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1 Der Zaun

Geführt von Lisa und Chong, erreichten sie den Gebäudekomplex von hinten. Nichts erinnerte hier an das berühmte Design am Haupteingang von Xin Xin Ba, dem postmodernen Neonkünstler aus Shanghai: ZIGGETRONICS – OURS IS THE FUTURE.

Hier sah auch die Umzäunung vollkommen harmlos aus. Den größeren Teil bildete eine zweieinhalb Meter hohe Backsteinmauer. Zwischen den roten Backsteinen waren gelbe und weiße eingelassen, die ein Bogenmuster bildeten, und die Mauerkrone war mit spitzen Metallzacken ausgestattet. Es gab Abschnitte, in denen die Mauer von dichten Reihen dicker Stahlstangen unterbrochen wurde. Sie waren dem Umfang nach der kleinere Teil der Absperrung, aber durch die Zwischenräume konnte man auf das innere Gelände sehen. Das Ganze musste noch vor kurzem eine Baustelle gewesen sein. Es gab Erdhaufen, Schaufeln und Schiebkarren, und überall lagen Steine und Schutt herum, und dazwischen hatte man ein paar große alte Bäume stehen lassen.

„Ich bin eigentlich nie hier“, sagte Lisa, „und der Pfad war früher auch noch nicht so breit.“

„Das verstehe ich nicht“, murmelte Milli und strich mit der Hand über die Steine. „Diese Mauer ist alt, oder neu auf alt gemacht, genauso wie der protzige Schornstein da hinten.“

„Meine Mutter sagt, dass der alte Schornstein zur Hälfte zerstört war“, ergriff Ben das Wort, „und dass Ziggedorn ihn mit den alten Steinen wieder aufgebaut hat … und in der Obeliskenspitze ist angeblich echtes Gold drin.“

Milli sah zum Schornstein auf. „Wozu macht er so was? Für seine Produktion braucht er doch keinen alten Schornstein.“

„So ’ne Art Hobby. Alte Geldsäcke stehen auf exzentrische Hobbys“, sagte Chong und führte sie zu einem kurzen Abschnitt Stahlzaun, wo sie durchschauen konnten. Das sei früher einmal eine Ziegelei gewesen, erklärte er. Die Reste standen unter Denkmalschutz. Und von den alten Ziegelsteinen hatte es noch genug gegeben, um daraus Anlagen im alten Stil zu bauen. Mit ihren verzierten Bogenfenstern sahen sie geheimnisvoll und märchenhaft aus, fand Milli, viel spannender als die langweiligen Betonbauten. Direkt daneben, verbunden durch einen Torbau, stand ein komplett erhaltenes altes Gebäude.

„Diese alten Fabrikbauten waren tief und weitläufig unterkellert“, schaltete Ben sich ein, „und Ziggedorn hat die Keller auch dort nicht zuschütten lassen, wo die Gebäude nicht mehr stehen. Mit anderen Worten, unter der unbebauten Fläche müssen jede Menge Keller sein.“ Ben zwängte seinen Arm durch die Stäbe und zeigte auf eine Fläche mit Schutt und Ytongsteinen. „Da drunter müssten sie sein. Die Kellerräume waren im Krieg Luftschutzbunker. Sie sind teilweise vier bis fünf Meter hoch und die Decken sind massiv. Die Keller werden nirgends mehr amtlich erwähnt, sie sind sozusagen in Vergessenheit geraten, und vom Hauptgebäude aus gibt es keinen offiziellen Zugang zu ihnen.“

„Geheime Keller? Für einen Koppelitzer Neubürger weißt du aber gut Bescheid“, sagte Milli erstaunt. „Weißt du das auch von deiner Mutter?“

Ben zog die Schultern ein und grinste. „So was erzählt sie mir nicht direkt. Ich kriege eben viel mit. Auch Sachen, die nicht unbedingt für meine Ohren bestimmt sind. So genau weiß ich aber auch nicht, ob die Keller wirklich geheim sind.“

Milli warf einen Blick durch die Stahlstäbe und taxierte das Gelände. „Wir müssen rauskriegen, was Ziggedorn in seinen Kellern treibt“, sagte sie. „Wir müssen da irgendwie reinkommen.“

Lisa, die sich bisher etwas scheu im Hintergrund aufgehalten hatte, wandte unerwartet heftig ein: „Wir können da nicht einfach reinspazieren, schon gar nicht von hier hinten.“

„Wenn’s dunkel ist, schon“, sagte Milli. Sie blickte um sich. „Wir finden schon noch was. Wenn man sucht, findet man immer was.“

„Da hat sie allerdings recht“, stimmte Ben entschlossen zu.

