Читать книгу Die Fotografin - Anne Chaplet - Страница 14
6
ОглавлениеFrankfurt
Der Justizwachtmeister, der schon zum zweiten Mal einen Aktenwagen voll mit Büchern aus ihrem Büro holte, die sie längst hätte zurückgeben müssen – darunter zwei mit rotem Punkt –, sah Karen von schräg unten an und sagte: »Vielleicht sollten Sie öfter mal Urlaub machen. Ich meine: rechtzeitig.«
Da war was dran. Karen räumte das Büro selten auf. Aber heute war sie so gründlich, als ob sie ein Sabbatical und nicht einen Jahresurlaub nehmen wollte. Das fiel auch anderen auf.
»Du läßt mich in diesem Laden doch wohl nicht alleine?« fragte Sarah, die Leiterin der Personalverwaltung, mit der sie sich seit Jahren duzte. Eine Weile schaute sie Karen beim Aufräumen zu und biß dabei von einem Baguette ab, das in einer weißen Papiertüte steckte. Jedesmal, bevor sie den nächsten Biß nahm, schob sie die Tüte ein Stück zurück. Irgend etwas irritierte Karen an diesem Anblick.
»Wie ist sie denn?« fragte Sarah mit vollem Mund und zeigte mit dem Kinn in die Richtung, in der das Büro lag, das Angelika Kämpfer vor wenigen Tagen bezogen hatte.
»Wie der Name schon sagt.« Karen entleerte den Papierkorb in einen grauen Müllsack.
Sarah verschluckte sich fast vor Lachen. So komisch, dachte Karen, war das nun auch wieder nicht.
»Ach! Sie verlassen uns?« rief OSta Karsten Müller vom Flur her ins Zimmer hinein. Er klang erfreut. Für einen Moment beneidete ihn Karen um die Freiheit, nichts und niemanden zu mögen.
»Ich mach mich dann auf die Socken«, sagte Sarah und zielte mit der zusammengeknüllten Tüte auf den grauen Müllsack. Beim Herausgehen wäre sie fast mit Frank Euler zusammengestoßen. Der Anblick des Anwalts tröstete Karen. Ihr zurückhaltender kleiner Flirt endete vor einigen Jahren zwar reichlich abrupt, als seine Frau sich für seine Feierabendgestaltung zu interessieren begann. Aber sie mochten einander noch immer.
»Karen!« Frank blieb im Türrahmen stehen. »Was ist denn hier los?«
»Zwangsurlaub.« Sie strich sich die Haare glatt.
»Und – die Sache Eva Rauch?«
Karen hatte ihm die Angelegenheit kürzlich beim Mittagessen geschildert. Euler war nicht selten ihr Prozeßgegner gewesen in den letzten Jahren – dennoch oder vielleicht deshalb wußte er wohl am besten, was sie und wie sie sich fühlte bei einem Fall wie diesem.
»Der Fall Eva Rauch ruht in den Händen von Frau Staatsanwältin Dr. Angelika Kämpfer. Wahrscheinlich in tiefem Frieden.«
»Na, Schriftsätze wird sie ja wohl lesen können.« Sie sah ihm an, daß Frank dasselbe durch den Kopf ging wie ihr. Karen seufzte auf, setzte sich an den Schreibtisch und legte die Beine hoch. Der Anwalt blieb im Türrahmen stehen. Sein Gesicht sah nach drei Nächten Aktenstudium bei schlechter Beleuchtung aus.
»Wenn man bedenkt, wie lange es gedauert hat, bis ich alle anderen endlich davon überzeugt hatte, daß wir Ermittlungsbedarf haben...«
»Wieso arbeiten, wenn man’s auch lassen kann?« Frank grinste matt.
Karen nickte. Ohne sie wäre die Sache Rauch im Strom institutioneller Trägheit untergegangen – als einer der Fälle, in denen es keinen Anhaltspunkt für ein Kapitalverbrechen oder Fremdverschulden gab, obwohl auch nicht viel für Selbstmord sprach.
»Na ja...« Frank guckte an die Decke, wie er es immer tat, wenn er zum Plädoyer ansetzte. »Du machst dich natürlich nicht beliebter durch so was.«
In der Tat nicht. Die Sache Eva Rauch war bereits der zweite Fall in diesem Jahr, den Karen für nachprüfenswert hielt. Ohne Not – denn auch bei der Staatsanwaltschaft gab es Erledigungstechniken, die das Leben leichter machten. Üblicherweise kriegte sie in der Abteilung II, Buchstaben R (ohne Re), Sa-Sal, die Akte auf den Tisch, die Polizei hatte ermittelt, und auf deren Befund verließ man sich – oder nicht. Bestimmt nicht, fand Karen, wenn so vieles unklar geblieben war: daß Eva Rauch an einem aufgesetzten Kopfschuß gestorben war und nur ihre eigenen Fingerabdrücke auf der Waffe gefunden wurden, bewies noch keinen Selbstmord.
