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1 Kung Fu

Auf dem Schulhof schlug ihnen das blanke Chaos entgegen. Vor dem Eingang stand immer noch eine Reihe Polizisten, aber diesmal in voller Montur – Plexiglasschilde, Helme, Stiefel, Handschuhe und Schlagstöcke. Man konnte die Schule verlassen, kam aber nicht wieder rein.

Auf der Dorfstraße staute sich der Verkehr. Ein paar Autofahrer und der Schulbus übten sich in Dauerhupen. Demonstranten rannten zwischen den Autos hin und her und schwenkten Schilder und Transparente. Manche benutzten sie als Rammbock oder Keule. Die Vermummten versuchten, die Formation der Polizei mit Provokationen zu sprengen. Obwohl sie nicht wirklich gefährlich waren, sorgten sie für Aufregung. Aber auch andere Leute benahmen sich daneben. Manche begannen, Parolen zu singen. Alles versank in zunehmendem Durcheinander.

Milli und ihre neuen Freunde hätten besser den Sandweg hinter der Schule nehmen sollen, aber dafür war es nun zu spät. Sie mussten ihre Fahrräder durch das Gedränge schieben und erreichten mit Müh und Not die gegenüberliegende Straßenseite, wo der schmale, lang gezogene Stadtpark seinen Anfang nahm. Unter einer alten Eiche stand ein silberner Lieferwagen, den sie anpeilten, weil sich dort weniger Leute aufhielten.

Lisa sah aus, als würde sie jeden Moment vor Empörung platzen. Ben fiel das Atmen schwer, er röchelte, und Milli zitterte vor Wut. An Chong hatten sich zwei glatzköpfige Schläger geheftet. Einer hatte im Vorbeigehen mit voller Wucht in sein Fahrrad getreten. Chong war unbeirrt weitergegangen; sie folgten ihm und ließen Sprüche ab: „Hau ab in die Heimat, Fidschi!“

Der kleinere legte Chong die Hand auf die Brust und stieß ihn nach hinten. Chong ließ sein Fahrrad fallen und machte ein paar taumelnde Schritte rückwärts, bis er die große Eiche im Rücken hatte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, er hob die Fäuste und brüllte: „Willst es drauf anlegen, Stümper!“

Millis Herz pochte. Die zwei Glatzköpfigen waren größer und stärker als Chong. Er hatte keine Chance. Sie hatte Angst um ihn und gleichzeitig ärgerte sie sein unkluges Verhalten. Warum konnte er nicht einfach davonlaufen?

„Lauf!“, rief sie verzweifelt. „Mach schon … hau ab!“

Chong ignorierte sie. Er sah die beiden Glatzen entspannt an und wartete. Als der erste zuschlug, war er plötzlich nicht mehr da, sondern hinter dem Angreifer und drehte ihm den Arm um. Der trat um sich, konnte sich aber nicht befreien. Chong lachte rau und brüllte etwas auf Chinesisch. Die andere Glatze kam ihrem Kumpel zu Hilfe. Chong ließ den ersten los. Aber auch zu zweit erwischten sie ihn nicht. Er war schneller und wich ihnen immer im letzten Moment aus. Verletzungen fügten sie sich allenfalls selber zu.

Milli unterdrückte den Reflex, ihm zu helfen, denn sie hätte sich nur lächerlich gemacht. Chong war gut trainiert und geschickt und ohne sie besser dran.

Plötzlich fühlte sie, wie jemand von hinten ihre Schulter griff. Sie nutzte das Gewicht, das an ihr zog, für eine Drehung und brachte dabei den Ellbogen hoch. Aber statt ein Ziel für ihre Faust fand ihr Blick nur Rippels felsenhartes Gesicht. Wenn Blicke töten könnten, dachte sie, dann gäbe es jetzt Leichen.

„Stehenbleiben“, sagte er mit rauer Stimme. Dann schnappte er sich Chong und brüllte ihn an: „Darüber reden wir noch!“, aber als er sich zu den Glatzen umdrehte, waren die schon Hals über Kopf davon.

„Die haben angefangen“, protestierte Chong. „Ich hab mich nur verteidigt.“

Rippel ignorierte das und schrie gegen den Lärm an: „Wo sind die anderen?“

Milli zeigte Richtung Eiche, wo Lisa und Ben standen. Rippel zog etwas aus der Tasche, das wie bunte Stirnbänder aussah und verlangte: „Aufsetzen – sofort!“

Milli bemerkte erst jetzt, das er selbst auch ein Stirnband trug, ganz in schwarz, wie seine Haare. Sie nahm ein gelbes Band, es war gepolstert, aber sie spürte, dass es ein spannendes Innenleben hatte.

