Читать книгу Die Fotografin - Anne Chaplet - Страница 10
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ОглавлениеFrankfurt am Main
Karen Stark glaubte von sich, daß sie auf Äußerlichkeiten nichts gab. Aber bei Angelika Kämpfer war ihr jedes Detail aufgefallen. Die hellblaue Bluse mit dem garantiert knitterfreien Krägelchen. Die granitgraue Weste, die sie darübergezogen hatte, in sportlichem Strick, mit V-Ausschnitt. Der lange weiße Hals und die schmalen Ohren. Die Frisur, vor allem die Frisur: Staatsanwältin Dr. Angelika Kämpfer trug ihre mittelbraunen Haare länger als kinn-, aber kürzer als schulterlang. In der Mitte zwischen Ohrläppchen und Schultern fächerten sie sich sanft nach außen, nicht in einer satten Welle, nein, sondern so züchtig, daß es schon wieder kokett wirkte.
Zum Inbild der Mädchenhaftigkeit paßte auch, daß nicht alle Haare hinter den Ohren geblieben waren, sondern einige glänzende Haarsträhnen sich nach vorne geschmuggelt hatten, so daß die rosa Ohrmuscheln hindurchschimmerten. Und dann der brave Seitenscheitel und der kurze Pony über den in Form gezupften Augenbrauen! Die blauen Augen darunter, natürlich ungeschminkt, wirkten ungerührt, ja kühl, was daran liegen mochte, daß die eine Augenbraue etwas höher stand als die andere. Angelika Kämpfers Nase war gerade und schmal, ihre Lippen glänzten rosig auch ohne Lippenstift, und noch nicht einmal das Muttermal über der Oberlippe rechts schmälerte dieses Bild der Untadeligkeit.
Die Neue strahlte kühle Intelligenz und äußerste Zielstrebigkeit aus. Und sie machte ihrem Namen alle Ehre.
Karen versuchte, gleichmäßig zu atmen. Sie saß in einem ausgeklügelten Mechanismus aus Kunstleder und Stahl und Eisen. Ein Gewicht von 220 Pfund drückte die angezogenen Knie gegen Bauch und Brust. Langsam begann sie, ihre Beine dem Widerstand entgegenzustrecken. So würde sie der Kollegin Kämpfer künftig entgegenarbeiten müssen – mit steter Kraft und ohne außer Atem zu geraten. Jetzt waren ihre Beine fast gerade. Sie merkte, wie alle Muskelfasern zu vibrieren begannen.
Was hatte sie sich eigentlich vorgestellt, als sie von der Berufung der acht Jahre Jüngeren hörte? Frauensolidarität? Gemeinsames Menstruieren bei Mondschein? Karen atmete geräuschvoll aus, als sie ihre Beine vom Gewicht wieder zurückdrücken ließ in die Ausgangsposition. Triumph der Weiblichkeit? Sie machte eine kurze Pause, bevor sie die Beine wieder streckte. Schweißtropfen liefen ihr von der Stirn. Sie ließ das Gewicht zurücksinken, setzte ab und rollte den Sessel des Fitneßgeräts zurück. Dann wischte sie sich mit dem Handtuch über das Gesicht. Was für ein Quatsch.
Die Zeiten waren vorbei, als man sich mit den wenigen Kolleginnen zwangsweise solidarisch fühlen mußte. In Frankfurt war fast ein Drittel der Abteilungen mit Frauen besetzt. Und sogar der Vorsitz des Bundesverfassungsgerichts befand sich fest in Frauenhand. Was für ein Fortschritt!
Also keine Sentimentalitäten mehr, sagte sich Karen, während sie den Raum durchquerte. Um diese Zeit war der Kraftraum fast leer, nur eine ältere Frau saß auf der Butterfly am Fenster. Weiber sind nicht die besseren Menschen. Karen steuerte den Turm an, legte sich den breiten Gürtel um die Hüften und machte ihn mit einem Karabinerhaken an der Öse fest. Und Frauensolidarität ist ein Fossil aus dem schon ganz schön vergangenen 20. Jahrhundert. Dann stieg sie zwei Stufen des Gerüsts hoch, rutschte mit den Füßen nach hinten, bis sie nur noch mit den Fußballen auf der Treppe stand und hob sich mit geraden Beinen auf die Zehen, ihr eigenes Gewicht verstärkt durch die Eisenbarren, die sie aufgelegt hatte. Nach der zehnten Wiederholung begannen ihre Wadenmuskeln zu zittern.
Kollegin Kämpfer hatte es schon bei der Begrüßung an Deutlichkeit nicht mangeln lassen. Sie gab sich noch nicht einmal die Mühe, zu lächeln, als sie mit kaum merklicher Verzögerung Karen die kühle, schmale Hand hinhielt. Und es war auch nicht eben höflich, wie schnell sie sich wieder ab- und dem Kollegen Manfred Wenzel zuwandte. Und siehe da, sie lächelte, als sie ihm die Hand gab. Mit Genugtuung sah Karen, daß Wenzel keinen Gesichtsmuskel verzog. Soviel Zartgefühl hätte sie ihm gar nicht zugetraut.