Chong war langsam weitergegangen. Als er um die nächste Ecke verschwand, trotteten sie hinterher. Sie fanden ihn vor einem Tor mit einem gewaltigen, aus Eisen geschmiedeten Gitter voller Schnörkel und Symbole. Es sah aus, als stammte es aus einer Zeit, als es noch Ritter, Burgen und Verliese gab. Auf beiden Flügeln formten die gewundenen schmiedeeisernen Stäbe ein Pentagramm in einem Kreis. Das Tor schien unüberwindbar – oben hatte es messerscharfe Spitzen.

„Hier kommen wir nicht rüber“, verkündete Chong fachkundig. „Und nachts geht am Tor immer das Licht an. Aber über die Mauer geht’s. Für die Metallzacken nehmen wir einfach eine dichte Gummimatte – so was haben wir im Übungsraum. Ansonsten brauchen wir nur noch eine kleine Aluleiter.“

Milli stellte sich ans Tor und staunte. Drei alte Eichen überschatteten das Gelände. Verrostende Gerätschaften, mit Efeu überwuchert, waren hie und da verstreut. Vor dem alten Ziegelgebäude standen Skulpturen bizarrer Fabelwesen und gewaltige, seltsam geformte Behälter aus Stein. Ein Ort der Vergangenheit. Außer den Ytongsteinen, dem Bauschutt, Erdhaufen und einem notdürftig errichteten Schuppen gehörte nichts der modernen Welt an. Mit den üblichen sterilen Hightech-Laboratorien, Betonbauten und Glasfassaden hatte das nichts zu tun.

„Diese Steinfiguren kommen von Ziggedorns Frau“, erklärte Lisa, die neben Milli getreten war. „Im Hof ihrer Kunstgalerie gab’s mal eine Ausstellung von Elfen und Nixen und anderen Naturwesen … ein paar stehen immer noch dort.“

Milli nahm noch einmal das Tor in Augenschein. Es war ausgesprochen prächtig und durch die messerscharfen Verzierungen zugleich auch gefährlich. Jemand, der sich ein so großartiges Tor anschafft, will es auch vorführen und benutzen. Warum lag es so versteckt nach hinten raus? „Was ist das für ein Typ – dieser Ziggedorn?“, sagte sie irritiert. „Vorn Beton und Neonkunst und dahinter Fantasia mit Trollen und Elfen aus Stein. Ich verstehe das nicht.“

„Vielleicht ist er gar nicht so schrecklich, wie wir von ihm denken“, sagte Lisa und kicherte nervös.

Chong lachte rau auf. „Schwachsinn. Er gehört garantiert einer bizarren Geheimgesellschaft an.“ Er betrachtete die Ornamente am Eisentor. „So reiche Knacker stehen auf düstere Geheimnisse, dumpfe Hierarchien, große Schornsteine und dröge Macht – sonst kriegen sie keinen mehr hoch.“

Lisa ließ abrupt das Tor los, als wäre es elektrisch geladen und trat zwei Schritte zurück. „Nicht dahin gucken!“, sagte sie erschrocken und sprang hinter die Mauer. „Oben in der Ecke ist eine Kamera, und auf der anderen Seite noch eine.“

Alle guckten, wie auf Kommando, wohin sie nicht gucken sollten. An den Ecken des Backsteingebäudes waren tatsächlich Kameras.

Chong lachte schallend. Er drehte sich im Kreis, hüpfte ein paarmal auf und ab und winkte den Kameras zu. „Blödsinn! Hier kann jeder rumlaufen, stehen oder gucken. Der Trampelpfad auf der Wiese ist nicht Ziggedorns Privatbesitz.“

„Und Schäferhunde, wie die Leute behaupten, gibt's hier auch nicht“, sagte Milli und zog eine Grimasse für die Kamera.

„Die werden erst nachts raus gelassen“, kam es leise von Lisa.

