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2025 - Einladung in eine fremde Welt / Tour durch Balgari
ОглавлениеDie meisten Menschen sahen zu, wie unsere Welt in die Knie ging. Sie lasen Zeitungen, hörten Nachrichten und diskutierten seitenlang über Fake News in den sozialen Medien. Sie jammerten, schimpften, drohten, ließen außer ihrer Meinung keine andere gelten, und sie kapierten nichts. Der moderne Mensch mutierte zum geistigen Analphabeten, obwohl ihm mehr Informationsquellen zur Verfügung standen als je zuvor.
Der Slogan, der wieder und wieder in unsere Hirne gehämmert wurde, hieß „uns geht es gut“. Nur die, die am System längst gescheitert waren, senkten die Köpfe, duckten sich vor der Willkür der Mächtigen und fragten hinter vorgehaltener Hand „wem geht es gut?“ Sie murmelten es leise vor sich hin, aus Angst vor Repressalien, während sie drei Jobs auf einmal bewältigten und ihre Augen bereits mit weggeworfenen Pfandflaschen und Essensresten in Müllcontainern liebäugelten. Andere stotterten Leasingraten für teure Autos und Kredite für klotzige Eigenheime oder kostspielige Fernreisen ab. Protz war Trumpf und nur wer trumpfte, gehörte „dazu“. „Du darfst niemals zugeben, dass du arm bist, sonst gerätst du schnell an den Rand oder noch schlimmer, darüber hinaus.“
In unserer Stadt wagte es einzig eine Gruppe von Frauen, wenn auch nur im Geheimen, Sinn und Unsinn dieser degenerierten Gesellschaft zu erörtern. Sie blickten einer Wahrheit ins Auge, die den Untergang prophezeite und wünschten sich eine Welt herbei, die den Entrechteten zur Gerechtigkeit, den Sklaven zur Freiheit, den Verzagten zu Mut, den Herrschenden zur Einsicht verhalf. Sie beteten um einen Glauben ohne die Irrwege der Religionen, um Frieden statt Kriege, um ein Leben ohne Neid und Hass. Um den Sturz derer, die all dies mit ihrer Macht- und Besitzgier verhinderten.
Zu diesen Frauen gehörten wir, meine Freundinnen und ich. Gemeinsam gelang es uns, das Ohr der schlafenden Göttin zu öffnen. Sie schenkte uns die Begegnung mit einem Wesen, das zu Besuch in unserer Welt weilte. Wir trafen die Pagoranerin in einer Kneipe, in der noch Bier vom Fass und Bockwürstchen mit Senf und Brot serviert wurden. Keine von uns ahnte, dass die junge Frau, die da einsam am Tresen saß, über solch feine Sinne verfügte, dass sie nicht nur unsere Worte hören, sondern auch unseren Gedanken lauschen konnte. Bevor sie das Lokal verließ, kam sie an unseren Tisch und drückte mir einen Zettel in die Hand. Darauf standen ein Name und eine Mobilnummer, sonst nichts. Sie ließ mir keine Möglichkeit zu reagieren. Ein Augenzwinkern und weg war sie. Die anderen sahen mich fragend an, ich zuckte die Schultern und steckte den Wisch achtlos in meine Jackentasche. Erst zu Hause dachte ich wieder daran. Ich drehte ihn ratlos zwischen meinen Fingern hin und her, ehe ich ihn kurzerhand im Papierkorb entsorgte.
Oft ist es so, dass das, was du gerade weggeworfen hast, deinen Kopf vom Schlafen abhält. Es erscheint dir plötzlich als das Wichtigste, das sich je in deinem Besitz befand. Gegen Morgen gewann meine Neugierde die Oberhand. Ich quälte mich müde aus den Federn und fischte das zerknautschte Ding aus dem Dreck. Morbidia, las ich. Ein eigenartiger Name. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, wählte ich die Nummer. Sie meldete sich nach dem ersten Klingelton mit einem fröhlichen „Ich habe gewusst, dass du anrufst.“ Woher wusste sie, dass die Anruferin war? Sehr befremdlich.
Was sie mir dann mit heiterer Stimme erzählte, ließ mich an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln und kurz darauf auch an meiner eigenen. Denn je länger sie sprach, desto aufmerksamer hörte ich zu – und glaubte ihr. Auf meine Frage, ob sie irgendeiner obskuren Sekte angehöre, lachte sie „Sehe ich wie ein Sektenmitglied aus?“ Mitnichten. Eher wie das Mitglied einer Rockergang. Ich sah mich vor zwei Möglichkeiten gestellt. Erstens, ich sagte ihr, sie solle sich verpissen und legte sofort auf, zweitens, ich glaubte ihr und nahm eine Einladung in ihre Heimat an, die sich auch auf meine Freundinnen erstreckte. Wieder einmal übernahm das Erbe meiner Blutlinie die Führung, auch wenn sie mittlerweile stark verwässert war. Ich sagte zu.