„Jetzt einschalten!“, hörten sie Rippels heisere Stimme. „Ihr könnt den Knopf nicht sehen aber fühlen – den nach rechts schieben.“

Lisa war mit Ben beschäftigt. Der Arme war kreidebleich, er taumelte und landete am Fuß der Eiche im Gras. Chong, der mit zwei Sätzen bei ihm war, rutschte unglücklich aus und landete mit einem unaussprechlichen Fluch auf Bens Schoß. Rippel versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und zog beide Jungen aus dem Gras.

„Mitkommen!“, befahl er und dann mit düsterem Blick auf den Lieferwagen: „Stand der heute früh schon hier?“

Milli war die einzige, die sich erinnerte. Offenbar hatte sich der Lieferwagen den ganzen schrecklichen Vormittag lang nicht vom Fleck gerührt. Sein Bild hatte sich ihrem Gedächtnis eingeprägt; als sie zur Schule fuhren stand dort ein vermummter Typ und pinkelte einen Reifen an.

Rippel wollte alles genau wissen, dann lotste er die vier in Richtung Dorfstraße.

Chong packte Ben und schleppte ihn mit sich. So hatte Milli sich das nicht vorgestellt. Sie versuchte Rippel klarzumachen, dass sie ins Café Siebenrock wollten, und nicht nach Hause, aber niemand hörte ihr zu. Außerdem mussten sie noch ihre Fahrräder holen. Lisas Hinterrad hatte sich in Bens Vorderrad verhakt und alles gestaltete sich schrecklich umständlich.

„Wo bitte liegt dieses Café Rübenschmock?“, fragte Rippel.

Sieh mal an, dachte Milli, er hat es doch gehört.

Lisa zeigte nach Osten. „Am Koppelitz See. Es heißt übrigens Café Siebenrock.“

„Wie weit ist das von hier?“

Lisa sah Rippel verständnislos an.

„Ein Kilometer“, antwortete Chong an ihrer Stelle.

Rippel nickte gedankenvoll. „Gut, ich begleite euch.“

„Das ist nicht nötig!“, sagte Milli ungewollt heftig. „Oder – was meinst du Chong? Ihr wisst doch, wo das ist.“ Hinter Rippels Rücken machte sie ihm heftig Zeichen und schüttelte wild den Kopf. Rippel drehte sich um und blickte sie erstaunt an.

„Am besten, wir gehen mal los“, schaltete Chong sich ein.

Milli war sauer und rührte sich nicht. Chong navigierte sein Fahrrad an ihre Seite und flüsterte ihr ins Ohr: „Lass ihn machen. Komm einfach mit.“

„Und was, wenn er mit uns rein will und dann die ganze Zeit da rumhängt?“

„Nein. Ich kenne ihn, das macht er garantiert nicht.“

Milli ließ sich mitziehen. Die Vorstellung, dass Rippel den Aufpasser spielte, machte sie alles andere als froh. Aber seit sie ihr gelbes Band um den Kopf trug, fühlte sie sich besser. Nur Rippel traute sie deshalb noch lange nicht, und während ihr Kopf langsam klar wurde, begann sie auch, sich Fragen zu stellen. Warum tauchte er an der Schule auf und wollte sie um jeden Preis weglotsen? Ob Batori davon wusste oder ihn geschickt hatte? Und nun begleitete er sie auch noch zum Café – irgendwas war hier mächtig faul.

Das Café Siebenrock war vom Chaos verschont geblieben. Das Heulen der Sirenen hörte man nur aus der Ferne, und am Hafen war es ruhig.

„Diesmal ging es nicht bei Ziggedorn los, sondern an der Schule“, sagte Rippel unvermittelt. „Warum hat die Polizei erst so spät reagiert? Habt ihr irgendetwas mitbekommen?“

Alle vier schüttelten den Kopf und antworteten einstimmig: „Nein.“

Lisa hatte ihr Lächeln wiedergefunden. „Diese Stirnbänder sind wirklich toll“, sagte sie und hüpfte ein paar Schritte. „Ich fühle mich wie neu aufgeladen.“

„Apropos –“, Rippel blieb stehen und winkte sie heran. „Diese Bänder sind Prototypen, sie sind nicht auf dem Markt. Passt darauf auf und sprecht mit niemandem darüber. Tut so, als wären es normale Stirnbänder.“

„Voll cool. Können wir sie behalten?“, fragte Ben.