Ben hielt sein Gesicht ans Tor gepresst und versuchte offensichtlich, aus diesem Winkel heraus etwas auf dem hinteren Fabrikgelände zu erkennen. „Das erstaunliche dabei ist“, sagte er plötzlich, „dass Ziggedorn hier noch die alten schwarz-weiß Kameras installiert hat. Es sind übrigens drei.“ Er zog ein aufklappbares Fernglas aus der Jackentasche. „Und was noch merkwürdiger ist: zwei sind bloß Attrappen.“ Er drehte sich um und blickte in erstaunte Gesichter. „Im Ernst – läppische Kameraattrappen.“

„Mann, Alter, hast du die komplette boy scouts Ausrüstung dabei?“, brummte Chong und musterte skeptisch Bens Fernglas.

Lisa und Milli traten nun auch ans Tor.

„Das sollen bloß Attrappen sein?“, sagte Milli.

„Hundert pro!“ Ben deutete auf die Kameras und reichte ihr das Fernglas. „Schau mal genau hin: Selbst wenn sie echt wären, würden sie den Bereich am Tor bis zum Ytonghaufen nicht erfassen.“

Milli reichte das Glas an Chong weiter.

„Interessant. Die sind echt nur zur Abschreckung“, sagte Chong. „So eine Chance sollten wir unbedingt nutzen, und zwar schnell. Ziggedorn ist ein Kontrollfreak. Vielleicht installiert er bald neue.“

Lisas Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Aber wozu abschrecken? Ziggedorn fühlt sich in Koppelitz doch sicher, das weiß jeder. Außer den Demos passiert hier ja auch nichts –“

„Jedenfalls will er nicht, dass Sachen, die hier stattfinden, aufgezeichnet werden“, schnitt Ben ihr kurzerhand das Wort ab. „Ob nun vorübergehend oder dauerhaft … wer weiß?“

Sie wurden still und sahen sich an.

„Du denkst, hier passiert was Illegales?“

„Klar! Dinge, die nicht gefilmt werden sollen.“

„Na bestens!“, sagte Milli und stieß einen leisen Pfiff aus. „Dann sind wir hier ja goldrichtig. Die schaffen nachts unauffällig Sachen raus. Giftiger Müll, geheime Technologie, genmanipuliertes Material, verwirrte Versuchspersonen, Reptilienwesen oder entstellte Tierleichen. Hier finden heimliche Treffen mit Opferritualen statt.“

Lisas Augen weiteten sich vor Entsetzen.

„Eine machtgeile geheime Altmännersekte“, spottete Chong und trommelte sich wie ein Gorilla auf die Brust.

Plötzlich gab es ein lautes, rasselndes Geräusch. Lisa sprang wie der Blitz hinter die Mauer neben dem Tor, Ben hinterher. Milli und Chong gingen auf der anderen Seite in Deckung. Unversehens waren sie in eine günstige Position geraten, um auf der Lauer zu liegen und zu beobachten.

Parallel zu einem der Hauptgebäude stand eine Reihe von Garagen, alle einfach, aber sorgfältig gebaut. Die Seitenwände bestanden aus unverputzten roten und gelben Backsteinen. Sie fügten sich nahtlos zwischen die alten Gebäude ein. Bei der ersten Garage tat sich was. Jemand war damit beschäftigt, von innen das Tor zu öffnen.

Ein junger Mann mit fülligem schwarzem Haar kam heraus und steckte sich eine Zigarette an. Er trug einen schwarzen Kapuzenpulli mit der Aufschrift: Kein Bock auf Nazis.

„Was stehen Sie da herum“, kam eine keifende Stimme aus dem Inneren. „Packen Sie mit an.“

Kurz darauf hastete ein dürrer, grauhaariger Mann mit Ziegenbärtchen und eckiger Hornbrille ins Freie. Ein weißer Kittel schlackerte um seine Knie. So schnell wie er draußen war, flitzte er auch wieder rein und zerrte, offenbar ohne Erfolg, an einem schwer beladenen Hubwagen.

„Erst meine Raucherpause“, sagte der Schwarzhaarige.

„Sie scheinen sich in dieser albernen Verkleidung ja richtig wohl zu fühlen“, krächzte die Gestalt im weißen Kittel. „Steht Ihnen … passt zu dieser Rambo-Bewegung.“

Der Kapuzenmann steckte die Zigarette in den Mund und entriss dem Grauhaarigen den Griff des Hubwagens. „Sie meinen die Anarchistische Bewegung“, knurrte er.

