Читать книгу Morbidias Spiegel - anna wittig - Страница 10

Elfien – Heimat der Elfen und Feen

Оглавление

Auf dem Weg nach Elfien ritten wir eine Zeit lang am Gestade des Rhine entlang. Dem Spiegelbild unseres Rheines vor langer Zeit. Das gegenüberliegende Ufer lag im Nebel verborgen. Morbidia verriet mir, dass dort die Übertrittspforte von Wendelstein lag, das sechste Tor. Vereinzelte Angler standen im Wasser warfen ihre Leinen aus oder zogen sie ein, um zu sehen, welcher Fang an der Schnur zappelte. Unsere Gewässer waren längst verseucht, die Fische ungenießbar, wenn man überhaupt noch welche fand.

Nach einer Weile kehrten wir dem Fluss den Rücken. Die Landschaft, die wir nun durchquerten war hell und grün. Weinberge wechselten sich ab mit blühenden Wiesen, Obstbäumen und lichten Birkenhainen. Winzige Feen, ich hielt sie erst für Schmetterlinge oder Libellen, tanzten um uns herum. „Sie sind den Elfen heilig“, erklärte uns Morbidia. „Sie können sich tatsächlich in Libellen verwandeln und stehen in enger Beziehung zu den Drachen. Also ärgert sie niemals. Sie sind Geschöpfe des Lichtes, der Weisheit und der Kraft. Sie können Träume deuten, die Wahrheit erkennen, Illusionen auflösen und manchmal die Schicksalswege ändern.“

Die Britannier nannten die Libellen „dragonflies“, fiel mir ein. Vielleicht bestand hierzu eine Verbindung. Als keltisches „Relikt“ auf dem Festland, sollte ich das eigentlich wissen. Ich wurde jäh aus meinen Überlegungen gerissen, als der kleine gelb-lila Saufaus vom Festabend auf dem Kopf meines Reittieres aufprallte. „Ihr könntet mich nach Hause geleiten, edle Fremdeline, wenn Ihr so wohlgütigst sein wolltet.“ Ich staunte sie an. „Redet Ihr immer so geschwollen oder nur wenn Euch der Wein das Hirn vernebelt hat, Eure Kleinigkeit?“

„Tammy, im Namen der Göttin, bleib sitzen“, rief Morbidia neben mir, als der Winzling sich entrüstet aufrichtete. Sie lachte aus vollem Hals. „Ein Pferdekopf ist kein Turngerät. Die „Fremdeline“ wollte dich nicht beleidigen. Sie kennt nur unsere Sitten und Gebräuche noch nicht so gut.“

„Ah ja“, das Lockenköpfchen nickte weise. „Dann will ich Euch gnädiglichst verzeihen und Euer Angebot eines gemeinsamen Heimrittes vollhuldig in Erwägung ziehen.“ Sie krabbelte in die Pferdemähne, machte es sich gemütlich und stimmte Sekunden später ein geräuschvolles Schnarchkonzert an. Mir blieb die Spucke weg vor Staunen. „Sind die alle so?“ Morbidia kicherte. „Nein, aber einige schon. Unsere Tammy allerdings ist ein Sonderfall und äußerst gewöhnungsbedürftig.“ In der Tat, das war sie.

Es dämmerte bereits, als wir in Elfien ankamen. Die winzigen Feen, die uns begleitet hatten, winkten uns zu und verschwanden in einem nahen Wäldchen. Zum ersten Mal in meinem Leben, sah ich „Natur“ nicht nur, sondern spürte sie ganz tief in meinem Inneren. Meine Freundinnen, die sich bisher über ihre Erlebnisse in Wendelstein unterhalten hatten, verstummten plötzlich, als würden sie meine Gefühle teilen. Wir ritten am dichtbewachsenen Ufer eines Sees entlang, auf dessen Oberfläche sich grünes Seerosenblattwerk eng miteinander verband.