Rippel starrte ihn an, während er sich nachdenklich übers Kinn strich. „Ich denke – vorläufig ja“, sagte er zögernd. „Hinten drin ist eine flache Batterie; sie hält lange und nur Batori hat ein Ladegerät dafür.“ Er nahm sein schwarzes Stirnband ab und schaltete es aus. „Ihr könnt die Batterien aber auch neben Geräte oder Kabel legen, durch die Strom fließt, dann laden sie sich von allein auf, durch Induktion, und schaltet die Stirnbänder nach zwei Stunden ab, sonst werdet ihr womöglich überstimuliert. Sie wirken auch ohne Batterie, nur sanfter. Sie passen sich langsam dem elektrischen Feld eures Körpers an. Also merkt euch eure Farben und vertauscht sie nicht.“

„Als ob eine frische Brise durch mein Gehirn fließt“, flötete Milli, „wie kleine Brauseblasen.“

Unbeabsichtigt hatte sie damit bei Ben voll ins Schwarze getroffen. Das war sein Thema, damit kannte er sich aus. „Klar doch!“, legte er begeistert los. „Durch dein Gehirn fließt sowieso Strom. Dass wir hören und sehen und unsere Muskeln bewegen können, ist alles Elektrizität. Unser Nervensystem ist ein megageil verzwicktes System elektrischer Leitungen, und –“, er schwang zur Untermalung wild die Arme, „elektrischer Strom erzeugt elektromagnetische Wellen und umgekehrt. Unsere Nerven werden von Wellen beeinflusst und umgekehrt kann unser Körper sogar Funkwellen erzeugen … wusstest ihr, dass ein –“

„Ja, ja, schon gut“, funkte Chong dazwischen. „Wir leben in einem elektromagnetischen Universum, von mir aus auch mit Urknall. Wollen wir mal rein gehen, ich hab Hunger.“

Rippel bedachte Chong mit einem wohlwollenden Blick und wandte sich schon zum Gehen, aber Milli brannte noch eine Frage auf der Zunge. Sie musste es einfach wissen und holte tief Luft.

„Diese aggressive Stimmung – kann das von Ziggedorns Antennen kommen?“, platzte sie heraus.

Rippel sah sie verblüfft an.

„Wie bitte? Wie ist denn das gemeint?“

Er tut nur so, dachte Milli, er weiß genau, was ich meine, und da sie sich nicht abwimmeln lassen wollte, wiederholte sie einen Tick leiser: „Haben die großen Antennen etwas ausgesendet, das uns angriffslustig oder krank macht?“

Alle waren still geworden und sahen Rippel neugierig an.

„Ähm, so was ist möglich, wie gesagt: Strahlung kann unser Gehirn beeinflussen. Ich habe gehört, dass bestimmte Frequenzen –“, begann Ben zaghaft.

Rippel hob abwehrend die Hand und ging einfach über ihn hinweg. „Das ist eine gewagte Behauptung“, sagte er scheinbar ruhig, aber Milli spürte, dass sie einen Nerv getroffen hatte.

„Ähm, also – so gewagt wiederum auch nicht. Eine Frequenz von zum Beispiel 6,5 Hertz kann unter Umständen sehr schlechte Laune machen, und was noch mehr –“

„Die haben uns bestrahlt. Das ist doch wohl klar“, sagte Milli frei heraus, ohne das Ende von Bens Erklärungen abzuwarten.

Für einen Moment schien Rippel wie vor den Kopf geschlagen. Sein Gesicht war alt und grau. Aber schnell hatte er sich wieder im Griff und sagte in scharfem Ton: „Klar ist nur, dass eine unangemeldete Demonstration aus den Fugen geraten ist. Und noch klarer ist, dass ihr euch den Rest aus dem Kopf schlagt. Setzt keine Theorien in die Welt, das kann üble Folgen haben.“

„Und dass Lukrezia, grade bevor der Stress richtig losging, vorzeitig aus dem Unterricht geholt werden musste, wegen einer dringenden Familienangelegenheit … ist das nicht merkwürdig?“, fragte Chong, auf einmal misstrauisch geworden.

Rippel wirkte überrascht.