»Frank – es war Samstag. Der hinzugezogene Arzt war Kurts vom Notdienst, der ist spätestens um 11 Uhr vormittags dicht. Und der diensthabende Staatsanwalt hieß Jan Knecht – du kennst ihn.«
Frank grinste. Knecht war spezialisiert auf Umweltstrafsachen und interessierte sich für nichts anderes. Erfahrungen mit Leichen hatte er noch nicht machen müssen.
»Und das 13. Polizeirevier...« War bekannt für Dienst nach Vorschrift. Die Tote war weder vernünftig ärztlich untersucht worden, noch war StA Knecht jemand, der einem Polizisten widersprach, der »Selbstmord« protokollierte.
»Und außerdem habe ich seit Jahren von keinem Fall gehört, in dem eine halbwegs gebildete Frau in einem zivilen Beruf zu einer Knarre greift, um sich aus dem Weg zu schaffen. Frauen ziehen andere Methoden vor.«
»Der Trend soll sich umgekehrt haben«, sagte Euler und legte den Zeigefinger an den Nasenflügel.
»Mag sein. Aber das ist dann immer noch die Minderheit.«
Statistisch gesehen zogen Frauen andere Selbsttötungsarten vor. Sie bevorzugten Schlaftabletten oder hängten sich auf. Erst danach kamen die blutigeren Varianten: Pulsadern aufschneiden. Mit dem Auto an einen Baum fahren. Sich vor den Zug stürzen. Von Brücken und Hochhäusern springen.
»Und außerdem glaube ich kaum, daß Knarren wie eine betagte ungarische Fegyver Kaliber 7,65 üblicherweise den Weg in die Handtasche einer Buchhändlerin finden.« Das war es, was Karen an diesem Fall so irritiert hatte – was, wie sie fand, jedem sofort hätte auffallen müssen. Sie trommelte mit den Fingern auf einem Stapel aus »Monatsschrift für Kriminologie« und »Kriminalistik«. »So was hat man nicht einfach so im Wohnzimmerschrank.«
»Am Frankfurter Hauptbahnhof kriegst du alles. Vor allem Waffen aus dem ehemaligen Ostblock.«
»Klar. Aber wenn sie sich vorbedacht und nicht im Affekt erschossen hat – warum dann ausgerechnet im Lagerraum ihrer Buchhandlung?«
»Vielleicht wird deine liebe Kollegin...« Frank hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Vielleicht«, sagte Karen nach einer Pause.
Euler suchte für einen flüchtigen Moment ihren Blick. Dann senkte er den Kopf und steckte die Hände in die Sakkotaschen.
»Mach’s gut, Frank«, sagte sie leise.
»Komm bald wieder, Karen.« Und dann sagte er, schon im Gehen: »Ich vermisse dich.«
Jetzt, wo du es sagst, Frank, dachte sie, starrte aus dem Fenster und fühlte sich verloren.
Eine Stunde später war das Zimmer in einem Zustand, in dem es die nächsten sechs Wochen bleiben konnte. Währenddessen waren Freund und Feind an der offenen Tür vorbeidefiliert. Die meisten vermochten keinen Zufall darin zu erkennen, daß sie Urlaub und Überstunden just zu diesem Zeitpunkt und so überhastet abfeierte. Einige freuten sich über das, was die meisten offenbar für eine Niederlage hielten.
Am späten Nachmittag hatte sie endlich alle Kollegen durch. Sie schloß die Tür hinter sich, holte die Sporttasche aus dem Schrank, zog sich die Joggingklamotten an und rannte, Tasche und Aktentasche unter den Arm geklemmt, im Laufschritt durch den langen Flur, ohne nach rechts und nach links zu gucken. Im Parkhaus warf sie das Gepäck auf den Rücksitz ihres grünen Sportwagens und ließ die Frankfurter Justiz etwas schneller und geräuschvoller hinter sich, als höflich war.
Kurz vor dem Palmengarten fand sie einen Parkplatz. Sie schloß das Auto ab, streifte das Stirnband über und lief los. Nach einem kurzen Sprint durch den Grüneburgpark nahm sie die Fußgängerbrücke über die Autobahn zur Nidda hinüber. Als sie an Frankfurts hübschestem Nebenfluß angekommen war, lief ihr der Schweiß die Schläfen hinunter. Sie trabte in gemütlichem Tempo weiter, eine Übung, die normalerweise gegen fast alles half: gegen Kopfschmerzen, Müdigkeit, dumme Gedanken und wahrscheinlich auch gegen Liebeskummer, wenn sie noch wüßte, was das ist.
