Читать книгу Die Fotografin - Anne Chaplet - Страница 13
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In der Nacht war das Gewitter zurückgekehrt. Der Sturm weckte sie. Alexa bildete sich ein, noch nie ein vergleichbares Geräusch gehört zu haben. Es brauste nicht, was da mit Urgewalt vor dem Fenster vorbeifegte, es orgelte. Sie setzte sich auf. Felis kam mit gesträubtem Fell zur Schlafzimmertür herein und kroch unter die Bettdecke, wo sie sich zwischen Alexas Beinen zusammenrollte.
Ausnahmsweise hatte sie keine Angst, auch nicht, als der Donner in immer kürzeren Abständen auf den Blitz folgte. Und als das Licht in der Nachttischlampe flackerte und ausging. Endlich setzte der Regen ein, erst zaghaft, dann heftiger.
Sie wickelte sich fester in die dünne Decke und sog die kühle Luft ein, die durch das geöffnete Fenster hereinwehte. Es war viel zu heiß gewesen die ganze Zeit und viel zu trocken, Menschen, Pflanzen, Steine und Tiere hatten sich gesehnt nach einem Regenguß. Nach einer Weile dämmerte sie wieder ein. Als sie erwachte, war die Luft frisch, der Himmel, den sie durchs hohe Fenster des Schlafzimmers sehen konnte, blau und sie hatte tief geschlafen. Ohne Albtraum.
Felis war schon wieder verschwunden, wahrscheinlich streifte das Tier durch die Gewölbe, die in den Fels gehauenen Caves. Dort unten würde es jetzt kühl und feucht sein, das Wasser lief bei jedem Regen in kleinen Rinnsalen aus den Felsen, als ob sie ein Schwamm wären, den jemand ausquetschte.
Plötzlich sah sie ihn vor sich, wie er damals morgens ins Schlafzimmer gekommen war, in Jeans, mit weißem Hemd, das seine Haut noch brauner schimmern ließ. Er hatte verlegen ausgesehen und den Kopf zur Seite geneigt. Sie hatte das kleine Fellknäuel auf seiner Schulter erst gar nicht bemerkt.
»Sie heißt Felis.« Seine Hände legten sich behutsam um das maunzende Etwas. Er sah sie noch immer nicht an, als er es ihr in den Schoß legte.
Einen Moment lang wußte sie nicht, was sie sagen sollte. Alles in ihr sträubte sich gegen die warmen Gefühle, die in ihr hochstiegen, als das kleine Wesen zu schnurren begann. So ein Tier konnte überfahren oder gestohlen werden, weglaufen, von Hunden totgebissen oder von Uhus gefressen werden.
Endlich sah er sie an, mit diesem Blick, den sie nie hatte deuten können. »Nicht alles verschwindet, nur, weil du es liebst.«
Sie hätte fast geweint bei diesem Satz. Und dann stieg alles wieder hoch, die ganze Geschichte, als wäre sie ihr gerade erst passiert und nicht schon hundertfach in allen bunten Blättern breitgetreten worden, seit aus ihr »die Millionenerbin Alexa Senger« geworden war. Die zweiundzwanzigjährige Erbin mit der tragischen Geschichte. Deren Vater ein Held wurde, als sie zehn Jahre alt war.
Das Kind war Vaters Liebstes. Es war immer schneller an der Tür als Mutter, wenn er endlich wieder nach Hause kam. Es wurde zuerst geküßt und bekam zuerst sein Geschenk. Es wollte Vater heiraten, wenn es mal groß war. Oder wenigstens so einen wie ihn: mit breiten Schultern, braunen Augen, dunklen Locken und in einer eleganten Uniform. Und mit diesem Geruch nach Pfeifentabak und Rasierwasser.
Das Kind liebte es, wenn Besuch kam und fremde Kinder dabei waren. Dann konnte man das Spiel spielen: und welchen Beruf hat dein Vater? Es gab Kinder, die hatten nur eine Mutter, und die war dann meistens Lehrerin oder auf Halbtagsstelle. Arzt, sagten andere Kinder, oder Kaufmann. Richter. Angestellter. Und ganz zum Schluß kam das Kind dran. Das zierte sich eine Weile und sagte schließlich: Flugkapitän. Und dann waren alle ganz still.
