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Beaulieu

Alle verstummten, als Alexa das Maison de la Presse von Charles Durand betrat. Der alte Rogier, der in der Ecke seinen Lottoschein ausfüllte, schaute hoch, runzelte die Stirn bei ihrem Anblick und schaute gleich wieder hinunter. Adele, die Bäckersfrau, blätterte fahrig in einer Zeitschrift. Und Durand selbst schien der kleinen dicken Sylvie, die zwei Päckchen Zigaretten in der Hand hielt, noch schnell etwas zuzuflüstern, bevor er sich mit einem reservierten Lächeln Alexa zuwandte.

Normalerweise war ihr Französisch fließend – nur diesmal wollte es ihr fast die Sprache verschlagen. Alle schienen darauf zu warten, daß die Deutsche erledigte, was sie hergeführt hatte, damit sie sich endlich wieder ungezwungen unterhalten konnten. Alexa hob den Rucksack, den sie mitgebracht hatte, umständlich und mit beiden Händen hoch und stellte ihn auf den Stapel »Le Dauphine du Sud«, der vor dem Tresen lag. Durand sah erst den Rucksack, dann, mit zusammengezogenen Augenbrauen, Alexa an. Dann blickte er in die Runde.

Es war, als ob jemand eine Spieldose aufgezogen hätte, auf der sich Figuren bewegten. Sylvie schlängelte sich an Alexa vorbei zum Ausgang. Adele winkte mit der Zeitschrift.

»Ein Euro«, sagte Durand. Die Bäckersfrau schielte seitwärts nach Alexa und kramte in der Schürzentasche nach dem Geld.

Der alte Rogier legte den Lottoschein auf den Tresen und hielt zwei Finger an die Krempe seiner Baskenmütze.

»Ich schreib’s auf«, sagte Durand.

Endlich ging auch Adele. Charles Durand fuhr sich mit der Hand durch das dichte kastanienbraune Haar. Er war noch halbwegs jung, sicherlich noch keine 35, hatte das Gesicht eines melancholischen Hamsters und wirkte trotzdem immer nervös. Wahrscheinlich, dachte Alexa, überschlug er bei jedem Kunden die Jahresbilanz.

»Ada Silbermanns Rucksack.« Durand klang nicht überrascht. Er ging voran in den angrenzenden Raum, in dem er eine Art Fotostudio eingerichtet hatte.

Sie stellte den Rucksack auf den Tisch, unter dessen Glasscheibe Beispiele der gängigen Formate und Qualitäten für Fotoarbeiten lagen, und holte die Kamera heraus. Charles Durand öffnete das Futteral, noch bevor sie selbst es tun konnte. Dann strich er beinahe zärtlich über den Fotoapparat.

»Ada Silbermanns Leica.«

Alexa nickte stumm.

Er hielt den Apparat in beiden Händen – wie ein Priester die Monstranz. Dann sah er hoch.

»Sie ist ein Kunstwerk. Eine Kostbarkeit.«

Alexa fühlte sich kleinlaut angesichts so viel Verehrung. »Kann man denn noch fotografieren – damit?«

Durand sah sie an, als ob sie behauptet hätte, daß Tomaten auf Bäumen wachsen. »Aber Mademoiselle: Eine Leica ist ein Präzisionsinstrument, unendlich haltbar, das ist deutsche Wertarbeit.« Er lächelte spöttisch. »Sie war die Lieblingskamera von Ada Silbermann. Warum sie niemand mitgenommen hat...«

Alexa hatte das Gefühl, immer kleiner zu werden. »Ich wüßte nur gerne, wie...«

Durand sah erst sie an und dann die Leica.

»Aber – Sie haben ja schon fotografiert mit dieser Kamera!«

Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie schüttelte den Kopf.

»Also nicht. Hmmm.« Durand legte den Apparat behutsam auf den Tisch. »Ich meine nur... Es liegt ein Film in der Kamera. Elf Aufnahmen sind bereits belichtet. Soll ich den Film entwickeln?«

Alexa zögerte einen Moment.

»Also wenn er noch von Ada ist... Dann liegt er schon fast ein Jahr in der Kamera.« Durand wiegte den Kopf.

Können Filme verderben? Alexa hatte keine Ahnung.

»Andererseits – da es ein Schwarzweißfilm ist... Vielleicht möchten Sie den Rest ja erst verknipsen?«

Plötzlich störte sie sein gönnerhafter Ton. »Wie viele Aufnahmen kann ich noch machen?«

»25«, sagte Durand und schien sich über die Frage zu wundern.

