dem Elastopri jeden Moment die Antwort erheben. Max hingegen beobachtete einen alten Mann, der kurz nach ihnen das Gebäude verließ und nun mithilfe eines Krückstocks auf sie zuschlurfte. Ein zerschlissener Gummimantel umhüllte seine hagere Gestalt. Dicht vor Max blieb er schließlich stehen. Aus eingefallenen, müden Gesichtszügen musterten ihn zwei erstaunlich klare Augen.
Max warf dem alten Mann einen verwirrten Blick zu, als der noch ein Schritt näher auf ihn zukam. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Vielleicht kann ich euch helfen.« Der Mann verzog keine Miene, schaute weder grimmig noch freundlich, doch sein durchdringender Blick klebte an Max.
Plötzlich drang ein leises, aber hohes Gellen in Max’ Ohren, das sich rasant zu einem viel zu hohen Fiepen steigerte. Die diesige Luft um sie herum schien noch undurchdringlicher zu werden. Max fühlte sich auf einmal fürchterlich benommen und zuckte zusammen, als der Alte sie beide packte und zur nächsten Eingangstür zerrte. Noch während die Tür hinter ihnen zuschlug, erhaschte Max einen kurzen Blick auf eine vorbeirasende Nebelwolke, in der es zu flattern schien. Der Alte drückte sie gegen die Wand des Hausflurs, bis das Fiepen verhallte. Max schüttelte schließlich seinen Arm ab. Was war das denn?
»Verdammte Späher«, raunte der Mann knapp. »Versucht besser nicht, ihre Bekanntschaft zu machen. Wen genau sucht ihr?«
Instinktiv wich Max zurück. »Wieso wollen Sie das wissen?«
Der Mann lugte auf die Straße hinaus. »Ich habe den Namen Mortensen Hickmans aufgeschnappt«, flüsterte er. »Ich kenne Mortensen. Vielleicht kann ich euch helfen, ihn zu finden. Aber hier ist zu viel los. Seht ihr die Bildschirme auf der gegenüberliegenden Straßenseite?«
Max und Emma schoben ihre Köpfe zur Tür hinaus. Die Nebelwolke war verschwunden.
»Sie registrieren jeden, der die Wache verlässt. Am besten, ihr folgt mir unauffällig, damit wir nicht miteinander in Verbindung gebracht werden.« Er öffnete die Tür und ging davon. Unschlüssig blieb Max zurück und wartete einen Moment – dann trat er auf die Straße, um dem Alten nachzugehen.
»He, warte mal!« Emma hielt ihn fest. »Du kannst dem doch nicht einfach hinterherlaufen, der Kerl ist total unheimlich. Was ist, wenn das nur ein Vorwand war?«
»Er weiß etwas über Mortensen! Was sollen wir denn sonst machen?«
»Er hat uns nicht mal seinen Namen gesagt!«
Der Alte stand inzwischen am Ende der Straße und starrte zu ihnen herüber.
»Wenn du willst, warte hier auf mich.«
Emma schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall!«
Max nickte nur und überquerte die Straße.
»Das ist mit Sicherheit die dümmste Idee, die du bisher hattest«, schimpfte Emma leise, während sie hinter ihm herstolperte.
Sie folgten dem Mann durch die Straßenzüge. Je weiter sie sich von der Polizeiwache entfernten, desto schäbiger wurde die Umgebung. Von den Fassaden blätterte der Lack und gab den Blick auf gefräßige Rostflecken darunter frei. Der Glanz rund um das Hafengebiet, der sie bei ihrer Ankunft in Milmar so beeindruckt hatte, war verschwunden. Anfangs hatten sie noch hier und da jemanden in den verdreckten Seitenstraßen gesehen. Doch mittlerweile begegneten sie keiner Menschenseele mehr.
Max biss sich auf die Lippe. War es ein Fehler gewesen, hierherzukommen? Aber welche Wahl hatten sie schon?
Vor einem kastenförmigen Gebäude blieb der Alte stehen. Die wenigen runden Fenster waren mit eingedellten Metallplatten vernagelt. An der Eingangstür wartete er, bis Max und Emma bei ihm waren, und winkte sie wortlos ins Innere. Dröhnend fiel die metallene Tür hinter ihnen zu.
Vor ihnen lag ein Flur mit verrostetem Metallboden. Ein schwaches Licht über ihren Köpfen flackerte. Max spähte in einen der Räume, in dessen Mitte eine massige Werkbank stand. Über einer verrußten Feuerstelle hingen lange Metallrohre. Diese Werkstatt war offensichtlich schon seit langer Zeit verlassen. Der Alte eilte unterdessen auf eine offen stehende Tür am Ende des Flurs zu, aus der ein schwacher Schein auf den Boden fiel. Max und Emma blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.