„Ach – was geht mich das an. Passen Sie auf, dass es hier weitergeht. Sie werden dafür mehr als großzügig bezahlt.“

Gebannt folgten Millis Blicke dem Dunkelhaarigen im Anarcho-Outfit, der sich am Hubwagen zu schaffen machte, ohne viel auf das Gezeter des Grauhaarigen zu geben.

„Chong, ich weiß, woher ich den kenne“, flüsterte sie aufgeregt. „Das ist der Typ, der am Morgen vor der Demo den Reifen vom Lieferwagen angepinkelt hat.“

Chong nickte grimmig und beobachtete die beiden Männer umso aufmerksamer.

„Pst – Pst.“ Ben winkte mit der Hand und hielt sein ausgeklapptes Fernglas in die Höhe. „Ich komm zu euch rüber.“

„Nicht jetzt!“, zischte Chong und deutete in die Richtung der beiden Männer. Ein silberfarbener Lieferwagen kam langsam den Plattenweg entlanggefahren und hielt vor der offenen Garage. Sie trauten ihren Augen nicht. Er sah genauso aus wie das Auto auf der Demo. Der Fahrer lehnte sich kurz aus dem Fenster und wechselte ein paar Worte mit dem Grauhaarigen. Dann fuhr er ein Stück weiter und rangierte das Heck direkt vor die Garagentür.

„Das reicht“, sagte der Grauhaarige. „Ein- und Ausladen tun wir hier draußen.“

Ein zweiter Mann in weißem Kittel kam aus der Garage, ging zum Auto und öffnete die Seitentür.

„Die Interferenzen konnte ich noch nicht beheben“, sagte er, offenbar frustriert.

Der Grauhaarige zog ein kleines Tablet aus der Kitteltasche und fing an, darauf herumzutippen. Die zwei fachsimpelten leise vor sich hin, lasen Daten vom Display ab und nickten einstimmig mit den Köpfen.

„Am 1. Mai nehmen wir die stärkere Antenne“, sagte der Grauhaarige laut. „Schaffst du den Einbau allein?“

„Selbstverständlich.“

„Du weißt, bis Oktober brauchen wir die gesamten Daten.“

„Wie könnte ich das vergessen, Chef“, antwortete der andere und lächelte so gequält, dass Milli beinahe schon Mitleid empfand.

Ben nahm einen Anlauf und spurtete auf Milli und Chongs Seite. Triumphierend hielt er Chong das Fernglas hin. „Guck dir das mal an, in dem Wagen ist Elektronik zuhauf.“

„Die planen am 1. Mai tatsächlich was. Hast du gehört, sie wollen in diesen Van eine neue Antenne einbauen“, sagte Chong, während er an den Linsen des Fernglases drehte.

Ben sah ihn bestürzt an. „Was! Du denkst, die strahlen nicht mit den großen Antennen, sondern nur mit diesem popeligen Lieferwagen?“

„Sieht so aus, diese Karre hat’s anscheinend in sich.“

Als grade keiner der Männer zu sehen war, kam auch Lisa auf ihre Seite geflitzt.

„Ich dachte schon, die fahren jetzt raus“, keuchte sie. „Hier neben dem Trampelpfad sind jede Menge Reifenspuren, habt ihr die schon gesehen?“

„Mich beschäftigt viel mehr, wo all diese Typen herkommen“, meinte Chong. „Die haben doch sicher nicht die ganze Zeit in der leeren Garage gesessen und Karten gespielt. Und nun sind sie verschwunden, wie vom Garagenboden verschluckt.“

„Das kann man von der anderen Seite aus besser erkennen“, sagte Lisa. „Als das Licht anging, habe ich gesehen, dass es ganz am Ende des Raumes irgendwie runter in den Keller geht.“

Ben hatte nur noch Augen für den Van. So ein Hightech-Ding für sich selbst, das war, was er wirklich von der Welt wollte.

„Sind da auch Abhörgeräte drin?“, fragte Lisa, die neben Ben hockte und seine Faszination spürte.

