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Unsere essenziellen Bedürfnisse

»Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird.«

CHRISTIAN MORGENSTERN

Für persönliches Glück, Gesundheit und Zufriedenheit ist nicht nur die Befriedigung der körperlichen, sondern auch die Erfüllung der seelischen Grundbedürfnisse von zentraler Bedeutung. Du brauchst dafür Selbstmitgefühl. Wer dies vernachlässigt, wird sich schwertun, wirklich zufrieden mit dem eigenen Leben zu sein.

Aber sehen wir uns zunächst einmal die körperlichen (physiologischen) Grundbedürfnisse an. Es braucht sie, um überhaupt etwas tun oder sich fokussieren zu können. Wenn du zum Beispiel im Berufsalltag dringend auf die Toilette musst, wirst du dich nicht mehr auf deine Arbeit konzentrieren können. Ähnlich wie zwischendurch ein Toilettengang gehört die Mittagspause dazu – dein Grundbedürfnis nach Nahrung muss erfüllt werden. Weitere körperliche Bedürfnisse sind Trinken, Schlafen und Sex. Hinzu kommen seelische Grundbedürfnisse – dazu gleich mehr. Wird eines deiner Grundbedürfnisse über längere Zeit nicht erfüllt, kann dies zu seelischen und körperlichen Problemen bis hin zu Krankheiten führen.

Die Besonderheit der seelischen Bedürfnisse

Wenngleich also die körperlichen Grundbedürfnisse universell sind, sorgen Geschlecht, Alter, Herkunft und individuelle Lebensweise für Unterschiede. Seelische Bedürfnisse hingegen sind noch auf eine ganz andere Weise individuell geprägt. Ein Mensch entwickelt diese in viel stärkerem Maß noch in seinem persönlichen Umfeld und gemäß seinen Lebenserfahrungen. Es ist das, was er will, wie er sich sein Leben vorstellt.

Die seelischen Bedürfnisse verändern sich mit zunehmendem Lebensalter und hängen stark mit den persönlichen Wünschen und Zielen zusammen.

Wir können die Bedürfnisse eines Menschen noch weiter differenzieren. Vielleicht hast du schon einmal von der Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow gehört. Der US-amerikanische Psychologe hat im Jahr 1943 zunächst fünf Grundbedürfnisse des Menschen definiert. Neben den physiologischen Grundbedürfnissen (Essen, Trinken etc.) sind dies die Bedürfnisse nach Sicherheit (Wohnen, Arbeit, Gesundheit), nach sozialer Einbindung (Liebe, Freundschaft, Zugehörigkeit), nach Einfluss und Anerkennung sowie Selbstverwirklichung. Schon früher und auch noch heute werden diese fünf Bedürfnisse gern in der genannten Reihenfolge aufeinander aufbauend als Pyramide dargestellt. Diese hierarchische Darstellung wurde allerdings nicht von Maslow selbst gewählt. Seiner Meinung nach muss ein Bedürfnis nicht vollumfänglich erfüllt sein, bevor man sich dem nächsten widmen kann. Dieser Eindruck wird allerdings durch die Darstellungsform einer Pyramide geweckt.

Im Jahr 1971 entwickelte Maslow sein eigenes Bedürfnismodell weiter auf insgesamt acht Bedürfnisse. Hinzu kamen jetzt ästhetische und kognitive Bedürfnisse sowie das Bedürfnis nach Transzendenz. Mit Letzterem geht er über das eigene Ich und die Erfahrungen im Diesseits hinaus und öffnet sein Modell für eine größere Dimension, die Spiritualität.

Physiologische ebenso wie psychologische Grundbedürfnisse kommen in beiden Modellen nach Maslow vor, doch es gibt einen wesentlichen Unterschied. Die physiologischen Grundbedürfnisse sind ab einem bestimmten Punkt erreicht, das Bedürfnis ist dann befriedigt. Wenn ein Mensch seinen Hunger, also sein Bedürfnis nach Essen, stillt, setzt irgendwann ein Sättigungsgefühl ein. Der Mensch hat im Normalfall kein großes Bedürfnis mehr, weiter zu essen, und kann sich wieder anderen Dingen widmen. Die physiologischen Bedürfnisse wirken also nach dem Prinzip der Homöostase.

Homöostase bedeutet inneres Gleichgewicht. Entsteht irgendwo im Körper ein Ungleichgewicht, so strebt dieser danach, die Balance wiederherzustellen.

Seelische Grundbedürfnisse sind hingegen schwerer zu fassen. Es lässt sich nicht so einfach sagen, ob und in welchem Maße ein Bedürfnis nun erfüllt ist. Zudem wirken sie permanent, auch wenn sich der Grad der Erfüllung ständig verändern kann.

Wenn zum Beispiel die Sicherheit fehlt, weil sich ein Mensch gerade in einem Kriegsgebiet aufhält, fehlt diese dauerhaft, bis sich etwas an der Situation verändert. Der Hunger als physiologisches Bedürfnis wirkt hingegen wie beschrieben nur zeitweise und hört dann nach Nahrungszufuhr wieder auf, bis erneut Hunger aufkommt.

Die vier seelischen Wachstumsbedürfnisse

Von seelischen Grundbedürfnissen sprechen wir auch als Wachstumsbedürfnissen. Sie bilden die Grundlage für unser Handeln und können nie außen vor gelassen werden, weil sie uns dauerhaft beeinflussen.