Er mußte sie für unendlich dumm halten. Alexa atmete tief durch. »Ich – mache den Film erst voll, danke.«

»Aber natürlich. Kann ich sonst noch etwas...?«

Fast hätte sie den Kopf geschüttelt und wäre gegangen. Und dann sagte sie es doch: »Ich möchte gerne wissen, wie der Apparat funktioniert.«

Der Ladenbesitzer sah sie an, als ob er eine Erscheinung hätte.

»Ich möchte fotografieren lernen.« Alexa fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Er glaubte hoffentlich nicht, sie wolle eine zweite Ada Silbermann werden. »Ich meine – ich bilde mir nicht ein...« Sie holte die anderen beiden Objekte aus dem Rucksack.

Charles Durand nahm eines nach dem anderen in die Hand. »Ein Objektiv«, sagte er. »Und ein Visoflex.« Plötzlich lächelte er. Wieder strichen seine Finger über das Lederfutteral der Leica. »Sie hat eine eigene Seele, wissen Sie.«

Als sie eine halbe Stunde später ging, hatte sie nicht das Gefühl, auch nur irgend etwas verstanden zu haben. Außer dem einen: Charles Durand hatte Ada Silbermann bewundert. Und: er hatte sich aus irgendeinem Grund vor ihr gefürchtet. Warum? Was war beängstigend an einer Fotografin? Und warum war sie plötzlich neidisch auf die verschwundene Frau?

Das Kind hatte immer geglaubt, es sei etwas Besonderes. Als das Kind erwachsen wurde, merkte es eines Tages, daß niemand sonst es für etwas Besonderes hielt. Es konnte nichts, es wollte nichts, es hatte nichts gelernt.

Wer braucht schon Prinzessinnen.

Es zog von zu Hause aus und nahm ein Studium auf, das es nicht interessierte. Edwin Schwarz bezahlte. Es wollte Kostümbildnerin werden, dann Modedesignerin, dann Werbegrafikerin. Daraus wurde nichts, aber Edwin Schwarz bezahlte. Die Prinzessin kellnerte abends in der Kneipe und jobbte tagsüber in der Werbeagentur eines Freundes. Sie ließ Edwin Schwarz trotzdem Geld schicken. Er hatte ja genug davon.

Er hatte soviel davon, daß der Prinzessin schwindelig wurde bei der Testamentseröffnung. Nie hatte sie ihn so vermißt wie in diesem Moment, als sein Tod sie reich, unabhängig und einsam machte. Sie kam sich ganz und gar unnütz vor – die Millionenerbin Alexa Senger war so ziemlich das Unnötigste, was sie sich vorstellen konnte.

Eine Weile versuchte sie, so zu tun, als ob nichts weiter geschehen wäre. Sie ließ sich von einem Callcenter anheuern. Sie erledigte die Schreibarbeiten für ein Holzlager – so lange, bis der Prokurist mit den weichen Händen und den hervortretenden Augen glaubte, sie brauche einen Begleiter und er sei der Richtige dafür. Danach nahm sie einen Job in der Rechnungsabteilung eines Espressomaschinenherstellers an. »Haben Sie das eigentlich nötig, Frau Senger?« fragte die Büroleiterin eines Tages mit zitternder Stimme. »Müssen Sie sich lustig machen über uns?«

Die Prinzessin war nicht auf die Idee gekommen, daß andere es womöglich nicht schätzten, wenn jemand freiwillig und ganz ohne Not tat, was sie tun mußten.

Oft dachte sie, daß das viele Geld Edwin Schwarz’ subtile Rache war. Sie hatte zum Glück der beiden nichts beigetragen, im Gegenteil, sie hatte es ihnen getrübt, wo immer sich eine Chance bot. Siehst du, sagten Edwins Millionen nun zu ihr: Du kannst nichts. Niemand braucht dich. Ohne uns bist du gar nichts.

Aber Rache paßte nicht zu Edwin Schwarz. Er liebte seine Frau und um ihretwillen auch die undankbare Stieftochter. Und das war die schlimmste Strafe: der Tod der beiden in der kalten See, in die die Piper gefallen war, an einem nebligen Herbstabend, nach einem Kurzurlaub auf Sylt.

»Sie müssen jetzt ruhig bleiben«, hatte der Polizist gesagt, der ihr die Nachricht überbrachte. Aber sie war in dem Moment ganz ruhig gewesen. Sie ahnte, daß sie wieder zu spät war, wieder den Zeitpunkt verpaßt hatte.

