Читать книгу Die Fotografin - Anne Chaplet - Страница 11
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ОглавлениеBeaulieu
Alexa hatte ihre Einkäufe erledigt, gerade rechtzeitig vor dem Touristenaufmarsch. Der Markt in St. Julien galt als der schönste weit und breit, und insbesondere während der Sommersaison pulsierte er in zwei verschiedenen Rhythmen. Die einen durchquerten den Platz unter den Platanen in aller Frühe zügig und in engen Kreisen. Man wußte, was man wollte, wo es die besten Poularden und die zartesten Kaninchen und das frischeste Gemüse gab. Die anderen, meist Menschen in kurzen Hosen, ungeduldige Kinder im Schlepptau, in der Hand die Kamera, zog in weiten Bögen und gemächlich über den Markt.
Alexa war schon auf dem Weg zum Parkplatz, als sie Catherine sah. Lebhaft wie immer redete sie auf eine ältere Frau ein, die einen Einkaufskorb zwischen die Beine gestellt und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. Alexa hoffte, sich an den beiden vorbeidrücken zu können. Nicht, daß sie Catherine nicht dankbar wäre. Sie war es gewesen, die nach dem Einzug als erste bei ihnen vorbeigekommen war, mit einer Flasche Wein und einem Brot.
»Das gehört sich doch unter Nachbarn!« hatte sie gerufen und, an Alexa vorbei, ihm zugezwinkert.
»Na wenigstens weißt du jetzt, daß er nicht hinter deinem Geld her war«, lautete ihr Kommentar, als Alexa wieder allein war. Fast war sie Catherine dankbar gewesen für ihren Zynismus.
Besser als Mitleid. Mitleid war das letzte.
Catherine gehörte das Relais des Roses, Beaulieus bestes Restaurant – »mir, nicht dem Esel Emile«, betonte sie oft. Ihr entging nichts, auch heute nicht.
»Alexa!« Alexa blieb stehen und wartete, bis Catherine sich von der anderen verabschiedet hatte, die neugierig zu ihr hinüberzusehen schien. »Komm! Heute ist der Bäcker wieder da, Pagot, der mit dem besten pain de seigle, du weißt doch, du wolltest doch immer mal...«
In kulinarischen Dingen duldete Catherine keinen Widerspruch. Obwohl Alexa ausgerechnet heute kein Brot hatte kaufen wollen, ging sie mit.
»Er bäckt noch auf die alte Art, und seine tartes...« Catherine küßte ihre Fingerspitzen.
Alexa nickte, ohne den geringsten Appetit zu verspüren.
»Du kaufst hoffentlich keine Gewürze auf dem Markt. Das ist alles viel zu teuer und zu alt und steht nur für die Touristen da.«
Alexa guckte verstohlen hinüber zu dem Stand mit den dekorativ aufgekrempelten Säckchen, aus denen die Frau mit den dunkel geschminkten Augen und dem bunten Schal um den Kopf mit einem kleinen Maßlöffel Curcuma, Anis oder Cayennepfeffer in Papiertüten füllte. Natürlich hatte sie hier gekauft – Muskatnüsse und Wacholder und dicke Zimtstangen.
Vor dem Gemüsestand blieb Catherine stehen und packte Alexas Arm. »Siehst du da vorne, die Frau mit dem großen Hut?« flüsterte sie unüberhörbar. »Sie läßt sich tatsächlich hier blicken, obwohl jeder weiß...« Als die Frau mit dem Hut in ihre Richtung guckte und winkte, ging Catherines Gesichtsausdruck geübt in Leutseligkeit über.
»Hallo, Françoise!« Catherine winkte zurück und drehte sich gleich wieder um zu Alexa. »Sieh nicht hin, sonst kommt sie womöglich noch hierher.«
»Und was kann ich heute für dich tun, Catherine?« fragte der Gemüsehändler.
»Ich nehme drei Knollen rosa Knoblauch«, rief sie über die Schulter, während ihre Augen die Menschenmenge absuchten. »Und zehn von den weißen Auberginen. Die mußt du mal probieren«, sagte sie zu Alexa, die unschlüssig neben ihr stand.
Wieder reckte sich Catherine und schwenkte den Arm. »Marcel! Tu vas bien?« Ein Mann mit gerötetem Gesicht unter der Baskenmütze winkte zurück.