„Auch als Lukrezia noch da war, war es stressig“, äußerte Lisa vorsichtig. „Erinnert euch, die Leute waren alle ziemlich unerträglich.“

Milli hatte genug, ungeduldig zappelte sie auf der Stelle. Sie wusste, dass Rippel ihnen etwas verheimlichte. Sie hatte Erfahrung mit Täuschungsmanövern bei Erwachsenen. Am liebsten wäre sie auf ihn losgegangen, er hielt sie wohl für dämlich!

„Keine voreiligen Schlüsse“, erklärte Rippel grimmig. Sein Blick heftete sich wieder auf Milli. „Junge unerfahrene Mädchen sollten vorsichtig sein und nachdenken, bevor sie den Mund auftun. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich jemand aus deiner Familie unnötig in Gefahr begibt und Unschuldige mit hineinzieht.“

Milli schnappte nach Luft. Er meinte ihren Vater. Was für eine finstere Gemeinheit!

„Milli!“, sagte Lisa eindringlich, „lass uns reingehen und einen Kuchen aussuchen … es gibt tolle Sorten.“

„Also, ich misch mich ja ungern ein“, sagte Ben, „aber so unrecht hat sie ja eigentlich nicht. Ich übergebe mich sonst nie, aber –“

„Wieso Gefahr?“, ging Milli schnaubend auf Rippel los, ohne Ben zu beachten. „Angeblich ist doch alles in Ordnung, außer einer kleinen Demonstration, die aus den Fugen geraten ist!“

Rippel sah aus wie vom Donner gerührt. „Töricht. Was weißt du schon!“, zischte er, und einen Moment dachte Milli, er würde die Beherrschung verlieren. Aber er legte nur die Hand über die Augen und wandte sich ab.

Kurze Zeit herrschte Schweigen.

Schließlich hatte sich Rippel wieder eingekriegt. „Es besteht kein Grund zur Unruhe“, sagte er ruhig und mit einem Lächeln. „Ich warte hier, bis ihr alle im Café seid und die Tür hinter euch zugemacht habt.“

Chong starrte ihn entgeistert an, und einen Moment schien es, als wollte er etwas sagen. Rippel nickte ihm zu und versuchte, unbekümmert dreinzuschauen, aber Chong wandte sich unwirsch ab, marschierte zum Café und stieß mit einer abrupten Bewegung die Tür auf.

Zum Café musste man von der Straße aus sieben Stufen hinaufsteigen. Darüber gab es noch ein Stockwerk mit Gästezimmern. Der Raum, den sie betraten, war hell und freundlich und roch nach frischem Kaffee und Kuchen. Der Teil zum Hafen hin ging durch eine Glasfront mit Schiebetür auf eine große Terrasse. Man hatte einen weiten Blick über den See. Die Bar lag in der Mitte. Auf der rechten Seite gab es gelb verputzte Wände und auf dem Boden lagen Spielsachen.

„Meine Mutter ist eben ausgesprochen geschäftstüchtig“, sagte Lisa, als müsste sie sich dafür entschuldigen, während sie einen bunten Ball beiseite kickte. „Der Bereich für Kinder hat sich aber gelohnt. Mütter mit Kindern kommen gern her, und es sind eine ganze Menge.“

Lisa und Chong gingen links am Tresen vorbei zu einem Ecktisch am Fenster, Milli und Ben hinterher. An der Wand hingen asiatische Landschaften mit zuckerhutförmigen Bergen und seltsamen Bäumen und Vögeln.

„Meine Mutter hatte eine japanische Phase“, sagte Lisa und lächelte säuerlich, „denkt sie jedenfalls, denn das meiste von dem Zeug kommt aus China.“

Eine energische Person mit ausgeprägten Rundungen und angetan mit einer bunten Schürze eilte durch die Schwingtür und mit offenen Armen auf sie zu. „Lisa, mein Stubbelchen! Was für ein Tumult, da bin ich aber froh, dass euch nichts zugestoßen ist.“

Sie sah sie neugierig an. „Was für interessante Stirnbänder ihr tragt … und jedes in einer anderen Farbe.“

„Hallo Mama. Die haben die Atomkraftgegner umsonst verteilt“, erklärte Lisa, und ließ sich widerwillig knutschen.