„Na klar“, antwortete er, „und wahrscheinlich auch noch richtig ausgefallene Technik. Die bestrahlen Leute mit elektromagnetischen Wellen unterschiedlicher Frequenz, zum Beispiel Mikrowellen. Das kann Kopfweh und Erbrechen auslösen. Oder sie senden bestimmte Töne, die wir nicht hören können. Menschen werden davon panisch, kriegen Durchfall oder ihnen wird übel. Das sind Waffen, musst du wissen. Die töten zwar nicht, aber sie machen die Opfer hilflos und krank.“

Lisa sah ihn an, als hätte er sie geschlagen. „Du sagst das so, als ob du das gut findest.“

„Natürlich nicht. Ich würde mir die Karre aber verdammt gern mal von innen angucken.“

Wortlos rückte sie ein Stück von ihm ab und wandte sich Chong und Milli zu. „Den grauhaarigen Mann im weißen Kittel kenne ich“, sagte sie kleinlaut. „Das ist Dr. Grabbauer, ein Kollege von meinem Vater. Mein Vater behauptet, dass Grabbauer bei der Stasi war und deshalb von Ziggedorn abhängig ist.“

Ben packte Lisa mit plötzlicher Begeisterung am Arm. „Komm ich über deinen Vater an den ran?“

Sie zog ihren Arm zurück. „Spinnst du! Die arbeiten in unterschiedlichen Abteilungen und können sich nicht ausstehen. Das sind alte verbitterte politische Feindschaften seit der untergegangenen DDR.“

Bens Gesicht nahm einen seltsam verbissenen Ausdruck an. „Diese Penner haben mich zum Kotzen gebracht, das zahl ich denen heim. Ich schau mir diesen Van von innen an, und niemand wird mich daran hindern, worauf ihr euch verlassen könnt.“

Milli starrte ihn sprachlos an. So hatte sie Ben noch nicht erlebt. Sie war beinahe bereit zu glauben, dass er seine Ankündigung wahrmachen könnte.

„Kannst du haben“, sagte Chong und lachte grimmig. „Der 1. Mai ist bald, wir haben also nicht mehr viel Zeit. Wenn sie die Leute auf der Demo bestrahlen wollen, müssen sie mit dem Van irgendwo in der unmittelbaren Nähe aufkreuzen. Ich schlage vor, wir verkleiden uns auch als Autonome und dreschen mit Vorschlaghämmern und Spitzhacken auf das Ding ein. Und wenn sie fliehen, guckst du dir die Karre an.“

„Auf keinen Fall!“, rief Lisa entsetzt. „Das können wir den echten Autonomen nicht antun … was denkst du bloß? Die Polizei wird über sie herfallen.“

„Und wenn wir uns anders verkleiden?“, äußerte Milli als schwache Alternative.

Ben hatte sich ausgeklinkt. Mit offenem Mund und brennendem Blick starrte er durch die Gitterstäbe ins Nirgendwo und murmelte: „Alles Stuss. Wenn wir auf dieses Auto losgehen, wissen sie, dass wir Bescheid wissen. Das darf nicht geschehen, das bedeutet richtig Stress.“ Einen Moment blieb er reglos stehen, um dann auf und ab zu gehen und sich intensiv am Kopf zu kratzen, als würde diese Behandlung mehr Ideen produzieren. „Wir lassen uns was einfallen. Stören oder überlagern kann man diese Art Strahlung nicht, das ist ja keine Radiosendung. Aber ... was wäre mit einer Pulswaffe?“

„Ich kenne nur Pulswärmer“, kicherte Lisa.

Ben starrte sie einige Sekunden an. „Genau das ist es. Wir bauen einen Mikrowellen-Impulsgenerator. Der zerstört ihre Elektronik – ihre Chips. Ihre Computer gehen kaputt. Egal womit sie strahlen … kaputtoletti!“

Milli erinnerte sich, sie hatten das mal in Physik durchgespielt, und zwar, wie man im Kriegsfall das elektronische Steuerungssystem eines feindlichen Kraftwerks entweder über Hackerangriffe oder mit gepulster Mikrowelle sauber lahmlegen konnte. „Du hast vermutlich Recht“, sagte sie. „Mikrowellen würden ihre Elektronik verschmoren und niemand würde was mitkriegen oder Schaden nehmen.“

