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Vampora –Stadt der Pagoraner
ОглавлениеZwei Tage später standen wir uns am vereinbarten Treffpunkt die Beine in den Bauch. In einem verwilderten Garten zwischen Brennnesseln und Brombeergestrüpp. Vier meiner Freundinnen begleiteten mich, Christel, Lea, Lotta und Gelica. Der Rest zog den Kopf ein. Erklärte mich gar für „total übergeschnappt“. Nun, wir würden sehen.
Ich schaute auf die Uhr. Unsere Gastgeberin war eine halbe Stunde überfällig. Gerade als ich beschloss nicht länger zu warten, öffnete sich vor uns ein verrostetes Tor in einer verwitterten Mauer. Ich schwöre, dass Sekunden zuvor an dieser Stelle nur ein knorriger Apfelbaum sein kümmerliches Dasein fristete.
Morbidia, die sich als Chronistin sowohl unserer Heimat als auch einer mir fremden Parallelwelt vorgestellt hatte, lehnte am Torpfosten. Gekleidet in schwarze, enge Lederhosen, Motorradstiefel und ein gemustertes Westchen, das mehr Haut frei ließ, als es verbarg. Sie sah jung und hübsch aus, obwohl sie etwa zweihundert Jahre zählte. So zumindest behauptete sie.
Sie winkte uns einzutreten. Das Tor schepperte laut hinter uns ins Schloss und löste sich danach in Luft auf. Uns fielen die Kinnladen herunter, nicht alleine wegen der Zauberpforte. Wir hatten nur einen einzigen Schritt getan und befanden uns trotzdem in einem fremden Land inmitten einer Wüste. Hinter uns waberte noch kurz der Garten wie ein schlechtes Fernsehbild, dann verblasste auch er. Um uns herum gab es nur Sand, Sanddünen, zur Rechten Felsen und am Horizont? Unmöglich es zu erkennen, weil die Sonne uns blendete. Erlaubte man sich einen üblen Scherz mit uns oder gar Schlimmeres? Morbidia schob sich eine riesige Sonnenbrille auf die Nase. „Willkommen in Balgari“. Und als sie unsere fassungslosen Gesichter sah „Oh, entschuldigt. Das siebte Tor gehört zu Vampora, der Wüstenstadt der Pagoraner. Das vergaß ich zu erwähnen.“
Sie lief leichtfüßig voran. Wir stapften schwerfällig und schwitzend hinter ihr drein und lauschten ihren Erklärungen. „Als die Balgaren die Parallelwelten schufen, die sich rings um euren Planeten ziehen, wünschten sie sich von jeder Landschaft ein Abbild, Berge, Wälder, Wiesen, Seen, einen großen Fluss und eben auch eine Wüste. Für ein Meer reichte leider der Platz nicht mehr. Zumindest nicht in Balgari, das Eurem Landstrich am nächsten liegt.“
Zum Glück dauerte es weniger als eine Stunde, diese Ödnis zu durchqueren. Wir gelangten zu einer Mauer aus schwarzem, glänzendem Gestein, in der sich lautlos ein breiter Zugang auftat. Vorsichtig wagten wir uns heran. Dieses Mal erwartete uns ein erfreulicher, wenn auch abenteuerlicher Anblick. Wir starrten auf eine Kreuzung aus Manhattan, Las Vegas und New Orleans. Vampora, eine Mischung aus unterschiedlichen Stilrichtungen, ein riesiger Vergnügungspark, von antik bis hypermodern. Straßencafés, Restaurants, teure Geschäfte, Juweliere, Sportclubs, Spielkasinos und Discos reihten sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur. Im Gewirr der Gassen versteckten sich Kunstgalerien, Antiquariate und geheimnisvolle Lädchen, in denen Kräuter, Kerzen und allerlei esoterisches Zubehör angeboten wurden. Großartige Villen aus längst vergangenen Tagen wechselten sich ab mit Bürogebäuden aus Glas und Stahl.
Auf den Prachtstraßen gondelten Fortbewegungsmittel aller Art an uns vorüber, von Pferdekutschen über Oldtimer, rassige Sportwagen, elegante Limousinen bis zu Motorrädern jedweder Klasse. Selbst Fahrräder und, noch erstaunlicher: Laufräder, sah man hie und da. Genauso verhielt es sich mit der Kleidung der Pagoraner. Es gab keinen Modestil der letzten vierhundert Jahre, der hier nicht vertreten war. Neben Kostümen, wie man sie am Hofe Ludwigs des XIV. trug, tummelten sich bunt gewandete Hippies, Rocker in Lederkluft und Punks, deren Haar zum Hahnenkamm gestylt und kunterbunt gefärbt war.
