Читать книгу Die Fotografin - Anne Chaplet - Страница 7

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Wenn du nur einmal die Teetasse auf dem Küchentisch stehengelassen hättest und das Frühstücksbrettchen mit dem gebrauchten Buttermesser. Wenn du wenigstens die Wohnungstür hinter dir zugeschlagen hättest. Aber du bist gegangen wie an jedem anderen Tag: spurlos und lautlos. Voller Rücksichtnahme. Mit gebundenem Schlips, gebügelten Hosen, tadellos sitzendem Jackett, die Mütze unterm Arm. So wie immer. Nur einen Zettel hast du dagelassen auf dem Küchentisch: »Bin rechtzeitig zurück.«

Hättest du es nicht wenigstens an diesem Tag anders machen können? Dich auf die andere Seite drehen, verschlafen, dein Pflichtgefühl vergessen?

Dumme Frage. Es wäre dir nicht in den Sinn gekommen. Niemals hättest du das Auto in der Garage gelassen, den Luxusschlitten, auf den du stolzer warst, als wenn es dein eigener gewesen wäre, und dessen technische Daten du herunterbeten konntest wie die Meisterschaftssiege von Hertha BSC – der neue Mercedes 560 SEL. Cremeweiß. Acht Zylinder. 300 PS.

Was wäre schon passiert, wenn du ihn nicht vom Flughafen abgeholt hättest, den Herrn? Wenn er sich ein Taxi hätte nehmen müssen? Undenkbar? Bestimmt warst du mindestens eine Viertelstunde zu früh da. »Sicher ist sicher«, höre ich dich sagen. Und: »Wer weiß, wozu es gut ist.«

Sicher ist sicher.

Und so seid ihr ins Büro gefahren. Du hast gewartet, während er Telefongespräche erledigte und die Unterschriftenmappe durcharbeitete. Du hast ihn zur Sitzung nach Bonn gefahren und dann noch einmal zurück ins Büro. Und dann...

»Bin rechtzeitig zurück.« Ein Zettel auf dem Küchentisch. Jetzt liegt er im Fotoalbum, mehrfach zusammengeknüllt, ebensooft wieder auseinandergefaltet und glattgestrichen.

Das Fußballspiel ging übrigens 2:2 aus. Ich habe alleine vor dem Fernseher gesessen und geheult bei jedem Tor.

Du hättest es schaffen können. Es war erst 17 Uhr, als du ihn nach Hause fahren durftest. Alles hätte gutgehen können, für dich, für ihn, für Lemperle (25), Seiler (41), Brandi (32). Es war ein milder Tag im Spätsommer 1986, der Himmel leicht bewölkt, eine Ahnung von kühleren Tagen schon in der Luft, auf den Straßen sicherlich nicht mehr Verkehr als üblich. Und du kanntest die Strecke im Schlaf.

Hast du wirklich nie Angst gehabt? Bist du nie nachts aufgewacht und hast dir ausgemalt, was passieren könnte, wenn?

Wenn du wenigstens eine andere Strecke gefahren wärst als die gewohnte, die vertraute. Aber du mochtest die Merkstraße mit ihren vielen schäbigen Lädchen und dem Getümmel auf den Bürgersteigen, die Würstchenbude am Ebertplatz, an der zu jeder Tageszeit jemand mit der Bierflasche in der Hand herumsteht. Du liebtest das Blumengeschäft, vor dem im Herbst immer dicke gelbe und rote und bronzefarbene Chrysanthemen standen. Heute kann man da Brillen kaufen. Den Friseurladen, »Salon Frenzl, Damen und Herren«, gibt es noch, aber seit zwei Jahren steht über der Tür mit lila Schrift auf weißem Hintergrund »Gitti’s Langhaarkonzept«.

Es war Montag. Montags haben Friseurgeschäfte zu. Und du durftest sowieso alles nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen, das hast du jedenfalls immer behauptet. Weil du dich konzentrieren mußtest, denn hinter dem Friseurladen wird die Straße breiter, der Verkehr dichter. Hast du wenigstens einen Blick gewagt zu den letzten Rosen in den Vorgärten vor den Gründerzeithäusern? Saßen noch Gäste an den langen Holztischen im Gärtchen vor dem Italiener, der heute ein Thailänder ist?

Immer bist du hier entlanggefahren. Ein Mann, treu wie Gold, der schon zehn Meter vor einer Ampel den Fuß vorsorglich vom Gas nahm und vor jedem Zebrastreifen bremste. Und der nie zugeben wollte, daß ihn der Job ein bißchen mürbe gemacht hat im Laufe der Jahre. Weshalb du eines Tages eine Matte aus dicken braunen Holzkugeln auf den edlen Ledersitz der Limousine geschnallt hast – »darauf schwören Taxifahrer«, hast du behauptet. Der Herr nahm es mit Humor. »Solange nicht demnächst ein gehäkelter Klorollenüberzieher auf der Hutablage liegt«, soll er gesagt haben.