»Kollege Wenzel und Kollegin Stark sind ein erfolgreiches Team, ein sehr erfolgreiches Team«, hatte OStA Zacharias geschwätzt, der ihnen die Kämpfer eingebrockt hatte. »Nun wird uns Dr. Wenzel leider verlassen« – wieso leider? Karen wußte, daß die beiden sich auf den Tod nicht ausstehen konnten. »Und jetzt hoffen wir auf weitere glückliche Zusammenarbeit!« Diesmal zuckte niemand der Anwesenden auch nur mit der Wimper.
Karen ließ die Szene noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Ihre Reflexe mußten so gelähmt gewesen sein, daß sie erst gar nicht merkte, was gespielt wurde. Zacharias hatte sich im Schreibtischsessel weit nach hinten gelehnt, mit dem teuren Montblanc gewedelt, unentwegt gelächelt und unentwegt geredet, das übliche Geschwafel, sie hörte seit Jahren nicht mehr hin. Bis der Abteilungsleiter, mit der ihm eigenen Vorliebe für verkürzte Satzbildung, sagte:
»Und solange der Kollege Wenzel noch verfügbar ist, liebe Kollegin Stark – und angesichts des Urlaubs, den Sie noch zu nehmen haben – die Frau Dr. Kämpfer wird sicherlich...«
Sie hatte erst gar nicht verstanden. Und dann war ihr heiß geworden vor Zorn. Sie sollte abgeschoben werden. Man wollte sie weghaben. Damit Kollegin – Dr.! – Kämpfer ein freies Feld hatte, um sich unentbehrlich zu machen?
»Aber ich...«
Zacharias wedelte ihr beschwichtigend zu. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Fälle sind bei Angelika... bei Frau Dr. Kämpfer in besten Händen.« Er drohte doch tatsächlich neckisch mit dem Füllfederhalter. »Auch Ihr Lieblingsfall – wie hieß sie noch? Eva Rauch...«
In den Fall Eva Rauch hatte sie tatsächlich beträchtliche Energie gesteckt – ohne sie wäre der Vorgang in der Ablage gelandet. Sie war mit der Sache so beschäftigt gewesen, daß sie dafür das eine oder andere hatte schleifen lassen. Selbst Wenzel war maßvoll ungeduldig geworden. Und nun sollten die Früchte dieser Arbeit der Neuen in den Schoß fallen. Sie war zu verblüfft, ach was: zu schockiert gewesen, um zu protestieren.
»Ob Sie mir alles Nötige bald zukommen lassen würden, Frau Kollegin?« hatte die Kämpfer gleich hinter der Tür, die der Abteilungsleiter ihr mit großer Geste aufhielt, kühl gefragt. »Eine Einweisung ist nicht vonnöten, ich werde sicherlich mit der Aktenlage auskommen. Sagen wir – bis morgen?«
Karen hatte wie betäubt genickt.
»Die Sache bleibt ja unter Frauen«, murmelte Wenzel im Vorübergehen.
»Ich glaube nicht, daß das in diesem Zusammenhang...« Karen sah mit Genugtuung, daß die Kämpfer nicht mehr ganz so gelassen guckte, grinste sie an, drehte ihr den Rücken zu und folgte Wenzel in die Kantine.
Erst auf dem Weg zurück ins Büro erreichte sie die Botschaft mit voller Wucht. Sie war vor aller Augen gedemütigt, gekränkt, beleidigt worden. Man schickte sie wie einen Pflegefall in den Urlaub. Und wenn sie zurückkäme, hätte Kollegin Kämpfer eine strategische Position nach der anderen besetzt und würde ihr das Leben versauen, bis sie endlich entnervt um Versetzung nachsuchte und in der Abteilung für Jugend- und Jugendschutzsachen landete.
In ihrem Zimmer angekommen, schlüpfte sie aus den Schuhen, ließ sich im Waschkabinett kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, setzte sich an den Schreibtisch und legte die Beine hoch. Nach zwei Minuten hatte sich ihr Puls wieder normalisiert. Urlaub, dachte Karen Stark, ist gar keine schlechte Idee.
Und weil sie sich nicht nachsagen lassen wollte, sie sitze auf ihren Fällen wie die Fliege auf dem Handkäs’, ließ sie den Justizwachtmeister die Akten schon nach einer halben Stunde zu Angelika Kämpfer hinüberschaffen. Seitdem hatte sie die neue Kollegin nicht mehr gesehen.
In der Garderobe des Trainingsclubs schlüpfte sie aus den nassen Klamotten und stellte sich unter die Dusche. Sie war, seit sie mit dem Training wieder angefangen hatte, deutlich schlanker geworden. Mehr Muskeln, weniger Fett. Mehr Sprungkraft.
Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht, dachte sie und ballte versonnen die Faust.
Die Fingernägel müßten auch mal wieder lackiert werden.