Sie wich einem schwarzen Köter aus, der am Uferweg stand und wie gebannt auf ihre Beine zu starren schien, bis Herrchen endlich nach ihm rief. Es war, Trend hin oder her, noch immer ungewöhnlich, daß Frauen sich erschossen. Auch war die Waffe, zu der Eva Rauch gegriffen haben soll, kein Allerweltsmodell. Ebensowenig normal war die Biographie der angeblichen Selbstmörderin.
Eva Rauch war zum Zeitpunkt ihres Todes 53 Jahre alt. Sie arbeitete als Buchhändlerin – in einem dieser kleinen Läden, die Karen in den Zeiten von Bücherwarenhäusern und amazon.de für die letzten ihrer Art hielt. Nostalgischerweise hieß der Laden »Neues Deutschland«. Spontan fielen ihr ähnlich sprechende Namen ein wie »Roter Stern« oder »Sputnik« oder »Völkerfreundschaft«.
Gisela Werner, ihre Geschäftspartnerin, hatte Eva Rauch am Samstagmorgen tot im Lagerraum gefunden. Die Frau heulte auch noch Wochen nach dem Tod der Freundin Rotz und Wasser. Karen Stark sah sie vor sich, wie sie auf einer Bibliotheksleiter hockte und ein Papiertaschentuch nach dem anderen vollweinte. Sie mochte kaum hinsehen und hatte sich statt dessen in der Buchhandlung umgeschaut.
Das Sortiment war weniger pittoresk, als der Name des Ladens verhieß. Auch hier lagen die üblichen Bestseller ganz vorne auf dem Tisch.
»Sie hatte sich gerade erst wieder gefangen.« Giselas Stimme klang belegt vom vielen Weinen. »Sie war gerade erst wieder sie selbst.«
Was hatte Eva Rauch aus dem Ruder gebracht? Offenbar waren beide Eltern kurz hintereinander gestorben. Eigenartig – das sollte eine erwachsene Frau nicht verkraftet haben? Karen dachte ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen, daß sie ihrer Mutter eher sparsam hinterherweinen würde. Der guten Mutter. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dem lieben Mütterchen.
Daß der Tod der Eltern Eva Rauch aus der Bahn geworfen haben sollte, war um so erstaunlicher, als sie die beiden Jahre, ja Jahrzehnte nicht gesehen haben dürfte. Eva Rauch hatte, wie nicht wenige ihrer Generation, das Soziologiestudium in Frankfurt abgebrochen, um die Welt zu sehen. Wo genau sie überall gewesen war, ließ sich nicht ohne weiteres rekonstruieren. Daß sie einige Jahre lang mit Ehemann in Paris gelebt hatte, war immerhin bekannt. Danach verlor sich ihre Spur, bis sie Anfang der 90er Jahre wieder in Frankfurt auftauchte.
Erschießt sich so jemand, weil die Eltern gestorben sind?
»Sie hatte doch nur mich!« schluchzte Gisela, als Karen nach Freunden fragte, nach Bekannten, Kontaktpersonen aller Art. Ob wohl Gisela...? Karen hatte die geschwollenen Augen und die rotgeschnupfte Nase vor Augen. Nein, sie vertraute dem Gefühl, das ihr sagte, daß diese Frau als Täterin auszuschließen war.
Eine zufällige Gewalttat? Vielleicht. Doch auch dafür gab es keine Anzeichen. Ein überraschter Einbrecher? Ebenso unwahrscheinlich. Die Tür war ordnungsgemäß aufgeschlossen worden. Die Geldtasche, die Eva Rauch mitgebracht hatte, lag neben der Kasse. Andere Wertgegenstände gab es in der Buchhandlung nicht. Für die gebundene Ausgabe des neuesten Harry Potter war ja wohl noch niemand umgebracht worden.
Der Arzt hatte lediglich festgestellt, daß sie eines unnatürlichen Todes gestorben war, und die ermittelnden Beamten hatten Fremdverschulden ausgeschlossen – also mußte es Selbstmord gewesen sein. Karen schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ihr reichte das nicht, um die Akte zu schließen. »Sie sind gehalten, in solchen Fällen die relevanten Hintergründe zu ermitteln!« hörte sie den alten Oberstaatsanwalt Dr. Dr. Berger dozieren. Sie mußte mehr in Erfahrung bringen über die gut zwanzig Jahre im Leben der Eva Rauch, über die niemand etwas Genaues zu sagen wußte.
Und vor allem war da die Tatwaffe – die »Selbstmord«-Waffe.