Auch der deutsche Psychotherapieforscher Klaus Grawe sieht die psychischen Grundbedürfnisse als universell bei allen Menschen vorhandene Bedürfnisse. Wenn diese nicht befriedigt werden, führt dies zu einer negativen Beeinflussung der seelischen Gesundheit und des Wohlbefindens. Grawe benennt die folgenden vier seelischen Grundbedürfnisse, die sogenannten Wachstumsbedürfnisse:

1. Wir wollen verstehen und die Kontrolle behalten

Viele Menschen haben eine starke Neigung dazu, alles wissen, verstehen, kontrollieren oder zumindest beeinflussen zu können. Sie wollen selbst entscheiden, ganz nach den eigenen Bedürfnissen, Vorstellungen und Wünschen. Auch in der Interaktion mit anderen möchten sie gern planen und sich nach Möglichkeit auf diese verlassen und nicht zuletzt deren Verhalten gut einschätzen und voraussagen können.

Neben der Kontrolle nach außen spielt aber auch die Kontrolle nach innen eine wichtige Rolle: darüber, den Körper und die Muskeln frei zu bewegen und alle Sinne für die Wahrnehmung der äußeren Umgebung zu nutzen. Nicht zuletzt geht es auch darum, zu verstehen, was das eigene Wohlbefinden ausmacht, und es beeinflussen zu können.

2. Wir suchen Lustgewinn und wollen Unlust vermeiden

Verbringen Menschen Zeit miteinander und überlegen sich eine Aktivität, kommt regelmäßig die Frage auf: »Hast du Lust, …?« Dabei geht es um eine Gefühlsempfindung genau in diesem Moment. Wir sind jedoch auch in der Lage, zunächst einmal Unlust oder zumindest eine Lustreduktion in Kauf zu nehmen, um langfristig einen (großen) Lustgewinn zu erzielen. Existiert dieses langfristige Lust verheißende Ziel nicht, auf das wir hinarbeiten, werden Menschen im Normalfall die vorübergehende Unlust vermeiden.

3. Wir haben ein Bedürfnis nach Bindung

Von Anfang an hat der Mensch ein starkes Bindungsbedürfnis, zu Beginn des Lebens vor allem zur Mutter. Bereits im frühen Kindesalter entwickelt sich der Bindungstheorie zufolge entweder eine sichere Bindung oder aber eine unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente oder im schlechtesten Fall sogar desorganisierte Bindung heraus. Unsere Bindungserfahrungen aus der Kindheit prägen uns ein Leben lang und beeinflussen die vielen weiteren Bindungen zu anderen Menschen, die wir noch eingehen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, für dessen Gesundheit die Bindung zu anderen von elementarer Bedeutung ist.

4. Wir streben nach einem starken Selbstwert und möchten diesen schützen

Modernen Erziehungskonzepten zufolge soll Lob eine wesentlich größere Rolle spielen als Strafe. Das trägt der Bedeutung Rechnung, die Lob und Anerkennung durch andere für die Ausbildung unseres Selbstwertgefühls haben. Für das, was wir sind und was wir machen, möchten wir Wertschätzung erfahren. Wenn beispielsweise ein Kind ständig auf seine Probleme mit dem Rechnen oder der Rechtschreibung hingewiesen wird, dann wird es sich immer schwerer damit tun, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Mit den Wirkweisen der verschiedenen verletzenden Einflüsse beschäftigt sich Teil 2 des Buches (ab >) – in Teil 3 geht es dann um konkrete Handlungsmöglichkeiten, um dich solchen negativen Einflüssen zu entziehen und die Schale der Lebensfreude zu füllen (ab >).

Impuls: Lerne deine Wachstumsbedürfnisse kennen

Sollte es dir in manchen Lebenssituationen nicht gut gehen, wenn eine Beziehung mit einem anderen Menschen nicht recht funktioniert oder sich der Erfolg bei deiner neuen Arbeitsstelle einfach nicht einstellt, denk einmal etwas intensiver darüber nach, ob deine seelischen Grundbedürfnisse erfüllt sind. Kennst du sie überhaupt, hast du dir schon einmal Gedanken dazu gemacht und eine Bestandaufnahme, inwieweit sie in deinem Leben erfüllt sind? Entwickle Achtsamkeit, lausche in dich hinein und fühle nach, wie es um die Erfüllung deiner Wachstumsbedürfnisse steht. Es ist sehr sinnvoll, diese in deine Tages- und Lebensplanung miteinzubeziehen. Denke darüber nach, welche Bedürfnisse bei dir noch zu wenig Beachtung finden.

Hast du dies erst einmal erkannt, kannst du darauf mehr Rücksicht nehmen und so für mehr Zufriedenheit und Glück sorgen. Wenn es beispielsweise einen Konflikt gibt – sei es innerhalb der Familie, mit Freunden oder Kollegen –, denke doch einmal darüber nach, welches Bedürfnis dahinterstecken könnte, bei dir ebenso wie bei deinem Gegenüber. Oft ergeben sich so für dich ganz neue Sichtweisen: sowohl über dich selbst als auch über die Verhaltensweisen von anderen. Versuche, die seelischen Grundbedürfnisse viel mehr in deine Überlegungen einfließen zu lassen. Denn die kommen im Alltag oft viel zu kurz.

Auch kleine Stiche machen Seelenwunden

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