Ihre Mutter schaute sie voller Genugtuung an. „Dieses Blau steht dir. Es würde gut zu dem blau-weißen Kleid passen, das du nie anziehst.“

„Mama!“ Auf Lisas Gesicht trat ein flehender Ausdruck. „Das sind Milli und Ben. Sie sind neu in meiner Klasse.“

Die Diskussion mit Rippel hatte Milli ganz schön nervös gemacht, aber wie es schien, nicht nur sie. Bei frisch gebackenem Kuchen kamen sie sofort auf das Thema Antennen zu sprechen. Chong blickte düster vor sich hin, inzwischen hielt er es für möglich, dass die Antennen von Ziggedorn das Chaos verursacht haben könnten, aber Lisa hielt dagegen, dass sie von ihrem Vater wisse, dass alle größeren Versuche genehmigt werden müssten.

„Und wenn sie es ohne Genehmigung machen? Wellen sieht man ja nicht“, wandte Milli ein.

„Aber wie willst du das rauskriegen?“, fragte Lisa.

„Dafür gibt es Messgeräte, bloß wer hat schon so was.“

„Ich habe eins“, sagte Ben. „Ein Frequenzmessgerät, das supergenau ist. Das ist mir mal – na ja, sozusagen zugelaufen. Es misst alle Strahlung aus technischen Quellen. Kraftwerke, Generatoren, Funk- und Radaranlagen, Fernseher ...“ Er fuchtelte begeistert in der Luft herum. „Super Gelegenheit, wir gehen morgen zu Ziggedorn und messen.“

Lisa sah ihn bestürzt an. „Das ist verrückt. Es gibt da Wachleute mit Schäferhunden, Mauer und Zaun und Kameraüberwachung. Niemand kann dort einfach aufs Grundstück spazieren.“

„Dazu muss man nicht aufs Grundstück“, sagte Ben grinsend.

Milli hatte eine andere Idee. „Egal. Wir gehen da normal hin. Es ist ja nicht verboten, um den Zaun zu gehen. Ihr führt uns Neukoppelitzer herum. Dann sehen wir weiter, uns fällt schon was ein … Und Ben macht nebenbei seine Messungen.“

Lisa hatte ihren Kuchen kaum angerührt und schien sich zu bemühen, nicht allzu besorgt auszusehen.

„Mein Vater behauptet, dass Ziggedorn paranoid ist“, sage sie leise. „Auf ihn ist mal geschossen worden. Deshalb ist alles gesichert, und niemand darf sein Büro betreten.“

„Manche schon, meine Mutter zum Beispiel“, bemerkte Ben.

„Ihr habt ja wohl alle jemanden, der bei Ziggedorn arbeitet“, stellte Milli verblüfft fest.

„Ich nicht“, warf Chong blitzschnell ein, dann wandte er sich an Ben. „Ist ja interessant, und was macht deine Mutter bei Ziggedorn?“

„Sie ist in der PR-Abteilung, also Pressesprecherin des Konzerns“, sagte Ben beiläufig. „Manchmal reden meine Eltern … ich bekomme öfter mal was mit.“

Chong blies vor Erstaunen die Backen auf. „Und dein Vater?“

„Der ist Arzt. Er macht gerade eine Praxis auf.“

„Mein Vater arbeitet auch bei Ziggedorn“, sagte Lisa betrübt. „Er ist ein absoluter Workaholic, und obwohl er Ziggedorn nicht mag, kommt sein Labor immer an erster Stelle.“

„Und wer hat auf Ziggedorn geschossen?“, fragte Milli neugierig.

„Chong kann das besser erzählen“, antwortete Lisa.

Chong hob den Kopf und lächelte unbeteiligt. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Die Tochter eines ehemaligen Angestellten von Ziggedorn ist an einem Gehirntumor gestorben. Ihr Vater hat einen bestimmten Typ von Ziggedorn-Handys dafür verantwortlich gemacht. Seiner Meinung nach hat es zusätzlich noch in einem anderen Frequenzbereich gesendet als die gewöhnlichen Handys. Er hat daraufhin den Konzern verklagt und den Prozess verloren. Ziggedorn hat behauptet, das erhöhe die Reichweite und sei unschädlich, hat aber die Produktion dieses Handytyps eingestellt. Mein Vater war damals noch bei der Kripo und hat an dem Fall gearbeitet. Der Fall war schwierig, sagt er, weil Beweisstücke verschwanden und auch einer von den Ingenieuren, die für diese Handys verantwortlich waren. Außerdem hatte Ziggedorn ziemlich gewiefte Anwälte. Der Vater des verstorbenen Mädchens ist dann ausgeflippt und hat auf Ziggedorn geschossen.“

Milli spürte, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten.

„Ist der Ingenieur wieder aufgetaucht?“, fragte sie.