Das Kind war Vaters kleine Prinzessin. Das sagte er jedenfalls immer, wenn er es zur Begrüßung hochnahm und herumwirbelte. Oder wenn er morgens früh wieder fahren mußte und ans Bett kam und ihm einen Abschiedskuß gab. Nie hatte das Kind den Vater böse gesehen. Nur einmal Es war wegen Mutter.
»Was soll ich nur machen?« Das Kind hatte jedes Wort verstanden, das Mutter Vater zuflüsterte, als er endlich wieder nach Hause gekommen war. »Sie hört nicht auf mich, sie gibt Widerworte, sie hat einen entsetzlichen Dickkopf. Wenn du nicht da bist, ist es ganz schlimm.«
»Petze«, hatte das Kind gedacht. »Vater mag keine Petzen.«
Aber Vater war an diesem Abend das erste Mal streng geworden. »Du folgst deiner Mutter, hast du verstanden?« Er hatte so anders ausgesehen, als er das sagte. So abweisend. So kalt. Das Kind war weinend hinausgelaufen.
Am nächsten Morgen mußte er wieder fort. Er hatte das Kind nicht zum Abschied geküßt. Oder – hatte es seinen Abschied verschlafen? Das Kind grübelte lange darüber nach. Denn am Tag darauf kam der Anruf.
Mutter stand mit grauem Gesicht in der Küchentür. »Vater ... Sie haben seine Maschine entführt.« Das Kind begriff nicht, worüber sie sich aufregte. Was konnte schon geschehen? Ihm konnte niemand etwas anhaben.
Das Kind tröstete die Mutter, für die es sich ein bißchen schämte, wegen ihrer Schwäche. Das Kind lächelte überlegen, wenn es die besorgten Gesichter von Lehrern und Mitschülern sah. Das Kind duckte sich, wenn Fremde ihm den Kopf streicheln wollten. Es wußte es besser. Es wußte, daß er es überleben würde, das, wovon man jeden Tag in den Nachrichten hörte: die Hitze, die Wüste, die bewaffneten Männer. Vater war unverwundbar. Vater würde immer nach Hause kommen zu seiner kleinen Prinzessin. Und zu Mutter.
»Wir müssen jetzt ganz tapfer sein«, sagte Mutter, als das Undenkbare geschehen war. Das Kind war so tapfer, wie man nur sein kann, wenn man sich wie versteinert fühlt. Vater war nicht zurückgekommen, er würde nie zurückkommen. Vielleicht, dachte das Kind, hatte er nicht zurückkommen wollen.
Und dann war die Welt düster geworden. Irgendwann wachte das Kind auf aus dem Albtraum und schlug mit beiden Fäusten auf die Mutter ein. Sie war schuld, ihretwegen war er tot.
»Er hat es für die Menschen getan«, hatte Mutter ganz sanft gesagt und seine Arme festgehalten. »Er mußte es tun.«
Und ich? schrie es in dem Kind. Zähle ich gar nicht?
In der Schule nannte man ihn einen Helden. »Weniger Held und dafür nicht tot wäre mir lieber«, hörte das Kind die Mutter einer Mitschülerin sagen. »Du kannst stolz sein auf deinen Vater«, sagte Onkel Heinrich und das Kind fragte sich, warum ihm dann die Tränen in den Augen standen.
Er war ein Held. Das war der einzige Zauberspruch, der half wenn das Kind aufwachte und sein Gesicht vor sich sah, seine vorwurfsvollen Augen, den Tadel hörte in seiner Stimme.
