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Der Wendelsteiner Wald – Hexenheim

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Müde und gähnend erhoben wir uns am Morgen von unseren Lagern. Wir hatten einmal mehr in der Nacht zu lange „getagt“. Morbidia überprüfte unsere Sättel, bevor wir uns auf den Weg machten. Sie sang dabei aufreizend munter vor sich hin, wofür sie einige entsprechend böse Blicke erntete. Schweigend ritten wir hinter ihr her, fühlten uns von allen Seiten belauert, schraken bei jedem Geräusch zusammen und hingen finsteren Gedanken nach. Wir bildeten uns ein, dass der Wald und die Hexen nach uns gierten. Bilder böser Märchenhexen standen uns vor Augen. Was etwas albern war, da zwei meiner Freundinnen sich in unserer Welt selbst Hexen nannten, und auch ich einem alten Geschlecht weiser Frauen angehörte.

Einzelne Häuschen, aus groben Holzbalken gezimmert, wurden zwischen den Bäumen sichtbar. Sie waren mit Schindeln gedeckt, mit Schornsteinen bestückt, manche gar mit einem Türmchen versehen. Efeu und uns fremde Rankpflanzen kletterten an den Hauswänden empor. Wir sahen Männer und Frauen, die in ihren Gärtchen werkelten, andere trafen wir beim Sammeln von Nüssen, Wurzeln, Pilzen und Beeren. Sie winkten uns freundlich zu. Nirgends fanden wir hässliche Weiblein mit Buckeln und Warzennasen vor, die ihren Knotenstock schüttelten und uns verfluchten.

Der Wald war eine Wunderwelt für sich. Während er außen von gewöhnlichen Nadelbäumen eingefasst war, wuchsen in seinem Inneren neben Eichen, Akazien, Linden, Eiben und Ulmen auch mächtige Mammutbäume, niedrige Palmenarten mit fleischigen, essbaren Blättern und Früchten, baumhohe Farne, Stauden mit irisierenden Blüten, Haselsträucher, Dornbüsche mit kastanienähnlichen Fruchtknollen, Pilze in Manneshöhe in allen Formen und Farben des Regenbogens.

Morbidia hatte uns am Tag zuvor verboten den Wald alleine zu betreten. Jetzt grinste sie. „Das solltet ihr nur nicht, weil man sich schnell verlaufen kann, wenn man sich nicht auskennt. Unsere Hexen und Hexenmeister sind friedliche Leute, die hier ihrer Arbeit nachgehen, ihr altes Wissen bewahren und neues erschaffen. Sie tun euch nichts zuleide.“

Wir erreichten den Waldrand und staunten, als wir eine große Lichtung erreichten, in deren Mitte ein Cottage stand, wie wir es aus Britannien kannten. Hohe Ginsterbüsche bildeten eine dichte Hecke von den Seiten bis zur Rückwand. Kletterrosen, wilder Wein und Blaureben umrankten Fenster und Haustür. Angenehmer Duft nach Blumen und Kräutern streichelte unsere Sinne. Eine braun-weiß gefiederte Eule erhob sich vom Dachfirst und landete auf Morbidias Schulter. Sie fixierte uns aus klugen Augen und fand was sie sah wohl wenig interessant. Daher kümmerte sie sich nicht weiter um uns. Sie begann stattdessen gleichmütig ihre Federn zu glätten.

Vor der Haustür erwartete uns eine hochgewachsene, kräftige Frau mit langen, weißen Zöpfen. Sie war mit einer hellblauen Mönchskutte bekleidet. An einer silbernen Schnur um ihre Mitte trug sie einen Dolch und eine kleine Sichel. Auf ihrer Stirn prangte eine ungewöhnliche Tätowierung, ein silberner Vollmond eingebettet in die Höhlung eines blauen Halbmondes.

„Im Namen der Göttin, seid willkommen“, rief sie uns zu und bedeutete uns abzusteigen. Morbidia sprang vom Pferd. „Danke Darvina.“ Sie umarmte die Frau. Das also war Darvina, eine Hexe. Ich kam mir entsetzlich kindisch vor, wenn ich an die letzten angstvollen Stunden dachte.

