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1 Der Umzug

Manchmal fragte sich Milli, wie alles gekommen wäre, hätte ihr Vater keine Satelliten gebaut. Dann wäre er vielleicht noch da, und ihre Mutter wäre nicht krank geworden.

Dann hätten Lisa, Ben und Chong keine Rolle in ihrem Leben gespielt, und Batori und Emma wären nicht ihre Ersatzfamilie geworden. Echte Waffen hätte sie nicht im Traum angefasst, und das Geheimnis um Eliza wäre nie gelüftet worden. Und hätte ihr jemand von der Sondereinsatzgruppe Affenterror erzählt, hätte sie es für einen schlechten Witz gehalten.

Batori hatte alles organisiert, den Möbelwagen, die Klinik für Johanna, und die neue Schule. Sie mussten nur noch ihre Sachen einpacken und dann ging es endgültig hinaus aufs Land.

Milli stand ratlos vor ihrem offenen Kleiderschrank und wälzte schwerwiegende Gedanken: Konnte man sich auf dem Land so anziehen wie in Berlin?

„Was ist los?“, fragte Johanna, die plötzlich im Türrahmen stand und offenbar ihre Fortschritte inspizierte.

„Ich kann in so einem Kaff doch nicht rumlaufen wie hier“, sagte Milli lustlos.

Johanna sah ihre Tochter einen Augenblick lang unbewegt an und produzierte ihr übliches vages Lächeln. „Aber Liebes, Koppelitz ist kein Kaff und es ist nur hundert Kilometer von Berlin entfernt. Die Menschen dort sind auch nicht anders als bei uns.“

Sie hat keine Ahnung, dachte Milli und starrte wieder den Inhalt ihres Schrankes an.

Es klingelte an der Haustür und Johanna ging aufmachen. Das musste Lorenz von Rippel sein, der große Kung Fu- und Karate-Kämpfer. Milli seufzte, schnappte sich einen Stapel Hosen und warf ihn unsortiert in einen offenen Karton. Rippel war ihr unheimlich; er bewegte sich wie eine Raubkatze und tauchte beständig an Orten auf, an denen man ihn nicht vermutete, wie eine Art Geist, der durch Mauern und Wände glitt und dann peng! – plötzlich vor einem stand.

„Guten Morgen, Emily“, sagte er kühl.

Milli sah kurz auf und nuschelte: „Morgen.“

Typisch Rippel: immer förmlich, und meistens trug er schwarz. Nicht nur seine Augen und Haare waren dunkel, sondern auch seine Vergangenheit. Wenn er sich umsah bewegte er weder Hals noch Kopf, sondern nur seine Pupillen, wie ein großes dunkles Insekt. Aber Milli musste mit ihm auskommen. Er war ein Mitarbeiter von Onkel Batori, zu dem sie heute umziehen sollte, in die Kleinstadt Koppelitz. Ein Schritt, der ihr nicht geheuer war.

Emma, die für Batori den Haushalt machte, hatte in den letzten zwei Wochen jeden Tag angerufen, hauptsächlich wegen Millis Zimmer. Es war groß und hell und mit Ausblick auf einen kleinen See. Die Decke war mit drei Stuck Engeln verziert, und vor den Fenstern hingen Vorhänge aus Chiffon mit bunten Wellenlinien drauf. Alles perfekt, aber das Haus war riesig und alt, die Dielen knarrten, und bei Wind und Wetter knackte das Gebälk.

Wenn man in Berlin geboren war, betrachtete man das Leben auf dem Land mit Skepsis, und außer Chong kannte Milli dort noch niemanden, zumindest nicht in ihrem Alter. Chong wohnte nur hundert Meter weiter auf demselben Grundstück, und eigentlich hieß er Alexander, aber weil er den koreanischen Nachnamen seiner Mutter passender fand, hatte er sich kurzerhand in Chong umbenannt.

„Aber wenn wir diese Wohnung behalten, kann ich doch viel mehr dalassen!“, rief Milli, während sie voller Verachtung die T-Shirts, Röcke und Hosen aus ihrer karierten Phase durchsah.

„Mach wie du meinst, und nimm genügend warme Pullover mit“, antwortete Johanna aus der Küche, „und vor allem feste Schuhe.“

Ach ja, feste Schuhe … wassertriefende öde Wiesen und glitschige Feldwege. Milli grauste es leise. Auf dem Land musste man auf alles gefasst sein. Aber ein paar Vorteile gab es auch. Die Villa Apollo, so hieß Batoris Haus, hatte einen Zugang zum See – sogar mit Bootssteg, wo man ungestört in der Sonne liegen konnte. Im Geiste sah Milli die überfüllten Berliner Freibäder und Parks mit der Bluetooth-Musikbeschallung aus allen Himmelsrichtungen. In Koppelitz gab es auch keine penetrant lärmenden Musiker mit Verstärker oder Megabassboxen vorm Haus. Es gab weder Grillgestank noch überlaufende Mülltonnen, und Hundescheiße fiel nicht weiter auf. Vor allem Fahrradfahren war stressfreier, man stand nicht ständig vor roten Ampeln oder musste auf Fußgänger und Autos achtgeben.

Milli zog ein grünbuntes T-Shirt-Kleid vom Bügel, hielt es sich vor die Brust und betrachtete sich im Spiegel. Es passte gut zu ihren blaugrün gesprenkelten Augen, und als die Vormittagssonne plötzlich schräg ins Zimmer fiel, schimmerten ihre hellen Locken ein bisschen rötlich. Sie warf das Kleid in den Karton und stupste sich die Haare zurecht. Eigentlich fand sie sich ganz okay – nicht zu dick, nicht zu dünn, und wenn ihre Haare noch ein bisschen wachsen würden, konnte sie sich schon bald einen richtigen Zopf flechten.

Ihre Gedanken wurden durch ein lautes Scheppern unterbrochen. In der Küche fand sie Johanna halb zusammengesunken und schluchzend. Rippel stand ratlos und bekümmert daneben.

„Das kann jetzt eine Weile dauern“, erklärte sie Rippel gleichmütig. Sie führte ihre Mutter zum Tisch im Esszimmer und setzte sie behutsam auf einen Stuhl.

Rippel blieb unsicher stehen, wie jemand auf unbekanntem Terrain.

„Sie kennen doch die Symptome einer Depression“, sagte Milli und nahm die Essenssachen in Augenschein, die zusammengewürfelt auf dem Tisch standen. „Das gibt sich auch wieder. Schmieren Sie ihr ein halbes Brötchen mit Ziegenkäse ohne Butter – nur mit Pesto und Rucola, das mag sie. Und wundern Sie sich nicht, wenn sie nichts isst. Hauptsache das Brötchen liegt fertig da, manchmal beißt sie doch rein. In einer Stunde können wir dann richtig frühstücken.“

„Ah ja … Und was sind das für Tabletten?“, fragte er zerstreut.

„Ein pflanzliches Beruhigungsmittel. Steht alles drauf. Ich mach dann mal bei mir im Zimmer weiter.“

Four on Level 4

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