»Ich habe ihn enttäuscht«, dachte es. »Deshalb ist er nicht zurückgekommen. Aber wenigstens ist er ein Held.«
Er hatte die ganze Zeit nichts gesagt, während die Geschichte aus ihr heraussprudelte, als erzählte sie sie das erste Mal. Und seine Stimme klang mühsam beherrscht, als er endlich etwas sagte. »Alexa, dein Vater ist nicht zurückgekommen, weil er es nicht wollte. Dein Vater ist mit Gewalt daran gehindert worden. Von Leuten mit Namen und Gesichtern.«
Sie hatte ihn nicht ausreden lassen. »Ich will das nicht wissen.« Dann war sie aus dem Zimmer gelaufen.
Sie wollte es noch heute nicht wissen. Das Schicksal dieser Leute interessierte sie nicht. Was immer aus ihnen geworden war: es würde doch nichts ändern. Nichts an der Vergangenheit und nichts an dem, was sie fühlte. Es gab nur ein Mittel gegen die Angst, gegen die quälende, ewige Angst, verlassen zu werden: nichts und niemanden nahekommen zu lassen.
Nur mit Ben war sie nicht vorsichtig genug gewesen. Dabei hätte sie gewarnt sein müssen: Er war schließlich nie ganz da gewesen, er war ein Mann, der zu tun hatte und unterwegs war und wenig verriet von seinem Leben.
»Ich komme bald zurück«, hatte er gesagt und sie geküßt an diesem Morgen vor vielen Wochen. Eine Woche später rief er an. »Ich brauche Zeit, Alexa.« Sie hatte ihn kaum verstanden. Und dann der letzte Anruf. »Tut mir leid, Liebes, aber...« Dann war die Verbindung zusammengebrochen. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
Warum? Es gab keinen Streit, er hatte nichts gesagt, nichts angedeutet, nichts erkennen lassen. Im Gegenteil. Die Nacht, bevor er ging, war... Alexa spürte, wie ihr heiß wurde beim Gedanken an die Zärtlichkeit und Hingabe, mit der sie sich geliebt hatten in der warmen Luft unter dem Sternenhimmel.
Er war so abrupt verschwunden, wie er aufgetaucht war in ihrem Leben. Sie stopfte sich das Kissen fester hinter den Rücken und sah der Wolke hinterher, die draußen am Himmel vor dem Schlafzimmerfenster vorbeisegelte. Er kam er blieb er ging. Die alte öde Geschichte. Und dennoch ließ sie der Gedanke an ihn nicht los. Wenn er mich gar nicht geliebt hat, dachte sie. Wenn er mich nur benutzt hat...
Aber wäre er dann gegangen? Sie hörte die spöttische Stimme Catherines: »Na wenigstens weißt du jetzt, daß er nicht hinter deinem Geld her war!«
Das trieb sie aus dem Bett. Die ewige Grübelei machte alles nur schlimmer. Auf nackten Füßen ging sie in die Küche, goß sich ein Glas Apfelsaft ein und nahm es mit nach draußen auf die Terrasse.
Diesmal mußte sie nicht lange nach der Katze suchen, sie hörte das jämmerliche Maunzen sofort. Wie das Tier aufs Dach über der Terrasse hinaufgefunden hatte, war ihr ein Rätsel. Jetzt stakste Felis unruhig an der Dachrinne entlang und stieß verzagte Laute aus. Alexa streckte beide Arme nach oben. Eine hilflose Geste, das Dach war viel zu hoch. Sie könnte den Gartentisch heranziehen – einen Stuhl darauf stellen – und dann...
Schlag dir das aus dem Kopf, dachte sie. 80 Prozent aller Unfälle passieren im Haushalt und wahrscheinlich auf genau diese dämliche Art. Sie ging energisch zur Tür, um eine Leiter zu holen. Schon wurde das Maunzen auf dem Dach panisch. Die Angst des Tieres packte sie, sie begann, hin und her zu laufen und selbst ängstliche Laute auszustoßen.
Nach einem besonders jämmerlichen Schrei von oben blieb sie stehen. Das Tier war alleine hinaufgestiegen, dann müßte es auch alleine herunterkönnen. Tatsächlich war es von der Dachrinne aus nicht tief zur Mauer, die die Terrasse begrenzte. Sie versuchte, die Katze dorthin zu locken, aber Felis schüttelte sich nach jedem Blick in den Abgrund und flüchtete zurück aufs Dach, wo sie aufgeregt hin und her lief.
