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Viel mehr als ein Trostpflaster: Kintsugi für die Seele

»Willst du den Körper heilen, musst du zuerst die Seele heilen.«

PLATON

Kintsugi ist eine alte japanische Praxis, bei der flüssiges Gold oder Silber zum Reparieren von Keramikobjekten verwendet wird. Zum Löten der Fragmente wird Gold verwendet, was das endgültige Stück wertvoller macht, nicht nur wegen des Edelmetalls, sondern auch wegen der Einzigartigkeit des neu entstehenden Objekts: Jede Schale oder jeder Teller wird einen anderen, unwiederholbaren Aspekt aufweisen und ist einzigartig dank der Splitter, die ihn so wertvoll machen.

Die Legende besagt, dass der Shogun Ashikaga Yoshimasa im 15. Jahrhundert seine Lieblingsteetasse zerbrach und die Handwerker beauftragte, sie so zu reparieren, dass sie wieder brauchbar und seines Amtes würdig wäre. Diese Künstler mischten Lack mit Goldstaub und gaben der Tasse ein zweites Leben mit einem prächtigen Aussehen. Jahrhunderte später sind die mit der Kunst des Kintsugi reparierten Stücke äußerst wertvoll und einzigartig. Teetassen mit Kintsugi-Merkmalen, Spiegel der Lebenskraft des Schicksals, werden am meisten geschätzt.

Es ist nie möglich, zwei Objekte auf die gleiche Weise zu brechen, sodass das Endergebnis immer ein einzigartiges Kunstwerk sein wird.

Kintsugi ist so ein schönes Bild für das, worum es in diesem Buch geht, dass ich es dir unbedingt vorstellen will. Mir hat diese Analogie unglaublich geholfen. Die Lektion, die diese alte japanische Technik lehrt, ist, dass wahre Vollkommenheit, sowohl ästhetisch als auch innerlich, aus Unzulänglichkeit und Wunden entstehen kann.

Die Kunst der Schadensannahme

Einige Gelehrte haben diese Technik die »Kunst der Schadensannahme« genannt, bei der Wunden nicht schamvoll verborgen oder versteckt, sondern betont werden. Sicher müssen wir nicht so weit gehen, aber hilfreich ist diese Metapher allemal.

Ich stelle dir in diesem Buch viele Möglichkeiten vor, Kintsugi für deine Seele anzuwenden. Du kannst dir aus den Methoden etwas aussuchen, was für dich passend ist und was dir zusagt. Ganz sicher ist etwas dabei, was deine Seelenheilung unterstützt. Probiere die Möglichkeiten aus, wie bei einem Buffet, das dir verschiedene Speisen anbietet. Nimm die, die dich ansprechen, und finde so deinen Weg im Sinne des Kintsugi.

Der Bruch stellt nicht das Ende des Objekts dar, im Gegenteil: Seine Brüche werden kostbar. Wir können aus einer negativen Erfahrung etwas mitnehmen und gestärkt daraus hervorgehen. So lassen sich Seelenwunden nach und nach heilen.

So kannst du deine Seele mit dieser uralten Technik verarzten

Fast drängt es sich auf, das Betonen der Bruchstelle beim Kintsugi mit dem seelischen Heilungsprozess zu vergleichen. Gerade in einer Krise kann man Widerstandsfähigkeit und Resilienz entwickeln. Etwas Neues kann entstehen, wenn wir mit schmerzhaften Erlebnissen konstruktiv umzugehen lernen, uns selbst wieder aufbauen und die Chancen nutzen, die uns das Leben bietet, um künftig auftretenden Schwierigkeiten gestärkt begegnen zu können.

Es sind vielleicht die dunklen Momente, die uns besondere Kraft verleihen – die schwierigen Erfahrungen, unsere Wunden, die Lehren, die wir daraus gezogen haben, und die neuen Bedeutungen, die wir den Dingen verliehen haben mögen.