Wie immer.

Alexa mußte den Rucksack abstellen, um das schwere Tor aufschließen zu können. Auf der Treppe flog ihr Felis entgegen, mit einem spitzen Schrei, der klang, als ob sie sich darüber beschwerte, so lange allein gelassen worden zu sein. Alexa futterte und streichelte das Tier ohne die sonst übliche Hingabe. Dann legte sie den Rucksack auf den großen Eßzimmertisch und hob die Kamera, das Objektiv und das, was Durand »Visoflex« genannt hatte, heraus.

Erst setzte sie das Objektiv ein. Die Leica ist eine Sucherkamera, hatte Durand erklärt, man sieht also, auch mit Teleobjektiv, die Dinge, wie sie sind – nicht vergrößert. Sie blickte durch den Sucher. Er hatte recht. Dann setzte sie das Visoflex auf die Kamera, ein Teil, das wie eine Haube aussah. Es verwandelt die Sucherkamera in eine Spiegelreflexkamera, hatte Durand doziert. Das mochte schon sein, aber sie interessierte der Effekt, den das hatte: Sie konnte auch ferne Objekte nah heranholen.

Es fiel ihr nicht leicht, den Apparat so zu balancieren, daß er gut in der Hand lag. Am einfachsten war es, wenn sie sich hinsetzte, sich zurücklehnte, die Kamera mit der rechten, das Objektiv mit der linken Hand hielt und in den Himmel blickte.

Sie versuchte, dem roten Motordrachen zu folgen, der über ihr Richtung Abendsonne flog. Sie hatte schon immer sehen wollen, wer da fast täglich in dem brummenden Fahrzeug durch die Luft flog, hinter dem ein Werbebanner flatterte. Letzte Woche hatte das Banner für einen Besuch in der Grotte von Orgnac geworben, gestern für das Volksfest mit Eselsrennen in Beaulieu. Sie drehte das Objektiv weit heraus und versuchte, die Schärfe richtig einzustellen. Sie hatte bislang nur Kameras gekannt, die das von alleine taten.

Die winzige Gestalt in dem seltsamen Gefährt da oben schien sich herauszulehnen und ihr zuzuwinken. Mehr konnte sie nicht erkennen. Sie folgte ihr, bis der Kirchturm den Motorflieger verdeckte. Alexa senkte die Kamera ein wenig. Die Reihe Häuser unterhalb der Kirche rückte plötzlich ganz nah heran. Sie mußten alle mindestens so alt sein wie ihres.

Das Dach des einen war frisch gedeckt, ein anderes trug Schindeln aus grauem Schiefer, zwischen denen Gras zu wachsen schien; die unebenen Platten sahen aus wie ein Federkleid. Oder wie glänzende Fischschuppen. Zwei weitere Dächer waren bedeckt von den für diese Gegend typischen dunkelrot gebrannten Dachpfannen, die an überdimensionierte, längs geteilte Makkaroni erinnerten und »Nonne und Mönch« hießen, weil sie wie zwei Hände ineinandergelegt wurden. Sie ging mit der Kamera etwas höher. Über den Dächern erhob sich ein Wald aus Schornsteinen und Kaminen, einer bizarrer als der andere.

Der schönste sah aus wie ein maurisches Minarett, er war rund und mußte einstmals blau angestrichen gewesen sein. Oben trug er einen spitzen Hut mit vielen Öffnungen, wie bei einem mittelalterlichen Taubenturm. Auf einem schmaleren Schornstein schräg daneben lag eine Platte, darauf spitze Steine – wie kleine Pyramiden oder Stalagmiten –, darauf wieder eine Platte. Links davon hatte man etwas auf den Schornsteinkranz montiert, das wie ein großer Hundeknochen aussah. Oder wie eine Hantel. Auf einem anderen Schornstein stand eine Art Hocker, auf einem weiteren eine metallene Kugel, die sich zu drehen schien.

Beim größten drückte sie den Auslöser: es war ein behäbiger, wie der Rumpf eines Kahns gebauter Kamin mit einem Spitzdach aus zwei gegeneinander gelegten Steinplatten. Es war eine friedliche Welt, die Welt der Schornsteine. Sie fühlte sich aufgehoben da oben in der Versammlung von geselligen Einzelgängern.