Alexa zwang sich, die Ohren vor den schreckerfüllten Lauten zu verschließen und holte die Leiter aus dem Keller. Mit Mühe gelang es ihr, sie halb getragen, halb gezogen auf die Terrasse zu bugsieren und anzulegen.
Felis’ Schreie waren leiser geworden, sie schien neugierig zuzugucken, wie Alexa sich abmühte. Verflixtes Vieh, dachte Alexa. Sie stieg ungern auf Leitern. Leitern, davon war sie fest überzeugt, rutschten ab oder kippten um. Man verfehlte eine Sprosse oder kriegte einen Schwindelanfall, wenn man oben war. Und was würde Felis tun? Ihr aus lauter Angst das Gesicht zerkratzen. Sie hatte die fünfte Sprosse erreicht und sah hinunter. Der Ausblick war atemberaubend: Er umfaßte nicht mehr nur die Terrasse, sondern auch das, was jenseits lag – ein Abgrund, der sich hinter der die Terrasse umgrenzenden Mauer auftat.
Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren. Als sie wieder hochgucken konnte, sah sie in Felis’ grüne Augen. Du hast wohl einen gutaussehenden Feuerwehrmann erwartet, du kleines Miststück, dachte Alexa und kletterte die letzten Sprossen ohne Pause hoch.
Die Katzenkrallen klickten auf dem Blech der Dachrinne, während Felis von einer Pfote auf die andere trat. »Na komm«, sagte Alexa und streckte den Arm nach dem Tier aus. Felis wich zurück. Biest, hinterhältiges! Das Biest sah aus großen Augen auf sie herab und tänzelte wieder näher. Und – drehte im entscheidenden Moment ab. So, wie normalerweise sie es machte, wenn sie mit der Katze Fangen spielte. Alexa verlegte sich aufs Schmeicheln und Locken, Felis schien sich für das Spiel zu erwärmen. Offenbar war Alexa Gegenstand eines psychologischen Experiments ihres Haustiers geworden.
Und so hätte das wahrscheinlich noch stundenlang weitergehen können, wenn sie nicht die Geduld verloren und zugegriffen hätte. Ein kurzer Protestschrei, ein bißchen Gezappel und sie hatte die Katze am Nackenfell. Sie setzte sich Felis auf die Schulter, auf der das Tier schnurrend balancierte und so tat, als wäre nichts gewesen.
Noch bevor sie unten angelangt waren, sprang die Katze ab und lief einem Schmetterling hinterher. Alexa fiel atemlos auf den nächsten Stuhl.
Dann ging sie, getragen vom Sieg über die eigenen Ängste, ins Haus und zu der Kammer mit all dem Gerümpel. Einmal mußte es ja sein.
»Einmal muß es ja sein«, hatte Mutter gesagt und das Kind unschlüssig angesehen. »Hilf Frau Kutschera«, sagte sie dann mit der müden Stimme, mit der sie seit Vaters Tod sprach, und ging in den Garten.
Frau Kutschera war im Schlafzimmer und räumte Vaters Kleiderschrank aus, in dem noch immer seine Sachen hingen. Das Kind wußte nicht, ob es stolz sein sollte auf dieses neue Vertrauen. Irgend etwas stimmte nicht, wenn man plötzlich Dinge tun durfte, die sonst streng verboten waren – Schränke ausräumen, zum Beispiel. Es hatte immer einen Riesenärger gegeben, wenn sie früher an den Geschirrschrank gegangen war. Oder an den Kleiderschrank der Mutter. An den Schuhschrank. Die Wäschetruhe. Und auf einmal war alles anders.
»Einmal muß es ja sein«, hatte Mutter gesagt und ausgesehen, als ob sie kein Wort davon glaubte.