»Und zwei Kilo rote Bohnen – Alexa, wenn du mal provençalisch kochst...«
Als Alexa stumm den Kopf schüttelte, seufzte Catherine auf. »Ißt du denn gar nichts? Na ja – so siehst du ja auch aus. In deinem Alter hatte ich auch nie Appetit.«
Alexa wußte erst gar nicht, wovon Catherine sprach. Gewiß, sie hatte abgenommen, seit er fort war. Alles war ein bißchen durcheinander seither. Aber seit einigen Tagen fühlte sie sich, als ob sie aufgegangen wäre wie Hefeteig. Sah man ihr das nicht an?
Die beiden Frauen hatten sich inzwischen dem Rhythmus der anderen angepaßt, die sich zwischen den Ständen drängten. Unter bunten Sonnenschirmen lagen kleine runde Ziegenkäse, in jedem Reifestadium; beim Fischhändler türmten sich die Langusten, Muscheln, Austern, und nebenan, am Stand mit den CDs und Schallplatten, wurde französische Volksmusik gespielt. Daneben Ständer mit gerüschten und geblümten alten Kleidern, Tische mit Spitzendecken und Damasttüchern, dann wieder Gemüsestände mit leuchtenden Tomaten, Auberginen, Zucchini – alles verband sich zu einem Rausch von Farben und Gerüchen.
Doch von einer Sekunde auf die andere fühlte Alexa sich in einer anderen Welt. Nebel zog über die Sonne. Die Gemüsefrau bleckte ein großes gelbes Gebiß. Der Fischhändler starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. Die gerupften Hähne mit den verdrehten Köpfen reckten die Klauen im Todeskampf. Über dem Ziegenkäse lag ein grünschillernder Pelz von Schmeißfliegen. Der Gestank von totem Fisch und eine Wolke schräger Klangfetzen schlugen über ihr zusammen. Sie suchte mit der Hand Halt am Tisch mit den antiquarischen Büchern. Vor ihren Augen schien ein Schwarm von Mücken zu kreisen und übel war ihr auch. Von Ferne hörte sie Catherines besorgte Stimme.
»Geht schon wieder«, flüsterte sie.
Die Übelkeit verflog, wie sie gekommen war. Alexa strich sich die Haare aus der Stirn.
Catherine blickte sie an, taxierend. »Bist du sicher...?«
Alexa hob den Kopf. Die Gemüsefrau lächelte freundlich zu ihr herüber. Die Sonne schien wieder hell. »Ganz sicher.«
Langsam gingen sie weiter. Catherine grüßte nach allen Richtungen, rief der einen ein fröhliches Ça va! zu, klopfte dem anderen auf den Rücken. Alexa ging benommen neben ihr her. Plötzlich blieb sie so abrupt stehen, daß der Mann hinter ihnen ihr das Objektiv seiner Kamera ins Kreuz rammte.
»Lavendelextrakt« stand auf dem großen silbernen Behälter, aus dem ein Mann mit gerötetem Gesicht und schrundigen Händen kleine Flaschen abfüllte. Daneben lagen Berge von Lavendelsträußen, alle mit einer blauen Kordel umwickelt. Als er sah, daß Alexa ihn anstarrte und endlich auch Catherine stehenblieb, schwenkte der Lavendelverkäufer mit einem fröhlichen »Mesdames!« eine noch nicht verkorkte Flasche in ihre Richtung. Alexa wich zurück.
Catherine winkte dem Mann zu und zog sie am Arm weiter.
»Liegt das immer noch überall herum in deinem Haus, das Gemüse?«
»In Wagenladungen«, sagte Alexa und versuchte zu lachen. Aus allen Ecken krümelten die kleinen blauen Blüten hervor.
»Ada schwor auf Lavendel. Gegen Mücken, Flöhe, Skorpione. Gegen Rheuma, Allergien und Schlaganfall. Gegen Depressionen, Katerstimmung und Liebeskummer.«
Ada Silbermann. Ihr schien das Haus in Beaulieu noch immer zu gehören.
Catherine drückte Alexas Arm. »Das scheint bei dir nichts zu nützen.«
»Und hat es vielleicht ihr geholfen?« Der Satz war ihr herausgerutscht, ohne daß sie wußte, was sie damit sagen wollte. Schließlich gab es ein paar völlig undramatische Gründe, warum eine Frau verschwand: Sie hatte ihren Ehemann satt. Sie war zu einem anderen gegangen. Sie wollte...