„Ich glaube nicht.“

„Aber wenn dein Vater den Fall untersucht hat“, fuhr sie fort, „dann habt ihr auch mit Ziggedorn zu tun.“

Etwas Bedrohliches flackerte in Chongs Augen auf. „Nein. Mein Vater ist nicht mehr bei der Kripo. Er und sein Partner wurden reingelegt. Das Arschloch Ziggedorn hat –“

„Pscht! Nicht so laut.“ Lisa sah sich vorsichtig im Raum um. Vorn am Eingang saßen drei ältere Männer und würfelten.

„Man ist hier nie unbeobachtet“, flüsterte sie. „Der alte Herr Tischer da vorn, der mit dem hellblauen Hemd, das ist der Vater vom Bürgermeister, und der Sohn vom Bürgermeister ist mit Lukrezia befreundet. Alles Spießer. Sie bewundern Ziggedorn, und schnell spricht sich was rum … und jeder tratscht über jeden.“

Milli warf einen forschenden Blick auf die drei Männer, aber die schienen nur Augen für ihr Würfelspiel zu haben.

Chong zog die Brauen hoch. „Damit ihr versteht, was hier vor sich geht“, wandte er sich an Milli und Ben, „dieses Café ist der reinste Supermarkt für Klatsch und Gerüchte. Auf den Seminaren meiner Mutter läuft das genauso. Frauen quasseln und quasseln. Meine Schwester fängt auch schon damit an. Da kann man nix machen.“ Mit dieser tiefschürfenden Analyse lehnte er sich zurück, streckte die Beine aus und kippelte mit dem Stuhl.

Lisa verzog das Gesicht, entschloss sich aber, seine Rede durchgehen zu lassen und fragte stattdessen Milli: „Arbeiten deine Eltern auch bei Ziggedorn?“

Oh Gott, dachte Milli. Das war genau die Frage, von der sie gehofft hatte, dass niemand sie stellen würde. Was konnte sie schon sagen: Meine Mutter sitzt in Koppelitz’ berühmter Nervenklinik und mein Vater hat Ziggedorns Satelliten geklaut und ist mit ihm verschwunden?

Sie sah hilfesuchend Chong an. Der guckte gerade woanders hin, sagte dann aber völlig unerwartet: „Du kannst es ihnen erzählen. Lisa ist okay und Ben weiß, was ihm blüht, wenn er redet.“

„Hä! Sind wir jetzt bei der ‘Ndrangheta?“, fragte Ben verblüfft.

„Das hast du gesagt. Jedenfalls gilt die omertà.“

Milli hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen. Sie räusperte sich und versuchte, einen lockeren Eindruck zu machen. „Also gut. Mein Vater ist verschwunden“, begann sie. „Spurlos verschwunden.“

Das Thema war schwierig geblieben. Sie hatte zwar Übung darin entwickelt, was sie sagen musste, wenn jemand nachfragte, aber an den Verlust hatte sie sich nie gewöhnt. Als ihr Vater vor vier Jahren verschwand, hatte noch niemand die Lawine von Ereignissen voraus-gesehen, die es im Gefolge haben würde. Mit Tom Pietsch ging das Ergebnis eines Jahrzehnts Forschungsarbeit und eine Milliardeninvestition verloren. Millis Vater war Raumfahrtingenieur bei Ziggedorn-Electronics und die Firma wollte ihr Eigentum – angeblich ein Satellit –, ihr Geld und ihren guten Ruf zurück. Am Anfang ermittelte die Polizei noch Richtung Entführung, als aber keine Lösegeldforderungen eingingen, begannen sich das Landeskriminalamt und dann Staatsschutz und Geheimdienste in das Leben von Milli und ihrer Mutter zu drängen. Mit Schaudern erinnerte sie sich an den Terror der Hausdurchsuchungen.

Ihre Mutter war tapfer und voller Energie und Kampfbereitschaft gewesen. Die Gemeinheiten der Presse konnten ihr nicht viel anhaben, aber den intelligenteren und gefährlicheren Unterstellungen der Geheimdienste, gegen die sie keine Rechte geltend machen konnte, war sie nicht gewachsen. Man verdächtigte sie der Komplizenschaft mit ihrem Mann und setzte sie so stark unter Druck, dass sie zusammenbrach und eine Fehlgeburt erlitt. Johanna wurde depressiv und verlor sich in einem Dämmer aus Beruhigungsmitteln und Alkohol. Ihr altes Haus mit dem riesigen Garten begann im Chaos zu versinken. Batori kam ihnen zu Hilfe und beauftragte Lorenz von Rippel, ihre Finanzen zu regeln. Rippel stellte Zahlungsunfähigkeit fest.