Vaters Anzüge rochen nach Pfeifentabak und dem vertrauten Rasierwasser. Das Kind fühlte sich überwältigt von einer so tiefen Sehnsucht nach seiner Stimme, seinen großen warmen Händen, seinen liebevollen Augen, daß es beinahe doch noch geweint hätte. Das war der Duft, in den es sich hineingekuschelt hatte, wenn er nach Hause kam und es auf den Arm nahm.
Frau Kutschera sagte kein Wort, als sie Hose über Hose legte und Jackett über Jackett. Das Kind sah ihr zu. Nur als sie die schwarze Uniform aus dem Schrank holte, hätte es die Jacke mit den goldenen Litzen am liebsten an sich gerissen in einem plötzlichen Anfall von Eifersucht.
Auf dem Bett lag der Pappkarton. Den hatte der Briefträger gebracht. »Mach du auf«, hatte die Mutter gesagt und müde die Hand sinken lassen. Das Kind riß das Packpapier auf und hob den Deckel vom Karton. Obenauf lag Vaters Brieftasche. Es nahm das braune Lederding in die Hand und klappte es andächtig auf. Die Erleichterung durchströmte es wie ein kühler Windhauch: es war noch da, das Bild, das er immer mit sich herumgetragen hatte – das Bild, auf dem das Kind ihn anlächelt. Ohne die Mutter. Das Foto von Mutter steckte dahinter.
Das Kind nahm die Krawattennadel, die Manschettenknöpfe, die Sonnenbrille aus dem Karton und legte alles zu der Brieftasche auf die Bettdecke. Seine Armbanduhr lag dabei, die Schuhe hatten sie mitgeschickt. Und ganz zum Schluß fand das Kind das kleine silberne Ding. Es war eine Sankt-Christophorus-Medaille, ein Talisman, den es ihm zu Ostern geschenkt hatte, damit er immer sicher nach Hause käme. Das Kind hob sie auf, betrachtete sie ein paar Sekunden lang und warf sie mit aller Kraft in die Ecke, wo sie klirrend landete. Frau Kutschera blickte tadelnd.
Das Kind glaubte schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann. Es hatte bis vor kurzem noch an Sankt Christophorus geglaubt. Aber das war vorbei, spätestens als Mutter sagte: »Wir müssen jetzt ganz tapfer sein.«
Alexa öffnete die Tür. Sie knarrte, im Türrahmen hingen Spinnweben, aber die Glühbirne an der Decke tat es noch. Sie kletterte über einen Schiffskoffer, mehrere Pappkartons und drei ineinandergestellte Stühle mit zerrissenem Korbgeflecht, um ans Fenster zu gelangen. Die Scheiben waren angelaufen und das Fenster ließ sich nur mit Gewalt öffnen. Dann stieß sie die Läden auf und ließ Licht und Luft hinein.
Der Raum war zu schön, um als Gerümpelkammer zu dienen. Sie ließ den Blick hoch zur gewölbten Decke gehen. Wie eine Kapelle. An der Schmalseite war ein steinernes Waschbecken in die Wand eingelassen, das mit einem gemauerten Bogen und Steinborden rechts und links versehen war. Wie ein Altar. Links vom Fenster, das ebenfalls in Stein eingefaßt war und ein steinernes Sims hatte, erkannte sie etwas, das ein Wandschrank zu sein schien. Auch hier gab es eine bogenförmige Begrenzung nach oben, deren Scheitel ein Stein bildete, der ein Relief erkennen ließ. Vielleicht ein Wappen?
Sie knotete das T-Shirt in der Taille zusammen und begann, die Stühle zu sortieren. Zwei kleine bäuerliche Stühle mit durchgesessenen Sitzen ließen sich als Ständer für die Blumentöpfe auf der Terrasse benutzen. Die Stühle mit heiler Sitzfläche konnte sie über das Haus verteilen.