Lisa räusperte sich. „Macht die Polizei das nicht auch bei Verfolgungsjagden? Sie feuern das Ding ab, und das Auto bleibt stehen? Zumindest im Film.“

„Die legen mit einem Mikrowellenstrahl bloß die elektronische Benzineinspritzung lahm“, sagte Ben, „natürlich bleibt das Auto dann stehen.“

Chong wirkte nicht überzeugt. „Klassiker ohne Motorelektronik fahren aber weiter. Übrigens tut ihr so, als könne jeder so was bauen.“

„Hast du eine bessere Idee? Wir müssen nur einen einzigen Puls von genügender Stärke produzieren und die können ihren Kram ein-packen.“

„Ausgezeichnet. Und du kannst so was bauen“, spottete Chong und warf ein kleines Steinchen in Bens Richtung.

Milli reckte den Kopf misstrauisch vor. „Jetzt ehrlich … in so kurzer Zeit?“

„Wieso? Im Wesentlichen brauchen wir das Teil aus einem Mikrowellenherd, das die Mikrowellen produziert. Ich hab einen alten zum Ausschlachten, und der Rest ist einfach. Ich hab auch so was wie eine Bastelanleitung.“

„Bastelanleitung! Shit. Mir schwante doch gleich so was“, jaulte Chong, während er ein weiteres Steinchen warf.

Aber Lisa ging offenbar davon aus, dass Ben das hinkriegen konnte. „Und wenn Menschen dabei verletzt werden?“, fragte sie ein wenig nervös.

„Niemand wird verletzt“, antwortete Ben – glücklich darüber, dass ihm jemand glaubte. „Dazu bräuchte man eine riesige Stromstärke, und das auch noch über viel längere Zeit. Das geht gar nicht.“

Lisa machte ein Gesicht, als ob der GAU schon eingetreten wäre. „Und da bist du dir ganz sicher?“

„Klar! Wir überlasten das Mikrowellending, das erzeugt den elektromagnetischen Puls.“ Er peilte pantomimisch den Lieferwagen an. „Ein Schuss reicht, die Leute drum herum kriegen es gar nicht mit.“

„Vielleicht hilft ja auch anstarren“, murmelte Chong beiseite.

Eine Sekunde später erwischte ihn ein Steinchen am Arm, das von Ben kam.

Obwohl Milli die Idee einer selbstgebauten Waffe eher fantastisch fand, war sie inzwischen auch geneigt, Bens Vorschlag ernst zu nehmen. „Und wenn ihr Van gegen unseren EM-Puls abgeschirmt ist?“, fragte sie ihn.

Ben überlegte einen Moment, dann lächelte er schlau und sagte: „Die Karosserie selbst bildet eine Art Abschirmung, was ihnen normal sicher reicht, und die nutzt nichts gegen den Puls. Außerdem rechnen sie mit keiner Gefahr, warum sollten sie auch?“

Milli konnte mit seiner Erklärung nichts anfangen und fragte sich, ob er es ernst meinte oder nur spekulierte. „Eine Sache hast du vielleicht nicht bedacht“, sagte sie vorsichtig, „was machen wir, wenn das Equipment der Bullen von unserem erzeugten Puls ausfällt?“

„Soll es doch“, antwortete Chong mit einem Anflug von Schadenfreude. „Das nennt man dann Kollateralschaden.“

Ben lachte kurz, dann sagte er sachlich: „Die beschießen wir ja nicht. Soviel Energie kann ein selbstgebauter Pulsgenerator gar nicht erzeugen.“

„Kommt vom Tor weg!“, keuchte Lisa plötzlich.

Auf dem Firmen-Gelände kam ein weiterer Lieferwagen langsam den Plattenweg entlanggefahren, er war weiß und hielt neben dem silbernen. Der Fahrer blieb sitzen und telefonierte. Aus seinem Fenster plärrte Musik. Schon nach wenigen Sekunden kam Grabbauer aus der Garage geschossen und rüttelte an der Tür zum Laderaum.

Der Fahrer stieg aus und drängte Grabbauer wortlos zur Seite. Mit einem Kunstgriff öffnete er die Tür und fing an, mehrere Kartons auszuladen, die er grob auf den Boden stellte.