„So, so, ihr hattet Angst vor uns“, lachte Darvina laut und herzlich. „Ausgerechnet. Wo wir doch allen Grund haben, uns seit Jahrhunderten vor euch Christenmenschen zu verstecken. Den edlen christlichen Glaubensbrüdern und –schwestern, zu denen gehört ihr doch, oder?“ „Nur halb und halb“. Morbidia blinzelte mir zu. Darvina jedoch schmunzelte, als sie Lotta dabei erwischte, wie diese schnell ein silbernes Kreuz im Halsausschnitt ihres Sweatshirts verschwinden ließ.

Darvina lud uns in ihr Häuschen ein. Ich wurde ein wenig neidisch, als ich das Innere sah. Eine solch anheimelnde Wohnküche hatte ich mir immer gewünscht. Der alte Emailherd mit dem Gestänge darüber, an dem Töpfe, Pfannen, Schöpfkellen und andere Küchengeräte an Fleischerhaken baumelten. Der massive Eichentisch, den ein Krug mit Wiesenblumen zierte. Der Boden aus dunklen Holzbalken, frisch gebohnert, nach Bienenwachs duftend. Kräuterbündel, die einen betörenden Geruch verströmten. Auf Regalen standen Töpfchen, Tiegelchen und Fläschchen, ihr Inhalt so fremdartig wie diese Welt.

Darvina hatte den Tisch für uns gedeckt: ein riesiger, noch warmer Apfelkuchen, eine Schüssel Schlagsahne und eine große Porzellankanne frisch gebrühten Bohnenkaffees. Es kam uns vor, als würde in dieser Welt immerzu gegessen. Vielleicht waren wir aber auch nur diese Fülle nicht mehr gewöhnt.

Wir saßen auf grob gezimmerten Holzbänken und Hockern und ließen es uns schmecken. Darvina lächelte. „Der Apfel. Die Lieblingsfrucht der Göttin. So wisset: die Schlange ist eine Erscheinungsform der Mutter. Sie WOLLTE, dass die Menschen Wissen und Erkenntnis erlangen. Und was habt ihr daraus gemacht? Eine Schlange, die die Frau zur Sünde verführte. Eva hatte kapiert, worum es ging. Adam war zu dämlich. Er dachte mit dem Schwanz, deshalb das Feigenblatt.“

Dann begann sie zu erzählen. „Ich war die Tochter einer Kräuterfrau und Hebamme, erblickte 1644 das Licht der Welt. Meine Mutter brachte mir das alte Wissen bei über die Tiere, die Insekten und Pflanzen der Wiesen, Felder und Wälder und vieles mehr. So bald ich alt genug dazu war, lernte ich, einen neuen Menschen in die Welt zu holen, einem alten das Heimgehen zu erleichtern und einen kranken zu heilen oder von seinem Leiden zu erlösen. Wir verehrten die Göttin, die uns dieses Wissen geschenkt hatte und feierten die althergebrachten Feste ihr zu Ehren.

Als ich vierzehn Jahre alt war, holten uns die Pfaffen und sperrten uns in den Kerker. Wir seien mit ihrem Teufel im Bunde, trieben Unzucht mit ihm, warfen sie uns vor. In unserem Glauben gibt und gab es keinen Teufel und keine Unzucht. Deshalb wehrten wir uns gegen diese Beschuldigungen. Sie quälten und folterten uns so lange, bis wir Dinge gestanden, die nicht der Wahrheit entsprachen. Viele Hexen und Hexenmeister starben auf den Scheiterhaufen dieser Christenbrut. Selbst Menschen, die nicht zur Hexengilde gehörten, die Verleumdungen zum Opfer fielen, aus Hass und Neid geboren. Meine Mutter, ich und einige andere wurden von den Balgaren gerettet. In buchstäblich letzter Sekunde. Nur wenige waren durch die abscheulichen Foltermethoden noch in der Lage Kinder zu zeugen oder zu gebären. Lord Darjal schenkte uns deshalb ein langes Leben, dass wir das alte Wissen bewahren und neues hinzufügen können.“

Bedrücktes Schweigen folgte ihren Worten. Ich bemerkte, wie Lottas Silberkreuz in der Tiefe ihrer Hosentasche versank.