Das sperrige Gitterbett schleppte sie schwitzend und fluchend in den Keller. Die Krüge und Schüsseln, die sie im Schiffskoffer fand, brachte sie in die Küche und stellte sie in den Abwasch. In zwei zusammengedrückten Kartons lagen Bücher. Sie brachte sie vor die Tür, vielleicht war unter den alten Schwarten ja etwas, das man ins Regal stellen konnte.
In der obersten der drei Kisten unter dem Fenster fand sie Hochglanzillustrierte und teuer aussehende Fotozeitschriften. Die mußten Ada Silbermann gehört haben. Alexa stellte die Kiste beiseite. In der mittleren lag zuoberst ein Rucksack, kein leichter, luftiger Kunststoffrucksack, sondern ein Museumsstück aus hellgrünem Segeltuch mit dunkelgrünen Lederriemen. Aus irgendeinem Grund klopfte ihr das Herz, als sie ihn öffnete. Sie zog ein Halstuch heraus und eine Kappe, wie sie Golfspieler tragen. Dann kamen ein Fernglas und zwei undefinierbare Objekte, das eine sah nach Fotozubehör aus. Dann ein Päckchen Papiertaschentücher und eine Schachtel mit Lutschpastillen. In der untersten Ecke des Rucksacks umfaßten ihre Finger eine Lederschatulle. Sie hatte einen Fotoapparat in der Hand, in einem hellbraunen Lederetui, in das »A. S.« eingestanzt war.
Für einen Moment hielt Alexa die Luft an. A. S. – wie Alexa Senger...
Sie strich mit dem Zeigefinger über die Buchstaben und horchte in sich hinein. Der Rucksack mußte Ada Silbermann gehören. Warum war er hiergeblieben, zusammen mit einem ihrer Fotoapparate? Hatte ihr Mann ihn vergessen? Oder hatte er ihn mit Absicht dagelassen?
Tat ihm die Erinnerung weh? War er wütend und enttäuscht? Was hatte er gefühlt, als sie plötzlich nicht mehr da war? Was fühlt man, wenn es zu spät ist für Worte oder Gesten – für eine Umarmung?
Das Kind wurde älter, aber es verstand nicht, warum die Mutter immer seltener Zeit hatte, wenn es »Erzähl mir von Vater« sagte. Und es verstand erst recht nicht, daß sie irgendwann begann, einen anderen Mann zu lieben. Es gab, dachte das Kind, das kein Kind mehr war, nur den einen.
Hans Senger. Den Helden von Amman.
Edwin Schwarz war bloß ein Spielzeugfabrikant aus dem Schwäbischen. Im Unterschied zu Vater aber lebte er, machte Mutter glücklich und hatte Geld wie Heu.
Das Kind war kalt und steif vor Ablehnung. Es ließ den Fremden spüren, daß es nur einen Vater gab in seinem Herzen. Es ließ die Mutter spüren, wie sehr es sie verachtete. Es zog sich zurück, kam immer später nach Haus. Niemand, glaubte es, würde es vermissen, wenn...
Das Kind war dumm. Es begriff nichts. Erst ein paar Jahre später, als es wieder einmal Schränke, Truhen und Zimmer ausräumen mußte, erst da überkam es eine leise Ahnung. Und mit dieser Ahnung stellte sich ein altvertrautes Gefühl ein, die quälende Gewißheit, daß es etwas versäumt hatte. Und daß es nun zu spät war, für immer.
Das Kind war kein Kind mehr, als eines Abends zwei Männer vor der Tür standen, verlegen sahen sie aus, der eine hatte Schweißperlen auf der Stirn. Weil es kein Kind mehr war, verstand es sofort, was gemeint war, als einer der beiden sagte: »Fräulein Senger, Sie müssen jetzt ruhig bleiben.« So etwas wird oft gesagt. Nachbarn und Verwandte versuchten es später mit »Trink erstmal was« und »Du setzt dich am besten«. Oder mit »Wein dich ruhig aus«. Aber da waren keine Tränen mehr.