„Nicht hier. Vorsicht!“ Grabbauer hopste umher wie ein Irrwisch und befingerte einige von den kleineren Verpackungen. „Ich hole den Wagen, und passen Sie auf. Keine Pannen mehr … im Oktober darf nichts schief gehen.“

„Habt ihr gehört?“, sagte Lisa. „Vorhin hat er auch schon mal von Oktober gesprochen. Da scheint etwas ganz Wichtiges zu passieren.“

Ben lugte um die Ecke und zückte sein Klappfernglas. Die Kartons hatten englische und chinesische Beschriftung. „Semiconductor … das ist Halbleitertechnik“, murmelte Ben. „Halbleiterelemente braucht man für alles Mögliche, auch für Strahlenwaffen.“

Der Fahrer des silbernen Lieferwagens kam mit einem zweiten Hubwagen aus der Garage und half beim Ausladen. Grabbauer hatte inzwischen auf einem Klappstuhl neben der Garagentür Platz genommen und telefonierte, während er den Männern beim Ausladen und Stapeln der Kartons zusah.

Milli hatte Ben beobachtet und fragte sich, was er nun schon wieder ausheckte. Er zappelte mit dem rechten Fuß und drehte Stöckchen zwischen den Fingern. Aber sie musste nicht lange warten, ohne Umschweife verkündete er: „Übermorgen Nacht brechen wir in die Garage ein. Ich muss den Van untersuchen und den Kellereingang auch.“

Chong sah ihn verblüfft an. „Übermorgen?“, wiederholte er langsam, und nachdem er eine Weile überlegt hatte, sagte er: „Okay, ich bin dabei.“

Lisa musste mal und trat von einem Bein aufs andere. Sie blieb wie angewurzelt stehen und blickte ratlos zu Milli, die nur sprachlos die Achseln hob.

„Das geht nicht“, sagte Lisa schließlich. „Wie sollen wir das organisieren?“

„Da gibt’s nicht viel zu organisieren“, erwiderte Chong. „Wir brauchen eine Leiter und eine Matte für die Mauer. Für die zwei Schäferhunde hab ich mir schon was überlegt. Und das Schloss der Garage ist nicht so kompliziert –“, er brach ab und sah Ben an.

„– kann man knacken“, erklärte Ben ohne zu zögern. „Und auch der Lieferwagen ist kein Problem. Ich kenn mich mit so was aus. Die Kellertür müssen wir uns halt mal ansehen.“

„Gut. Dann ist ja alles geregelt“, sagte Chong und blickte optimistisch in die Runde.

„Und Werkzeug?“

„Hab ich“, sagte Ben.

Milli fühlte sich überrumpelt. Wo holten die Jungs so schnell ihre Ideen her? Mit wachsender Unruhe hatte sie beobachtet, wie das Selbstbewusstsein gewachsen war, das Ben und Chong an den Tag legten, und ihr wurde ganz flau im Magen. So eine Sache war ernst und gefährlich, mit Snackklauen hatte das nichts mehr gemein. Sie benötigten sorgfältige Planung. Sie waren zu viert, aber ob das ein Vorteil war, war sie sich nicht sicher, denn sie kannten sich noch nicht lange. Verstohlen musterte sie ihre Freunde: Lisa, Chong und Ben, sie selbst eingeschlossen, sie wirkten alle so schrecklich nett. Schlimmer noch, sie waren alle stink normal, kein bisschen kriminell; sie sahen aus wie blutige Anfänger. Unvorbereitet in bewachtes Gelände einsteigen, Wachhunde außer Gefecht setzen, dann die Garage aufbrechen, das Auto knacken und vielleicht auch noch in unterirdische geheime Labore vorrücken? Der bloße Gedanke daran war schon absurd.

„Wir machen das nicht“, sagte entschlossen. „Wir verschieben das Ganze und überlegen uns einen guten Plan.“

Chong lachte und ging langsam auf sie zu. „Ach komm, Milli, mach nicht den Fehler einer Stimmung nachzugeben. Vorübergehender Mangel an Motivation, mehr ist das nicht. Ich weiß nämlich, dass wir das können.“

Dann sah er Lisa an: „Und wie sieht’s mit dir aus?“

„Oh, Chong, ich weiß nicht. Was, wenn wir geschnappt werden?“

„Solche Gedanken sind kontraproduktiv“, sagte er schroff. „Im Übrigen werden sie uns nicht umbringen, wenn sie uns kriegen.“

„Dieser Grabbauer ist ein gemeiner Kerl“, wandte Lisa ein.