Catherine seufzte. »Wer weiß, warum sie ging und wo sie geblieben ist. Eines Tages war sie nicht mehr da. Anfang Oktober war das, nach dem großen Regen. Die Marktstände bogen sich vor Steinpilzen.« Sie blieb wieder stehen. »Wir waren alle völlig schockiert. Und Ernest...«
Anfang Oktober, dachte Alexa. Vor einem Jahr. Damals hat alles angefangen – an einem sonnigen Herbsttag. Wenn er nicht gewesen wäre... Vielleicht wäre ich dann heute nicht hier.
»Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man plötzlich allein ist«, sagte sie leise. Aber Catherine war schon wieder ganz woanders.
Sie hielt sich ein Stück gelber Seife vor die Nase. »Riech mal«, sagte sie und reichte Alexa das Seifenstück. Auf dem Tisch, vor dem sie standen, lagen dicke Blöcke aus Seife, braune, blaue, gelbe oder rote, in denen wie Insekten in Bernstein Limonenscheiben eingeschlossen waren oder Rosmarinzweige oder Lavendelblüten. Die Frau am Stand verkaufte die Seife scheibenweise, in durchsichtige Folie verpackt.
Alexa schnupperte folgsam. »Und ihr habt nie wieder von ihr gehört...«
Catherine legte die Seife zurück und nickte der Frau freundlich zu, bevor sie weiterging. »Nie wieder.«
»Aber...« Irgendwie ist sie noch immer da, hätte Alexa fast gesagt.
»In alten Häusern bleibt immer etwas von all denen, die in ihnen gelebt haben. Es macht ihren Zauber aus, oder?«
Klar, dachte Alexa. Natürlich hat das Charme. Aber warum nährt sich ausgerechnet in meinem Haus der Zauber aus Menschenschicksalen, die man beim besten Willen nicht glücklich nennen kann? Zwei Söhne gefallen, ein Mann ermordet, eine Frau verschwunden, ein Kind gestorben... Und schließlich: Eine Frau, von ihrem Liebsten verlassen.
Das jedenfalls ist noch steigerungsfähig.
Felis lag schlafend auf der Terrasse, als Alexa nach Hause kam. Sie streichelte die Katze, verstaute die Einkäufe in Kühlschrank und Keller, wusch ab, putzte Küche und Bad, säuberte den Küchenschrank bis in die hinterste Ecke von vertrockneten Lavendelblüten und machte einen großen Bogen um den Raum, in dem die Bauers alle Überbleibsel der Vorbesitzer verstaut hatten, mit denen sie nichts anfangen konnten. Als er noch da war, hatte er den Raum inspiziert und etwas von kaputten Stühlen, einem Bettgestell und vielen Koffern gesagt. Irgendwann würde sie dort aufräumen müssen. Aber nicht jetzt. Nicht heute.
Vom Kirchturm her schlug es vier Uhr. Sie legte sich in den Liegestuhl auf die jetzt schattige Terrasse und machte es wie die immer noch schlafende Felis: Sie schloß die Augen.
Wovon sie aufgewacht war, wußte sie nicht mehr. Ihr Herz raste wie nach einer mit knapper Not überstandenen Gefahr. Sie setzte sich auf und massierte sich das schmerzende Kreuz. Wie konnte man nur so lange schlafen. Sie blickte in den Himmel. Dort waren Gewitterwolken aufgezogen. Im nächsten Augenblick zog eine Windbö eine Schleppe aus feinem Staub über die Terrasse.
Alexa spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Diesmal hörte sie keine verdächtigen Geräusche, hatte sie keine Erscheinungen, sah sie keine Gespenster. Etwas anderes machte ihr angst. Es war das vertraute Gefühl – das Gefühl, daß sie allein war.
»Felis?« rief sie leise, stand auf und suchte mit den Augen die Lieblingsplätze der Katze ab. Sie lag nicht auf dem Stuhl, nicht unter dem Tisch, nicht im Topf mit dem Sommerflieder. Alexa zwang sich zur Ruhe gegen die aufkommende Panik, angelte mit den Zehen nach ihren Sandalen und ging ins Haus.
»Felis! Komm her! Komm zu mir!«
Die Katze kam immer, wenn sie nach ihr rief, redete sie sich ein. Nur einmal, das war ein paar Wochen her, hatte Felis sich fast drei Tage nicht blicken lassen. Todesängste hatte sie ausgestanden – bis sie endlich das Jammern einer Katze hörte und hinunter zum Tor lief. Felis stand davor, zerzaust und abgemagert. Sie wußte bis heute nicht, wie das Tier aus dem Haus herausgekommen war.
Alexa lehnte sich gegen die kühle Küchenwand und versuchte, ruhig zu atmen.