Das Kind, das längst keines mehr war, räumte das Elternhaus aus wie damals den Kleiderschrank seines Vaters. Die Kleider und Schuhe und Handtaschen, die Anzüge, Schlipse und Sakkos. Es fand Vaters Liebesbriefe an seine Frau. Telegramme und liebevolle kleine Notizen von Edwin Schwarz. Daneben eine Schachtel mit den Gedichten, die das Kind für den Vater geschrieben hatte. Fotos von einem kleinen Mädchen mit dunklen Locken, das siegesgewiß lächelte. Ein Taufkleid. Ein Hochzeitskleid. Mutter hatte alles aufgehoben.
Sie hatte ihre Tochter nicht verdient, dieses verwöhnte Balg, das ihr ein zweites Glück nicht gönnte. Und Edwin Schwarz hatte das alles erst recht nicht verdient – der Mann, dessen einziger Fehler darin bestanden hatte, schon nach 56 Flugstunden einen Sichtflug bei schlechtem Wetter zu wagen.
Die Tochter brauchte sieben quälende Tage, bis die Kleider aussortiert waren, die man dem Deutschen Roten Kreuz geben konnte, bis sie das Geschirr verpackt und die Möbel verkauft hatte und der Antiquar gekommen war, um den Wert von Edwins Bibliothek zu schätzen. Sie wollte nichts behalten, keine Fotos, keine Briefe, auch nicht das Haus. Ihre Erinnerungen brauchten keine Vorlage. Sie kamen auch so, sie kamen ungebeten und viel zu oft und immer taten sie weh.
Felis hatte sich mittlerweile eingefunden und stakste über Kisten und Kartons, schnüffelte in finsteren Ecken und kam, Spinnweben in den Barthaaren, immer mal vorbei, um Alexa mit der Nase anzustupsen. Dann lief sie mit gerecktem Schweif dem nächsten Geruch hinterher.
Alexa räumte wieder alles in den Rucksack, nur den Fotoapparat ließ sie draußen. Fast zaghaft öffnete sie das Lederfutteral. Die Kamera sah eigenartig aus, ganz anders als moderne Fotoapparate; sie war ungewöhnlich klein und leicht und erinnerte an die mechanischen Wunderwerke vergangener Jahrhunderte. Noch nie hatte sie so etwas in der Hand gehabt. Auf der Oberseite des Geräts, links vom Sucher und dem, was wie der Auslöser aussah, stand »Leica«, daneben eine Nummer, darunter »Ernst Leitz, Wetzlar, D.R.P.«.
Alexa hatte nie gern fotografiert. Man drückte auf den Knopf, es surrte, auf den Fotos hernach hatten alle rote Augen oder das Bild war nur dort scharf, wo es niemanden interessierte. Sie war Idiotenkameras gewöhnt, aber selbst mit denen konnte sie nicht umgehen.
Sie drehte die Kamera hin und her und dann sah sie durch den Sucher. Der Raum war zu dunkel, sie erkannte nur den hellen Fleck, von dem sie annahm, daß es das Fenster sei. Sie ließ das Gerät sinken und starrte in den Raum. Schließlich schloß sie das Futteral und legte die Kamera behutsam wieder in den Rucksack. Nachdem sie alle Kisten und Kartons in der rechten hinteren Ecke des Raums gestapelt hatte, holte sie den Staubsauger.
Die verschmutzten Fenster ließen die Strahlen der schon tief stehenden Sonne nur gedämpft in den Raum dringen. Staubmoleküle tanzten in der Luft. Als sie die Katze rief, die ganz oben auf den Kistenstapel gesprungen war, hörte sie, daß der Raum ein Echo hatte.
»Ada«, sagte sie laut, aus keinem bestimmten Grund. »Ada« murmelte es vielstimmig zurück. Plötzlich kam ihr der Raum wie eine Gruft vor. Sie lockte Felis und schloß die Tür hinter sich ab. Den Rucksack mit der Kamera nahm sie mit.
Sie stellte ihn neben sich, während sie auf der Terrasse Tee trank und ein paar von den Tomaten aß, die sie gestern auf dem Markt gekauft hatte. Als die Sonne unterging, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Wochen nicht mehr allein.