„Chong hat recht“, sagte Ben. „Wenn sie uns schnappen, benachrichtigen sie unsere Eltern. Es gibt eine Anzeige, Strafpredigten und eine blödsinnige Strafe. Den Müll von der Wiese sammeln, Sozialstunden im Pflegeheim, oder so. Ein paar Leute werden sich ungeheuer aufregen, und wir werden einsortiert und abgehakt unter gelang-weilte und randalierende Teenies.“

„Aber nur, wenn man uns kriegt“, wischte Chong alle Bedenken beiseite. Neugierig sah er Milli an, als fragte er sich, ob sie kneifen würde. Sein Blick war reine Provokation.

Milli ärgerte sich und schlug ihre Bedenken in den Wind. „Na gut. Dann machen wir das eben.“

„Okay, abgemacht, übermorgen Nacht.“ Ben hatte es plötzlich eilig, zu verschwinden, blieb dann aber noch einmal stehen und fragte: „Was genau machen wir mit den Hunden?“

„Das erledige ich.“ Chong schob das Kinn nach vorn und sah ihn an. „Aber du musst mir ein Medikament von deinem Vater besorgen.“

„Was!?“

„Flummis, du weißt schon. Wir tun ihnen ein bisschen davon ins Hackfleisch und schon sind die Köter friedlich wie Karnickel.“

„Wie stellst du dir das vor?“, krächzte Ben. „Die Praxis ist gerade neu eröffnet. Ich hab keine Ahnung, wo was ist. Flummis, was soll das eigentlich sein?“

„Er meint Rohypnol“, knirschte Lisa. „Der Wirkstoff heißt Flunitrazepam. Allerdings kriegt man das eher unter der Hand, bei so Leuten wie Philip Adams älteren Bruder.“

„Dafür ist die Zeit zu knapp, und mit diesem Typen will ich nix zu tun haben“, sagte Chong und legte seine Hand auf Bens Schulter. „Du kriegst das hin. Such einfach unter Betäubungsmitteln, und wenn’s nicht klappt, brechen wir in eine Apotheke ein.“

Ben starrte ihn verblüfft an, und Lisa, die jetzt endgültig genug hatte, versetzte Chong einen Stoß vor die Brust.

„Mal schnell irgendwo einbrechen? Kein Problem – total easy! Und auf ’m Hinweg überfallen wir noch kurz ’ne kleine schnuckelige Bank, nicht wahr!“

Chong grunzte.

„Sie hat recht“, sagte Milli. „Wie bist du denn drauf? Bonny & Clyde auf dem Lande, oder so?“

Chong machte ein paar Schritte rückwärts und hob beschwichtigend die Hände. „Kein Stress. Überlegt mal: Wir haben nichts zu verlieren ... absolut nichts. Wir können nur der Wahrheit näher kommen.“ Er machte eine Pause und sah die Mädchen abwechselnd an. „Versteht ihr das nicht? Die Wahrheit! Das ist unsere Chance.“

Stille trat ein. Lisa suchte mit den Augen den Himmel ab, als würde sie dort eine Antwort finden, und Milli fragte sich, wie es Chong immer schaffte, so fürchterlich überzeugend zu sein. Vielleicht hatte er es einfach nur drauf, anderen seinen Willen aufzuzwängen.

„Nur Mut ihr zwei“, drang Chongs Stimme in ihre Gedanken. „Wir kriegen das hin. Ich weißt das, und ich irre mich nie.“

Im Osten ging langsam der Mond auf. Er sah aus wie eine riesige Orange über der gezackten Silhouette des Waldes, nur nicht ganz so rund. Der rote Streifen, den die Sonne im Westen hinterlassen hatte, war schon ganz schmal geworden, und ein dunkles Blaugrau rückte langsam vor, um ihn endgültig auszulöschen.

„Ihr seid echt in Ordnung“, sagte Ben leise zu den Mädchen. „Ich find’s gut, dass ihr mitmacht … ich meine, dass wir Sachen zusammen machen.“

Die aufziehende Dämmerung verdunkelte die Konturen, und niemand bemerkte die Röte in seinem Gesicht.

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