Zwischen den Bäumen konnten wir schon das weiße Mauerwerk des Schlosses aufblinken sehen, als uns zwei Männer in den Weg traten. „Wer seid Ihr? Wo wollt Ihr hin?“ Der eine hatte sein Schwert gezogen, der andere richtete eine Armbrust auf uns. Elfen, Lichtgestalten, wovon im Augenblick nichts zu bemerken war. Hier standen zwei knallharte, unhöfliche Kerle vor uns mit grimmigen Gesichtern, aber wieder zum Zerschmelzen schön. Ich hörte Lea hinter mir seufzen und Morbidia neben mir fauchen. Sie sprang mit einem Satz vom Pferd und baute sich breitbeinig vor dem Schwertträger auf. „Was zur Hölle ist in dich gefahren, Prinz Lemiras? Seit wann behandelt man Gäste in Elfien wie eine Bande räudiger Diebe? Steck das Schwert weg, mein Freund oder ich versohle dich damit.“

„Morbidia?“ Der so angepflaumte Prinz starrte die Pagoranerin an. „Meine Eltern haben uns nicht gesagt, dass sie Besuch erwarten.“ Er streckte die Hand aus und drückte die Armbrust seines Freundes nach unten. „Wir wollten gerade zur Jagd, Sovran und ich, als wir euch hörten. Wir empfingen fremde Gerüche und Gedanken. Du weißt, dass es unser aller Pflicht ist, Elfien zu beschützen. Also sahen wir nach. Es tut uns leid, wenn wir euch erschreckt haben.“

„Es wird euch noch mehr leid tun, wenn ihr weiter in den Gedanken meiner Freundinnen herumspaziert und jetzt bring uns zu Calmuel und Eyrin. Und du“, wandte sie sich an Sovran, „nimmst Tammy und bringst sie zu ihrem Clan. Sie konnte mal wieder die Finger nicht vom Gänseblümchenwein lassen.“

Sovran buddelte die Fee aus der Mähne meines Pferdchens. Er hielt sie auf Armeslänge von sich weg. „Pfui Spinne, die stinkt ja erbärmlich.“

„Je eher du sie nach Hause bringst, desto schneller befreit dich das von ihrem Wohlgeruch“, spöttelte Morbida. „Also lauf. Und lass sie nicht fallen.“

Sie packte ihr Pferd am Zügel und folgte Lemiras, der bereits auf dem Weg zum Schloss war. Wir stiegen ebenfalls ab und trotteten der gereizten Pagoranerin hinterher. Als wir unter den Bäumen hervortraten blieben wir wie auf Kommando stehen. Überwältigt von dem Anblick, der sich uns bot. Das Schloss, ein Märchen in weiß, mit kunstvollen Ornamenten geschmückt. Der Vergleich mit einer fürstlichen Hochzeitstorte drängte sich auf. Ein Juwel, eingebettet in einen lichten Hain, in dessen Baumwipfeln kleine Laternen aufleuchteten. Sie spiegelten sich im Wasser eines mit Balgurgestein ummauerten Bassins, in dessen Mitte ein Springbrunnen mit goldenen Wasserspeiern eingelassen war. „Das ist Hollywood“, flüsterte Gelica andächtig, „da, seht nur.“

Zwei große, schlanke Gestalten schritten würdevoll auf uns zu, ganz in weiß gekleidet, das lange weißblonde Haar von ornamentierten Silberreifen aus der Stirn gehalten. „Nun mein Sohn, wie ich sehe, hast Du Deinen Bock bereits geschossen.“ König Calmuel musterte den Prinzen durchdringend, der unter diesem Blick sichtbar schrumpfte. Seine Frau legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm. „Wir heißen euch willkommen, dich Pagoranerin und deine Freundinnen aus der Welt der Menschen“, entschärfte sie die Situation. Wir verneigten uns. So viel über die hiesigen Sitten hatten wir inzwischen gelernt, auch wenn dieses ständige Rumpfgebeuge langsam nervte. Unsere Rücken waren durch das ungewohnte Reiten schon genug strapaziert.