Morbidia führte uns durch die Stadt, durch breite Alleen und enge Gassen zum Schloss der pagoranischen Fürstin, deren Gäste wir sein sollten. Auf einer künstlich errichteten Anhöhe thronte ein herrschaftliches Palais mit hohen Rundbogenfenstern, Goldverzierungen, zierlichen französischen Balkonen, und einer breiten Freitreppe, die von steinernen Löwen bewacht wurde. In der Mitte des Hofes spie ein goldener Reiher Wasser in ein rundes Marmorbassin.
Aller Glanz jedoch verblasste vorm Anblick der Frau, die uns erwartete. Die junge Claudia Cardinale, eine Schauspielerin aus vergangenen Zeiten, und Schneewittchen in einer Person war das Empfinden, das mich überkam. Es genügte ein Wort, sie zu beschreiben: Atemberaubend.
Morbidia führte uns die Stufen nach oben. Sie drückte ihre rechte Faust auf die Stelle über ihrem Herzen und verneigte sich. „Fürstin, Eure Gäste.“ Um gleich darauf hinzuzufügen „Hey Mom, cooles Outfit.“ Mom? Wir schauten uns an, wagten jedoch nicht zu fragen. Indes, sie hatte recht. Das schwarze, enganliegende Kleid mit dem hohen Stehkragen aus Spitze, die glänzenden, schwarzen Seidenstrümpfe und die schwarzen High Heels, die Fürstin sah aus, wie das Covermodel eines Modejournals. Wir nahmen uns dagegen aus wie Schmuddelkinder.
Ich griff zur Kamera, aber Morbidia zischte sofort „Keine Fotos von Balgari“. Beschämt steckte ich sie wieder weg. Vielleicht hatte ich ja ein anderes Mal mehr Glück, und sie schaute gerade in die entgegengesetzte Richtung. Wir verbeugten uns vor der Fürstin, wie wir es bei Morbidia gesehen hatten, aber sie reichte uns ungezwungen ihre kühle Hand und dirigierte uns in die Halle. Bevor wir die prunkvollen Wandbehänge, wertvollen Teppiche, Sitzmöbel, Marmorstatuen und kostbaren Kronleuchter näher in Augenschein nehmen konnten, kamen zwei kichernde, dralle Menschenmädchen herbeigeeilt. Sie schnappten sich unsere Rucksäcke und geleiteten uns zu unseren Zimmern oder besser: zu unseren Suiten, in denen uns purer Luxus erwartete. Samt und Brokat, Gold und Marmor, Himmelbetten mit Baldachinen aus Seide, Fernseher im XXL-Format, Bäder mit Wannen auf Löwenfüßen und goldenen Wasserhähnen.
Nachdem wir uns den Wüstenstaub abgewaschen und uns umgezogen hatten, holte uns ein Diener ab und eskortierte uns zum Abendessen in ein elegantes Speisezimmer, das ganz im venezianischen Stil eingerichtet war. Die fürstliche Tafel bog sich unter Schüsseln und Platten voller kulinarischer Köstlichkeiten. Durch die offenen Flügeltüren bot sich uns ein spektakulärer Ausblick auf den farbig illuminierten Schlossgarten. Außer der Fürstin, die uns bat sie Muriel zu nennen, nahmen auch Morbidia und ihr Halbbruder Daniel teil. Als er den Raum betrat, begannen meine Freundinnen zu sabbern. Ich selbst kam auch nicht umhin, mir die Frage zu stellen „gleich als Vorspeise oder lieber zum Dessert?“. Wir hatten schon in der Stadt gesehen, dass die Pagoraner ein gutaussehendes Volk waren. Dieses Exemplar entpuppte sich außerdem noch als sexy und überaus charmant. Ich rief mich innerlich zur Ordnung „nicht mit den Fingern gucken“. Mir fiel ein, dass Morbidia unsere Gedanken gelesen hatte. Wenn das alle Pagoraner konnten …? Peinlich. Ich bemühte mich, an das kleine Einmaleins zu denken. Daniel grinste mich an und widmete sich dann dem Wein. Er schenkte ein. Außer mir bemerkte keine von uns, dass er dazu zwei unterschiedliche Karaffen benutzte.