Das Kind hatte keine Worte für das Unglück. Es fühlte nur einen unbarmherzigen Schmerz, einen nie gefühlten und doch schrecklich vertrauten Schmerz. Es weinte bis zur Erschöpfung.
»Vielleicht ist er morgen wieder da«, sagte Vater irgendwann, aber das Kind sah in seinem Gesicht, daß er nicht daran glaubte.
»Du kommst darüber hinweg«, sagte Mutter und das Kind haßte sie dafür.
Aber am meisten haßte es sich selbst. Es hatte seine gerechte Strafe bekommen. Es hatte diese Strafe verdient.
Sie waren übers Wochenende zur Großmutter gefahren, das Kind und die Mutter. »Großmutter stirbt«, hatte Mutter gesagt. »Sie will dich noch einmal sehen. Sei lieb zu ihr.« Großmutter lag im Bett, sie hatte kalte Hände und roch nicht gut. Das Kind mochte nicht von ihr geküßt werden. Die alte Frau tätschelte ihm die Wange. Es drehte den Kopf weg. »Benimm dich! Vielleicht siehst du sie zum letzten Mal!« zischte Mutter. Das Kind quengelte. »Aber ich tu dir doch nichts, Püppchen!« flüsterte Großmutter. Das Kind wandte ihr den Rücken zu.
Mutter schwieg die ganze lange Fahrt über, aber das Kind war froh, daß es wieder nach Hause ging. Vater war da, er hatte von seinem letzten Flug ein Geschenk mitgebracht – ein buntes Halstuch. Das Kind fiel ihm um den Hals und bettelte dann so lange, bis er ihm eine Geschichte erzählte. Erst nach einer schrecklich langen Zeit merkte das Kind, daß etwas fehlte. Daß es etwas vermißte.
»Wo ist Jonny?« Der Vater sah verlegen aus, so, wie Erwachsene aussehen, wenn sie etwas verbergen wollen. »Wo ist er? Wo? Wo?« Es mußte etwas passiert sein. Etwas Schreckliches.
Jonny. Vater hatte ihn vorigen Winter vor der Haustür gefunden, ein schwarzes Hundebaby mit weißem Brustlatz und Seidenöhrchen und dicken Pfoten. »Man hat ihn ausgesetzt«, hatte er gesagt, als er das zitternde kleine Fellbündel ins Wohnzimmer brachte.
Ausgesetzt. Was für ein schreckliches Wort.
»Jetzt ist alles gut«, hatte das Kind dem Hundebaby zugeflüstert. Und so war es auch. Der Hund liebte das Kind und das Kind liebte den Hund – Winter, Frühjahr und den ganzen langen Sommer über. Sie waren unzertrennlich. Sie gehörten zusammen.
Er konnte nicht fort sein. Das Kind rief nach dem Hund. Es suchte nach Jonny, im Garten, im Schuppen, am Teich, im Wald. Es suchte, bis es sich heiser geschrien hatte nach dem Tier.
Es war das Jahr, in dem Prince Charles Lady Di heiratete. Vorher hatte das Kind im Fernsehen Bilder von Menschenmengen gesehen, die Steine warfen und brennende Flaschen, Menschen, die mit Knüppeln schlugen und mit den Füßen nach anderen Menschen traten. Sogar auf den Papst wurde geschossen. Am Abendbrottisch gab es lange Zeit kein anderes Thema. Es war das Jahr, in dem Großmutter starb. Es war das Jahr, in dem sich die Welt veränderte.
Jonny kam nicht zurück. Noch nie hatte etwas dem Kind so weh getan. Ein Jahr später zog die beste Schulfreundin in eine andere Stadt. Das Kind weinte sich die Augen aus. Dann starb die Frau, die Sissi war. Das Kind war traurig. Und eines Tages stand Mutter neben dem Bett des Kindes und hatte rotgeweinte Augen und sagte: »Wir müssen jetzt ganz tapfer sein.« Seit diesem Augenblick vergoß das Kind keine einzige Träne mehr.
Alexa kämpfte gegen die Übelkeit an, die in ihr hochzusteigen drohte. Sie begann, das Haus von oben bis unten zu durchsuchen, mal Kosenamen, mal Verwünschungen rufend. Und schließlich schien es nur noch eine Möglichkeit zu geben. Sie ging widerstrebend zur Terrasse, beugte sich über die Balustrade und versuchte, nach unten zu gucken, auf die Gasse, die zwischen der untersten Häuserreihe und dem Fuß ihres Hauses hindurchführte. In ihren schlimmsten Vorstellungen lag dort unten in der Gosse ein regloses Fellbündel, in dessen langen silbergrauen Haaren der Wind spielte.