Wir hätten gerne das Tal der Göttin besucht, in dem die Priesterinnen lebten. Leider blieb uns der Zugang verwehrt. Darvina führte uns trotzdem über die Wiesen hinter ihrem Haus zu dem Hügel mit dem magischen Baum und der heiligen Quelle. Zwei Wege standen zur Wahl. Einer, der steil nach oben führte und einer, der sich in sanften Windungen hinaufschlängelte. Wir entschieden uns für den Serpentinenweg. Zum Kraxeln hatte keiner Lust, es war zu warm. Wir genossen den Ausblick auf Berge, Wiesen, Wald und dahinter auf eine mittelalterliche Burg. Wendelstein, unser nächstes Ziel. Am Waldrand faulenzte ein kleines Rudel Rotwild im Schatten hoher Tannen. Auf den Wiesen futterten Kaninchen sich das Ränzlein voll. Mit Giersch und Schafgarbe, erklärte uns Darvina. Vogelgezwitscher und Bienengesumm begleiteten uns den Hügel hinauf. Wir erlebten eine Idylle, die wir von zuhause aus nicht mehr kannten.

Die Göttin liebt die Bienen, lernten wir, und die Priesterinnen achten sie, weil sie den Honig aus den zarten Blüten saugen ohne diese zu zerstören. Honig war heilig und in den frühen Zeiten eine Opfergabe für Götter und Ahnen. Honigkuchen galten als segensreiche Speise und durften nur in den Weihenächten des Mittwinters verzehrt werden.

Oben angekommen begrüßte Darvina die mächtige Eiche. Wir standen andächtig dabei und lauschten, obwohl wir die uralten Worte nicht verstanden, die sie rezitierte. Anders als der Baum. Eine einzelne Eichel fiel direkt vor Darvinas Füße. Sie hob sie auf und verneigte sich respektvoll. Wir taten es ihr gleich. Sie führte uns zur Quelle, die mit Blumen geschmückt und von schwarzen Steinen eingefasst war. Balgurgestein, das wir bei den Zwergen kennengelernt hatten. Sie gestattete uns von dem Quellwasser zu trinken, das reiner und frischer schmeckte als alles, was je unsere Zungen benetzt hatte.

Das Tal der Göttin war in dichten Nebel gehüllt, aber nach einer stummen Zwiesprache zwischen Eiche und Hexe lüftete sich der Schleier für Sekunden. Wir erhaschten einen Blick auf einen großen Teich, auf dem Schwäne majestätisch ihre Runden drehten, und auf Enten, die nahe des schilfbewachsenen Ufers gründelten. Dahinter sahen wir einen lichten Birkenhain, und damit senkte sich der Nebelschleier auch schon wieder.

Wir wanderten schweigend den Weg zurück. Die Atmosphäre auf der Kuppe des heiligen Hügels hielt uns noch gefangen. Wann hatten wir in unserer Welt das letzte Mal einen so tiefen Frieden empfunden?

Plötzlich raste Morbidia an uns vorbei den Abhang hinunter, als hätte sie der wilde Watz gebissen. „Bienchen … Bienchen …“. Wir sahen unter uns eine junge, blonde Frau im Gras sitzen, die bei Morbidias Geschrei auffuhr. Auch das braun-weiß-gescheckte Pferd, das neben ihr graste, machte einen erschrockenen Satz zur Seite. Darvina winkte uns, ihr zu folgen. „Das ist Sabine, Graf Wendels Tochter, kommt.“ Es blieb uns nichts anderes übrig, als rutschend, stolpernd und fluchend die abschüssige Böschung zu bezwingen.

Sabine ließ sich von den kräftigen Armen der Hexe umfangen und herzhaft drücken. „Vater schickt mich, euch zu holen. Dein Pferd steht beim Haus.“ Morbidia stellte uns vor, während wir über die Wiese zurückliefen. „Die Hexen und Hexenmeister sind schon auf dem Weg zur Burg. Wir sollten uns beeilen.“

Unsere Zwergenpferde verharrten neben einer großen grauen Stute und sahen uns erwartungsvoll entgegen. Darvina holte hohe Flechtkörbe aus dem Haus, belud ihr Tier damit und führte es Richtung Wald. Wir anderen saßen auf und folgten ihr. Unterwegs schlossen sich immer mehr Menschen unserer Gruppe an. Sie alle waren schwerbepackt. Sabine bemerkte unsere fragenden Blicke. „Oh, das wisst ihr gar nicht. Heute Abend feiern wir ein Fest und morgen ist Markttag. Ihr seid genau zur richtigen Zeit gekommen.“ Mehr verriet sie nicht.

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