„Wir sind dann nach Kreuzberg gezogen“, sagte Milli, „und anfangs lief es auch ganz gut. Meine Mutter fand Arbeit. Und in der Kreuzberger Schule kannte niemand meine Vorgeschichte. Keine da-geht-die-Tochter-des-Verbrechers-Blicke mehr. Mann, was war ich da froh.“

Als sie endete, war es still im Raum.

In Bens Gesicht arbeitete es, und Chong sah sie mitfühlend an.

„Das ist ja schrecklich“, sagte Lisa aufrichtig betroffen. „Warum seid ihr nicht schon eher nach Koppelitz gezogen?“

Milli seufzte. „Batori wollte das auch, aber meine Mutter wollte beweisen, dass wir es allein schaffen können. Und dann ging der Stress von vorn los, diesmal anonym. Niemand wusste, wer hinter den Belästigungen und Bedrohungen steckte. Meine Mutter hatte sich nie richtig erholen können und bekam wieder Depressionen und Halluzinationen – bis hin zu ihrem Selbstmordversuch.“

Das war vor einem halben Jahr. Sie war nach Hause gekommen und hatte ihre Mutter halb tot aufgefunden. Batori hatte mehrere Spezialisten organisiert, die sich schließlich auf die Diagnose Schizophrenes Residuum geeinigt hatten. Das sei ernst aber behandelbar, hatten sie gesagt. Johanna könne gesund werden, brauche aber eine stationäre Therapie.

„Wie ihr seht, sind wir verspätet doch noch in Koppelitz gelandet“, beendete Milli ihren Bericht.

Ben, der die ganze Zeit mit seinen Fingern Klavier auf der Tischplatte gespielt hatte, sah Milli verlegen an und holte tief Luft. „Okay“, fing er an, „ich will nicht so tun, als wüsste ich nichts davon. Ich kenne die Geschichte von deinem Vater. Meine Mutter hat mir heute beim Frühstück noch mal eingeschärft, dass ich dich damit nicht belästigen soll. Kann ich dich trotzdem was fragen?“

„Ja, klar“, sagte sie ohne zu zögern, und war irgendwie erleichtert, dass er so offen darüber sprach.

„In den Zeitungen stand, dass dein Vater einen Satelliten gestohlen hat. Was ist aber wirklich geschehen? Meine Mutter behauptet nämlich steif und fest, dass das so nicht wahr sein kann.“

„Was genau passiert ist, weiß niemand so genau“, antwortete Milli stirnrunzelnd. „Ich weiß nur, dass er kein Dieb ist. Dummerweise ist aber die Maschine, an der er gebaut hat, doch irgendwie mit ihm verschwunden.“

Von manchen Zeitungsartikeln konnte Milli noch die Schlagzeilen auswendig:

RÄTSEL UM DEN VERSCHWUNDENEN Satelliten –

Mysterium bei Ziggedorn – Mitarbeiter unter Verdacht

INDUSTRIESPIONAGE ? –

Wissenschaftler verschwindet mit Satellit

GEHEIMES Ziggedorn PROJEKT –

Tom Pietsch entführt?

MILLIARDENSCHWERE INVESTITION VERSCHWINDET –

Erklärungsnotstand bei Ziggedorn

„Meine Mutter behauptet auch, dass noch ein anderer Wissenschaftler beteiligt war“, fuhr Ben fort. „Jemand aus den USA. Und mein Bruder sagt, dass das hundertpro ein Außerirdischer ist.“

„Du meinst Salim Quant aus Moskau oder London – oder beides“, sagte Milli. „Keine Ahnung, ob er außerirdisch ist. Er war ein Kollege und Freund von meinem Vater.“

Von Salim Quant war nur eine Visitenkarte übrig geblieben. Die Zeitungen sagten, dass Senta Seigut, Tom Pietschs Sekretärin, ihn eingelassen hatte, obwohl er keinen Termin hatte. Das hatte sie anfänglich auch unbeirrt zu Protokoll gegeben, aber während der langen Verhöre begann ihre Überzeugung zu bröckeln. Keines der vielen Überwachungsvideos zeigte auch nur die geringste Spur von ihm. Angeblich hatte sich ihr Vater gemeinsam mit Salim Quant ins Labor zurückgezogen, und keiner von beiden war jemals wieder herausgekommen. Der Chef der internen Sicherheit stand vor einem Rätsel. Nicht besser erging es der externen Überwachung, einer paramilitärischen Truppe aus IT-Spezialisten, die ein geheimes elektronisches Sicherheitssystem betrieben. Das hatte zu wilden Spekulationen und Verschwörungsgeschichten in den Medien und Netzwerken geführt und die unterschiedlichen Geheimdienste angestachelt.