Meine Begleiterinnen wussten bis jetzt nicht, dass die Pagoraner einer außergewöhnlichen Vampirrasse angehörten. Die zwar die gleichen Speisen genossen wie wir, der rote Balgarenwein in ihren Kristallgläsern sich jedoch wesentlich von unserem unterschied. Nach dem Essen wurden uns Digestif und Mocca in der Bibliothek kredenzt. An den Wänden hingen Bilder berühmter Maler zwischen hohen Regalen voller ledergebundener Bücher. Wir saßen bei Kerzenschein in plüschigen Sesseln vorm offenen Kamin in dem ein gemütliches Feuer flackerte und lauschten Muriels Geschichten aus dem früheren und heutigen Leben ihrer Spezies. Jetzt, nachdem die Fürstin ungezwungen über die Affinität ihres Volkes zu frischem Blut berichtete, über Verfolgung, Grausamkeiten und Mord, wurde auch der Letzten klar, in welch andersgearteter Gesellschaft wir uns befanden. Die Gesichter rundum nahmen eine kränkliche Färbung an.
Fürstin Muriel lächelte beruhigend „Wir sind für Euch nicht mehr gefährlich seit wir in Balgari leben. Meine Rasse unterhielt Jahrtausende freundschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen zu den Menschen. Erst die Religionen entzweiten uns. Sie pflanzten Angst und Hass in Eure Herzen, machten Euch zu Jägern und uns zu gefährlichen Blutsaugern. Dank der Balgaren steht uns heute eine andere Sorte Blut zur Verfügung.“ Sie nippte an ihrem Glas. „Seither ist es uns möglich wieder unter und mit den Menschen zu leben.“
Als Glockenschläge die zweite Morgenstunde verkündeten, durften wir uns zurückziehen. „Ihr braucht den Schlaf, im Gegensatz zu uns. Wir müssen nur wenige Stunden ruhen.“ Da musste ich der Fürstin zustimmen. Ich schlief tief und traumlos zwischen seidenbezogenen, weichen Daunenkissen.
Am Morgen, nach einem opulenten Frühmahl, verabschiedeten wir uns. Es war schade, dass man uns nur so wenig Zeit zur Verfügung stellte diese fremde Welt zu erkunden. Eine Sight-Seeing-Tour durch Balgari war einfach zu kurz. Das stellten wir schon nach diesem ersten Tag fest. Morbidia hatte uns erklärt, dass Menschen seit Langem die Spiegeltore nicht mehr passieren duften. Nur auf ihr Bestreben hin, ließen die Balgaren eine Ausnahme zu.
Ich hätte gerne mehr von den pagoranischen Vampiren erfahren, aber Morbidia wartete bereits im Schlosshof. Sie freute sich diebisch über unsere entsetzten Mienen. Wir hatten geglaubt, dass wir unsere Wanderung zu Fuß fortsetzen würden. Stattdessen sahen wir uns großen, grünen Echsen gegenüber, die von kleinen bärtigen Männern gelenkt wurden. Drachen. Wir betrachteten unsere Beförderungsmittel mit gemischten Gefühlen aus sicherer Entfernung. Der Kleinste war so groß wie ein Mammut mit Flügeln, die Reiter bärbeißig, muskelbepackt und zunehmend ungeduldig.
Als Leiterin unserer Truppe ging ich mit gutem Beispiel voran. Auch wenn ich spürte, dass sich bereits der „ich-mach-mir-gleich-ins-Höschen“- Modus einschaltete. Der schöne Daniel kam hinzu, packte mich am Hintern und lupfte mich in die Höhe. Seine Hände fühlten sich gut an. Er schnallte mich mit langen Riemen an einem Geschirr fest und zwinkerte mir zu. Zu dumm, dass wir bereits zeitlich in Verzug waren. Ein kleiner Flirt am Morgen? Nicht zu verachten. Je zwei von uns wurden gemeinsam auf die Flugechsen verfrachtet. Hinter mir stieg eine unverschämt grinsende Morbidia auf. Wahrscheinlich hatte sie meine Gedanken gelesen, dieses kleine Miststück.