Sie war so versunken in die Bilder, die sie durch das Auge der Kamera sah, daß sie die Musik gar nicht wahrnahm. Erst ein rauschendes Crescendo riß sie aus ihren Betrachtungen. Es war nicht das erste Mal, das aus dem schmalen Haus mit dem Erker das ganze Dorf beschallt wurde. Sein Besitzer liebte große Orchesterklänge, schmetternde Bläser, satte Streicher. Sie hatte sich schon oft gefragt, wer sich nicht genierte, ein Bergdorf am Rande der Cevennen mit klassischer Musik zuzudröhnen. Sie senkte die Leica.

Sie hatte den schlanken Mann mit den kurzen Locken und der unauffälligen Brille erst ein einziges Mal gesehen – im Dorf, als er gerade das Maison de la Presse von Monsieur Durand verließ. Seltsamerweise hatte sie den Mann für den Bruchteil einer Sekunde für ihn gehalten, fast hätte sie nach ihm gerufen – dabei sah er ganz anders aus. Und älter war er auch.

Jetzt saß er auf dem Fenstersims des Erkers, wie sie gerade noch sehen konnte, wenn sie sich weit vorbeugte. Er hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Abendsonne und gab mit der rechten Hand den Takt an für die Musik, die aus den weit geöffneten Fenstern rauschte. Sie versuchte, das Objektiv schärfer einzustellen, den Mann näher heranzuholen. In diesem Moment sprang Felis auf ihren Schoß.

Als sie Sekunden später die Kamera wieder gerade hielt, schien der Mann direkt in die Linse zu starren. Sie konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen, doch die Bewegung, mit der er ihr den Rücken zudrehte, war unmißverständlich. Er verschwand im Inneren des Hauses. Die Musik wurde leiser. Fast schämte sie sich, daß sie ihn beobachtet hatte – nein: daß er sie erwischt hatte dabei.

Kurz entschlossen ging sie ins Schlafzimmer, tauschte die Sandalen gegen Turnschuhe, schüttete Trockenfutter in Felis’ Napf, hängte sich den Rucksack mit der Kamera um und verließ das Haus.

Der alte Crespin saß zu ihren Füßen, als sie das Tor aufmachte – auf dem Boden, den Rücken an die Mauer gelehnt, die Beine in den hellblauen Hosen von sich gestreckt. Er saß oft vor dem Tor. Viele alte Männer hatte sie schon an den Straßen und Gäßchen sitzen sehen, nicht auf einer Bank, nicht auf einem Stuhl, sondern auf dem Boden, die Baskenmütze in den Nacken geschoben, eine Zigarette im Mundwinkel.

Er blickte zu ihr auf und legte zum Gruß zwei Finger an die Schläfe. Dann sah er den Rucksack. Er wiegte den Kopf »Hat Ada ihren Rucksack dagelassen? Wie merkwürdig.«

»Was ist daran merkwürdig?« Außerdem, dachte Alexa, hatte doch sicherlich Ernest Silbermann den Rucksack dagelassen, nicht Ada.

»Sie nahm ihn immer mit, wenn sie spazierenging. Und an jenem Tag wollte sie angeblich ins Tal von Rochepierre.« Crespin runzelte die Stirn.

»Und das hieße...?«

Der alte Herr zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Vielleicht ist sie gar nicht spazierengegangen. Vielleicht wollte sie einmal nicht fotografieren.« Man sah ihm an, daß er das eigentlich für unmöglich hielt.

Alexa fühlte sich auf verbotenem Terrain. Was um Himmels willen wollte sie mit der Lieblingskamera Ada Silbermanns, einer bekannten Fotografin?

»Ich fotografiere Schornsteine«, sagte sie, als ob sie sich entschuldigen müßte.

Der Alte verzog den schmalen Mund zu einem Lächeln und wiegte wieder den Kopf. »Ada hat sich mehr für Menschen interessiert. Manchmal zu sehr – vielleicht.« Er breitete die Hände aus und blinzelte in den Himmel. »Es wird noch heißer werden«, sagte er. »Wüstenwind.«

Alexa zog das Tor ins Schloß und drehte den großen Schlüssel zweimal um.

»So einen Sommer haben wir seit Jahren nicht gehabt. Ich erinnere mich nur an ein Jahr, in dem es ähnlich heiß war. Damals...« Der Alte senkte das Kinn auf die Brust und runzelte die Stirn.

Alexa zögerte. Am liebsten hätte sie ihn ausgefragt. Nach Ada, nach dem Haus, nach der Geschichte der Menschen, die hier gelebt hatten...

Sie faßte den Gurt des Rucksacks fester und lief los.

Die Fotografin

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