„Lemiras, kümmere dich um die Pferde unserer Gäste und dann komm zu Tisch. Die Jagd ist für heute vorbei.“ Calmuels Ton erstickte jede Widerrede im Keim. „Ihr müsst müde und hungrig sein. Bitte folgt uns.“ Eyrin lächelte und legte einen Arm um Morbidias Schultern. „Wie geht es deiner Mutter, mein Kind?“

Wir trottelten den Dreien hinterdrein, lauschten ihrem Geplauder und fühlten uns in dieser Märchenkulisse fehl am Platz. So lange, bis etwas Rotes zwischen den Bäumen hervorbrach und sich an Morbidias Seite drängte. Himmel, was war das denn? Eine Wildkatze konnte es nicht sein. ES sprach. Plapperte so schnell, dass unmöglich jemand ein Wort verstehen konnte. Morbidia stoppte und starrte den Irrwisch an, der sich an ihrem Arm festklammerte.

„Michikriss? Was zum Kuckuck hast du jetzt wieder angestellt?“, stieß sie hervor und zog an einem der feuerroten Zöpfe. „Warst Du wieder bei Gaylord? Mom hat dir das doch verboten. Oder täusche ich mich da?“

Das Ebenbild von Pipi Langstrumpf drehte sich um die eigene Achse. „Ach Morbidia. So ein schönes Rot. Das habe ich mir schon so lange gewünscht.“

„Ja, nach veilchenblau, babyrosa, froschgrün, habe ich etwas vergessen?“

„Violett wie Flieder“, trällerte Michikriss vergnügt. „Aber dieses Rot ist geil. Gibs zu.“

Morbidia schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wort mit Gaylord reden.“ Sie drehte sich zu uns um. „Das ist übrigens Michikriss, unser Findelkind. Und Gaylord ist ihr Lieblingsfriseur in Vampora.“ Findelkind? Später am Abend sollten wir mehr dazu erfahren.

Vorerst wuschen wir Gesicht und Hände mit Rosenwasser und gesellten uns zu den Elfen in eine große Halle, die überraschend schlicht gestaltete war, sah man von den vielen Pflanzen und Blumen ab, die an weißen Säulen emporrankten. Wir wurden an eine ganz in Weiß und Silber gedeckte Tafel eingeladen, an der bereits zahlreiche Frauen und Männer Platz genommen hatten. Ihre Schönheit übertraf bei weitem die sämtlicher griechischer Statuen, die wir je zu Gesicht bekommen hatten. Meine Befürchtung, dass Elfen sich nur von Früchten und Gemüse ernährten, verflog schnell angesichts gebratener Fasanen, gefüllter Täubchen und gespickten Hirschrückens.

Wir saßen in unmittelbarer Nähe des Königspaares, uns gegenüber die Tochter, Prinzessin Arela, und der finster dreinblickende Sohn, Prinz Lemiras. Schade, dass er die Augen unablässig auf seinen Teller gerichtet hielt. Ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten. „Pipi Langstrumpf“ war nirgendwo mehr zu sehen. Sie hatte sich vor Morbidias missmutigem Blick verdrückt.

Die Gespräche bei Tisch drehten sich um den Planeten Erde und den Gefahren, der er durch die Menschen ausgesetzt war. Von unserer Welt brauchten wir nicht viel zu berichten, da auch Elfien über ein Tor und einen magischen Spiegel verfügte, mit dem sie das Geschehen in der Menschenwelt beobachten konnten. Dafür erfuhren wir, wie übel die Christenpriester den Elfen und Feen mitgespielt hatten. Wie man die Göttin verdammte, die Natur missachtete, den Lebensraum der Naturvölker einschränkte und sie vertrieb, indem man den Menschen einredete, sie seien Geschöpfe des Teufels und Ausgeburte des Aberglaubens.