Milli spürte einen Kloß im Hals. Sie zog ein Foto aus ihrem Portemonnaie. Sie hatte es aus Science ausgeschnitten und Folie drüber geklebt. Es zeigte ihren Vater mit wirrem Haar in die Kamera grinsend. Bildunterschrift: German physicist Tom Piesche short listed for Nobel Price?

„Seht ihr“, sagte Milli verbittert und hielt das kleine Foto hoch, „noch nicht mal seinen Namen können die richtig schreiben.“

Ben stieß ein merkwürdiges Quieken aus, bei dem es sich vermutlich um ein noch rechtzeitig unterdrücktes Kichern handelte und erntete dafür einen missbilligenden Blick von Lisa.

„Fällt euch auf, dass wir alle indirekt was mit Ziggedorn zu tun haben“, sagte Chong beinahe feierlich. „Das hat vielleicht einen tieferen Sinn.“

„Quatsch“, unterbrach Lisa ihn forsch, und es schien, als wüsste sie genau, was Chong als Nächstes vorschlagen würde. „Wir können nichts tun. Ziggedorn ist beliebt in Koppelitz, und wir haben keine Macht.“

Milli wurde nachdenklich, ihr war klar geworden, dass sie gerade das erste Mal seit dem Verschwinden ihres Vaters jemandem die Geschichte erzählt hatte. Im Grunde völlig verrückt, sie kannte Lisa und Ben erst seit Stunden und mit Chong hatte sie auch noch nie darüber gesprochen.

„Ich glaube schon, dass ich – oder wir was tun können“, sagte sie vorsichtig und blickte von einem zum andern. „Ich meine: nur wenn sich jemand angesprochen fühlt. Vielleicht kriegen wir wirklich was raus. Meine Mutter ist an diesem ganzen Prozess verrückt – na ja, krank geworden. Und es betrifft ja auch andere Menschen.“

„Dem abgefeimten Wohltäter geht’s an den Kragen“, legte Chong begeistert los. „Das ist schon lange fällig.“

„Lisa blickte erschrocken. „Spinnst du? Was, wenn man uns erwischt?“

„Wir werden nicht erwischt“, schaltete Ben sich ein. „Wir bleiben unsichtbar. Im Übrigen kriegt man immer was raus, wenn man genau hinschaut.“ Er brach ab und schaute nachdenklich über den See, dann fuhr er grinsend fort: „Man kann das auch so sehen: Wir, die naiven Jugendlichen, das ist die perfekte Tarnung. Alle denken, wir hängen nur blöd rum, schreiben SMS, spielen auf ’m Handy, gehen shoppen, wichsen den ganzen Tag … nehmen Drogen. Niemand geht davon aus, dass wir irgendetwas gebacken kriegen. Wenn wir schlau vorgehen wird uns niemand verdächtigen.“

„Also hör mal! Sehe ich so aus, als würde ich den ganzen Tag onanieren“, sagte Lisa pikiert.

Eine Gruppe älterer Schüler betrat geräuschvoll das Café. Sie plapperten wild durcheinander und nahmen am Tisch neben ihnen Platz. Lisa winkte einem der Mädchen und ging zu ihnen an den Tisch.

„Die Polizei hat alles unter Kontrolle“, hörten sie es sagen. „Die haben sogar Leute verhaftet, auch von unserer Schule. Jetzt ist alles wieder einigermaßen ruhig, bis auf die Besoffenen, die bei Pommes Wuttke rumhängen.“

„Ihr hab’s ja gehört.“ Lisa schien richtig erleichtert, als sie wieder zurückkam. „Alles wieder friedlich, alles gut.“

Dann träum mal schön weiter, dachte Milli. In diesem netten Städtchen war was faul, und sie hatte längst den Entschluss gefasst, der Sache nachzugehen. „Ich muss los“, sagte sie und stand auf, „dann entscheiden wir morgen, wann wir unseren Rundgang um Ziggedorns Zaun machen. Ich bin dafür, dass wir das schnell durchziehen.“

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