Du hättest noch eine Chance gehabt. Vielleicht hättest du noch eine Chance gehabt, wenn du vorzeitig Richtung Luisenstraße abgebogen wärst, vor der großen Kreuzung, in deren Mitte heute wieder der Mozartbrunnen steht. Und dann, nur eine Seitenstraße weiter...

Aber das hättest du nur gemacht, wenn da mehr als ein vager Verdacht gewesen wäre. Ein deutlicher Hinweis. Etwas, das vermocht hätte, dich herauszureißen aus deiner geordneten Welt, in der »so was« nicht möglich war. Eigentlich nicht möglich war. Denn natürlich war sie längst in Unordnung, deine Welt, sonst wären Lemperle, Seiler und Brandi nicht hinter euch gewesen in ihrem dunkelblauen Opel, als ihr um 17.25 durch die Friedrich-List-Straße in westliche Richtung fuhrt, sonst hättest du nicht eine Walther P 1 im Handschuhfach liegen gehabt, geladen. »Da liegt sie gut«, sagtest du immer, wenn Mutter klagte, daß sie dir dort nicht weiterhelfen würde, im Falle des Falles.

Ich hätte sie zu gerne einmal in die Hand genommen. »Das ist nichts für Kinder«, hast du geantwortet. Ich war beleidigt. Ich war schon fünfzehn.

Da wart ihr nun, kurz vor dem Ziel. In die Eichendorffstraße konnte man von der Friedrich-List-Straße aus nicht einbiegen, die ist Einbahnstraße. Das ist noch heute so. Also bist du rechts ab in die Moritzstraße gefahren, dann einmal um den Block, um so in die Eichendorffstraße zu gelangen, zur Wohnung, zur Nummer 10.

Du konntest nicht anders fahren. Sie wußten, daß du nicht anders fahren konntest. Aber war damit zu rechnen, wie abrupt du bremsen würdest, als du abgebogen bist in die Moritzstraße und es liegen gesehen hast? Ein Profi guckt in den Rückspiegel, bevor er auf die Bremse tritt, hast du mir immer erklärt. Galt das nicht für dich? Hast du nicht gesehen, wie nah der dunkelblaue Opel hinter dir war? Oder – war es der Schock?

Was hast du gesehen, als du es gesehen hast, das rote Kinderfahrrad mitten auf der Fahrbahn? Ein Kind? Dein Kind?

Nach allem, was man weiß, gab es kein Kind in der Moritzstraße um 17.25. Nur ein Kinderfahrrad und einen erfahrenen, zuverlässigen, routinierten Chauffeur, der gebremst haben muß wie der Teufel. So heftig, daß das Begleitfahrzeug mit den drei Polizisten hinter ihm auffuhr.

Hast du den Schweinen die Arbeit abnehmen wollen? WARST DU LEBENSMÜDE?

Du hast gebremst. Ich höre und sehe das alles vor mir, seit sechzehn Jahren, immer wieder – als ob sie es damals live im Fernsehen übertragen hätten. Das Kreischen der Bremsen. Dann ein dumpfer Laut, Glas zerbirst, knirschend schiebt sich der dunkelblaue Opel auf den cremeweißen Mercedes (den Opel konnte man vergessen hinterher, der Mercedes hatte kaum eine Beule). Dann sekundenlange Stille. Und dann – Silvesterfeuerwerk. Getacker von zwei HK-43. Der Aufprall von 118 Kugeln auf Metall, Glas, Lederpolster, auf menschliche Körper. Splitterndes Glas, Schreie vielleicht. Dann wieder Stille. Dann Motorengeräusch, der charakteristische Sound eines älteren VW-Bus-Motors. Das Quietschen von Reifen. Und dann, schon aus der Ferne, wütendes Hupen, als das Fluchtfahrzeug bei Gegenverkehr aus beiden Richtungen über die Kreuzung fährt.

Hast du das mitgekriegt? Was hast du gehört in der plötzlichen Stille? Wie das Blut aus fünf durchlöcherten Männerkörpern auf das Pflaster tropfte?

Du hast nicht mehr nach deiner Pistole greifen können, die lag weit weg. Du hattest keine Chance. Hast du ihm wenigstens in die Augen gesehen, dem Mann, der auf die Kühlerhaube des Wagens gesprungen war und ein ganzes Magazin in dich hineinpumpte? Welche der Kugeln hat dich schließlich getötet? Eine der dreizehn, die man in Kopf und Hals gefunden hat, eine der sieben, die in deine Brust gedrungen sind, eine der fünf, die deinen Bauch getroffen haben?

Hast du geschrien? Etwas gesagt? Etwas gedacht? Etwas – getan?

Ich habe die Schußkanäle in deinen weißgebluteten Händen gesehen, später. Du mußt sie dir vors Gesicht geschlagen haben.

Schade um Lemperle, Seiler und Brandi. Aber es war ihr Job, sie wurden dafür bezahlt.

Schade um den Herrn Aufsichtsrat. Berufsrisiko.

Aber du? Wofür mußtest du bezahlen?

Und wofür ich?

Die Fotografin

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