Wir hörten auch Michikriss’ Geschichte und die von Morbidias Blutsbruder Kai. Kinder, besonders solche in Nöten, konnten sich in die balgarische Welt hineinträumen. Was immer seltener passierte, nachdem Fernsehen und Computerspiele ihre natürliche Phantasie in ein Brachland verwandelte, zürnte König Calmuel. Auch fehlten in der Moderne die Großmütter, die durch das Erzählen von Märchen das alte Wissen um die Geheimnisse des Erdenlebens weitergaben.

Kai war an Leukämie erkrankt und schaffte es, sich kurz vor seinem Tod nach Vampora zu träumen, wo Daniel ihn auf der Freitreppe des Schlosses fand. Nur noch Fürstin Muriels Blut konnte ihn retten, was für ihn bedeutete, dass er zum Pagoraner gewandelt wurde. Er verbrachte seine Jugendzeit ausschließlich in Vampora, um die spezielle Lebensweise des pagoranischen Volkes zu erlernen.

Michikriss hingegen war von Geburt an eine kleine Phantastin. Jeden Abend flüchtete sie in ihre Traumwelt, bat darum, dass eine gute Fee kommen und sie mitnehmen würde auf ein Schloss, wo es genug zu essen gab und ein wunderschöner Prinz auf sie wartete. Eines Morgens entdeckte die Schamanin der Feen das Kind schlafenden unter einem Baum. Sein starker Glaube an ein Feenreich hatte eine Teleportation ausgelöst.

Aufgeweckt und neugierig wie Michikriss war, hielt sie es nie lange an einem Platz aus. Sie stromerte durch ganz Balgari und hatte schnell heraus, wie man die Drachen zur Hilfe rief, wenn der Weg zu Fuß für sie nicht zu bewältigen war. Sie nannte den obersten Balgaren „Onkel“, Darvina „Tante“ und wollte, so bald sie alt genug war, bei den Hexen in die Lehre gehen.

Bevor wir uns zum Schlafen zurückzogen, wanderten wir mit dem Königspaar und seinen Kindern durch den mondbeschienen Schlossgarten, wo Feen für uns musizierten, sangen und ihre Reigen tanzten.

Als wir uns zur Nacht verabschiedeten, drückte ich Lemiras Hand und sagte leise „Es tut mir leid, Prinz, dass Ihr unseretwegen Ärger hattet.“ Er schaute mich verlegen an. Amethystaugen trafen auf Bernsteinaugen. Länger als schicklich, länger als gut für mich, bohrten sich unsere Blicke ineinander. Silbern, dachte ich benommen, sie glitzern silbern. Bevor ich völlig eintauchen konnte, zog Lotta mich mit sich fort.

Elfien war ein magischer Ort. Vor dem Einschlafen überlegte ich, wie es wäre einfach hier zu bleiben und nicht mehr in unsere Welt zurückzukehren. Ein Traum.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühmahl, holten uns die Flugdrachen der Balgaren ab. Die letzte Etappe unserer Reise lag vor uns, die Balgarenburg. Ich erhaschte einen Blick auf den Prinzen, unsere Abreise aus der Ferne beobachtete. Er hob die Hand und für einen Augenblick sah ich ein durchscheinend weißes Band in der Luft wehen, das sich schlangengleich auf mich zuringelte. Kurz darauf war er verschwunden.

Beim Abschied sah mir Königin Eyrin lächelnd in die Augen. „Träume können sich erfüllen, auch wenn vielleicht viel Zeit vergehen muss. Seelenbande helfen dabei, sie zu verwirklichen“, flüsterte sie mir zu. Ich verstand nicht, was sie mir damit sagen wollte, aber das Gefühl, dass eine wärmende Decke mein Herz umhüllte, begleitete mich fortan.

Morbidias Spiegel

Подняться наверх