Aber dort lag nichts. Ein Windstoß wirbelte von unten hoch und wehte ihr Staub ins Gesicht. Wütend wischte sie die unerwünschten Tränen weg, die der Wind und der Sand ihr in die Augen trieben. Sie haßte die Angstzustände, die sie viel zu oft überfielen. Sie haßte das Gefühl von Panik, diesen ungebetenen und unverhofften Gast. Sie haßte sich in ihrer Schwäche.
»Man kann was dagegen tun«, hörte sie ihn sagen. »Du mußt etwas machen. Du kannst dich nicht so jagen lassen von deinen Dämonen.« Sie hatte genickt, ohne ihm zu glauben.
Als sie sich wieder zur Terrasse drehte, kam der Schrei, gellend und durchdringend. Und dann das Geräusch trappelnder Pfoten, flatternder Flügel. Und immer noch schrie es. Sie preßte die Hände auf die Ohren.
Die Katze trug ein kleines, graues Etwas im Maul, das sie zwei Meter von Alexa entfernt auf den Terrassenboden fallen ließ. Alexa war wie gelähmt, während die Katze zu ihr hochguckte und darauf wartete, gelobt zu werden. Der Vogel, ein junger Mauersegler, zitterte, bewegte die Flügel, wollte sich aufschwingen. Felis schaute sich das ein paar Sekunden an und legte schließlich ohne Hast die Samtpfote auf den zuckenden Vogelkörper. Ließ die kleine Kreatur schreien und zappeln und immer noch auf ein Entkommen hoffen. Alexa spürte, wie ihr die Augen brannten und die Kehle eng wurde.
»Hör auf«, sagte sie mit erstickter Stimme, zu wem auch immer. Und: »Stirb endlich.«
Das Knacken der Vogelknochen drang wie aus einem Verstärker zu ihr herüber. Alexa flüchtete in die Küche.
Als sie mit dem Weinglas in der Hand zurückkam, hatten sich die Gewitterwolken verzogen. Felis lag auf dem Stuhl und putzte sich mit Hingabe. Ein sanfter Wind trieb weiße und schwarze Flaumfedern über die Terrasse. Sicher war der Vogel zu jung und zu schwach gewesen, dachte Alexa, während sie ihrer Katze zusah. Und was kann so ein kleines Raubtier schon für seine Natur?
Doch plötzlich war es wieder da, das Gefühl des Unbehagens. Der kühle Hauch, der vom Haus herüberströmte, als würden die dicken alten Mauern die warme Abendluft verschlingen und sie als Grabeskälte wieder ausatmen, ließ sie frösteln. Die Rufe der Nachbarin nach dem Hund und die halblauten Gespräche von der Grillparty ein paar Häuser weiter drangen wie aus weiter Ferne zu ihr hinauf, von einem hämischen Echo verzerrt. Der Mond, der hinter dem bewaldeten Horizont aufstieg, kam ihr leichenblaß und aufgedunsen vor. Die Frösche quarkten lauter. Und die Mauersegler, die eben noch weit oben am langsam dunkler werdenden Himmel ruhige Kreise gezogen hatten, fanden sich plötzlich zu rächenden Geschwadern zusammen und rasten, gellend schreiend, über ihren Kopf hinweg.
Alexa griff zum Glas und nahm einen tiefen Schluck Wein. Der Korkgeschmack war so intensiv, daß sie unwillkürlich ausspuckte. Warum hatte sie das nicht schon beim Öffnen der Flasche gemerkt? Angeekelt leerte sie das Glas in einen Blumenkübel. Sie spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Die Sterne rückten näher. Die Zikaden lärmten. Oben knallte ein Fenster. Unten fiel eine Tür ins Schloß.
Die Kirchturmuhr begann zu schlagen und schien gar nicht wieder aufzuhören mit dem blechernen dröhnenden Geläut. Es roch so intensiv nach Lavendel, daß ihr fast die Luft wegblieb.
Felis sprang auf ihren Schoß, murrte und versteckte den Kopf unter ihrer Hand. Nach einer Weile atmete Alexa ruhiger. Ada Silbermann, dachte sie.
Sie kam sich kein bißchen lächerlich vor, als sie plötzlich, wie das brave Kind, das sie einmal gewesen war, das Vaterunser murmelte.