Читать книгу Die Fotografin - Anne Chaplet - Страница 12
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ОглавлениеFrankfurt am Main
Nichts, fand sie, erinnerte in ihrem Gesicht an die Person, die sie einmal gewesen war. Dorothea v. Plato musterte ihr Spiegelbild mit zusammengezogenen Augenbrauen. Nicht nur, weil sie älter geworden war; ein Tatbestand, der keinen Zweifel duldete. Sie schaltete das Licht im Badezimmer an. Die Haut unter den Augen war dünn und empfindlich geworden. Die braunen Flecken an der Schläfe unterhalb des Haaransatzes waren neu – und die Kerbe über der linken Augenbraue? Hatte sie die schon mal gesehen? Sie drehte den Kopf zur Seite. Das Gesetz der Schwerkraft: ihr Kinn war auch nicht mehr so gerade und straff wie früher.
Dorothea v. Plato legte die Fingerspitzen an die Schläfen und zog die Haut sanft nach oben. Das machte zwar ein paar Jahre jünger, aber auch so war die junge Frau nicht wiederzuerkennen, an die sie so ungern dachte. Die Frau mit dem kurzsichtigen Blick, dem verlegen lächelnden Mund, dem unordentlichen Haar. Nach einer Weile ließ sie die Hände sinken.
»Nie wieder jung! Endlich erwachsen!« flüsterte sie. Der einzige Haken daran war das Älterwerden, waren die glanzlos und dünner gewordenen Haare, die feinen Linien, die sich um ihren Mund gelegt hatten wie Plissee. Sie versuchte erst gar nicht, sie zu zählen.
Nie wieder jung sein. Nie wieder so verzweifelt und so unbedarft sein, so traurig und so unsicher. So unglücklich. Sie hatte alles getan, damit nichts mehr erinnerte an die ungelenke Frau, die rot wurde und stotterte, wenn man sie ansprach. Die an den Fingernägeln kaute, manchmal jedenfalls. Die sich ständig entschuldigte. Und sie wollte auch von niemandem daran erinnert werden.
In ihrem Bekanntenkreis käme sowieso niemand auf die Idee, daß die Frau von damals etwas mit der von heute zu tun haben könnte. Es war, als hätte sie sich mehrfach gehäutet, alles Ungefähre und Unsichere abgelegt. Heute setzte sie Schwäche nur noch gezielt ein, weil die Leute es mochten, wenn man sich ab und zu menschlich gab. Theoretisch wußte jeder, daß auch die Mächtigen der Welt mal klein angefangen hatten – aber kaum jemand vermochte es sich vorzustellen. Dorothea v. Plato lächelte ihr schönstes Siegerlächeln. Sie verließ sich auf die Aura der Macht.
Manchmal fragte sie sich, wie es wohl wäre, wenn einer aus ihrem früheren Leben auf sie zukäme, unbeeindruckt von dem, was sie heute darstellte. Einer, der »Wie hast du dich verändert!« rufen würde oder »Weißt du noch? Wie du damals blind wie eine Eule...« Wahrscheinlich würde sie ihn noch nicht einmal wiederkennen.
Nur an einen erinnerte sie sich gut, sie hatte sich all die Jahre an ihn erinnert – ausgerechnet an ihn, bei dem ihr das Vergessen besonders gut bekommen wäre. Immer, wenn sie an ihn dachte, ballte sich in ihrem Magen eine Mischung aus Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu einem Klumpen aus Feuer und Eis und brannte sich den Weg die Speiseröhre hoch.
Dorothea spitzte den Konturenstift an und zog die Lippen nach, bürstete ihr Haar nach hinten, sprühte großzügig Haarspray darüber und warf sich einen letzten kritischen Blick zu im Spiegel. Dann schlug sie die Badezimmertür hinter sich zu. Was würde sie sagen, wenn er plötzlich vor ihr stünde?
Wenn sie seinen wirren Brief richtig verstand: Genau das schien er anzudrohen.
Dorothea v. Plato nahm das Kuvert auf, das sie auf die Vitrine im Flur geworfen hatte. In ihrer Ungeduld war es ihr nicht gelungen, die vielen Seiten wieder richtig in den Umschlag zu stecken. Erst hatte sie nicht begriffen, zu wem die unordentliche Handschrift auf dem Umschlag und der phantasievolle Einsatz von Grammatik und Orthographie gehörten. Und dann war ihr kalt geworden. Wollte er wirklich zurückkommen? Nach all den Jahren? In »die Heimat«, wie er rührenderweise schrieb?
Oder wollte er sie, völlig unromantisch, erpressen?