Wir leben in einer Konsumgesellschaft und werfen eine kaputte Tasse, auch wenn es unsere Lieblingstasse war, genauso leicht weg wie ein Paar Schuhe. Mit unseren Mikroverletzungen können wir jedoch nicht so umgehen.

Im besten Fall stabiler als zuvor

Die Kunst des Kintsugi lehrt uns, die Vergangenheit und unsere Fehler zu schätzen, anstatt uns für sie zu schämen oder sie zu verachten. Wir können negative Erfahrungen als schreckliche Momente in unserem Leben sehen oder wir können sie als etwas Wesentliches und dankbar Anzunehmendes sehen, das uns wachsen und bewusster werden lässt.

Die Schwierigkeiten, die wir im Leben bewältigt haben, und die Fehler, aus denen wir gelernt haben, sorgen für Resilienz: die Fähigkeit, uns gleich einem Stehaufmännchen wieder aufzurichten (mehr dazu ab >). Wie die geklebten Bruchstellen einer Kintsugi-Tasse sind wir fortan genau an diesen Stellen stärker als zuvor, die Widerstandskraft ist gewachsen und hat unserem Leben neue Facetten hinzugefügt.

Das Leben ist nicht statisch: Wir leben, lieben und leiden. Wir können körperliche und emotionale Verletzungen erfahren. Aber wir können, wann immer wir hingefallen sind, wieder aufstehen und weiterleben. Das ist es, was wir für unser Leben von Kintsugi mitnehmen können. Mit der Zeit werden unsere Seelenwunden vernarben. Oftmals begleiten uns diese Narben ein Leben lang, gleich einem unsichtbaren »Rucksack«, den wir mit uns tragen, und lenken – bewusst oder unbewusst – unsere zukünftigen Entscheidungen.

Wenn wir zulassen, dass der Schmerz dauerhaft wie ein Stachel in uns sitzt, wird Heilung schwierig. Wir dürfen mit der Zeit den Schaden akzeptieren und nach Lösungen für die Zukunft suchen. Wenn wir aus unseren Seelenwunden lernen und uns wie ein »Stehaufmännchen« wieder aufrichten, wird unsere goldene Narbe zu etwas werden, auf das wir dauerhaft bauen können. Wir können unser Selbstwertgefühl steigern, in uns Fähigkeiten entdecken, in denen wir uns auszeichnen. Wir können lernen, es uns wert zu sein, uns selbst zu lieben und gesunde Gewohnheiten zu fördern, etwa für guten Schlaf zu sorgen, nahrhaft und gesund zu essen und Stress zu reduzieren. Und wir können lernen, freundlicher zu anderen und vor allem zu uns selbst zu sein, denn viele Menschen sind ihre eigenen härtesten Kritiker.

Wenn es eine Eigenschaft gibt, die Kintsugi in besonderer Weise auszeichnet, dann ist es Geduld. Es ist nicht nur wichtig, Ziele zu haben und daran zu glauben, dass wir sie verwirklichen werden – wir müssen uns auch bewusst sein, dass Veränderungen und Herausforderungen nicht über Nacht erreicht werden. Geduld hilft uns zu warten, bis die richtige Zeit, der richtige Ort und die richtigen Umstände vorhanden sind. Jetzt liest du dieses Buch und bist schon mittendrin. Die Heilung und Veredelung deiner Seelenwunden hat bereits begonnen.

Für Kintsugi im wahren Leben braucht es Optimismus und Geduld. Wir müssen das Wiederverbinden der Teile vertrauensvoll abwarten. Denn es ist auch die Zeit, die Wunden heilt.

Die Schönheit der Verletzlichkeit

Kintsugi ist nicht nur eine einfache dekorative Geste. Die Spuren, die sich nach dem Trocknen in Gold- oder Silberfarbe zeigen, verwandeln die zerbrochenen Elemente in ein anderes, spektakuläres Ganzes, in dem zudem der Lauf der Zeit erkennbar ist. Die Kintsugi-Philosophie schlägt auch vor, von der Suche nach Perfektion abzulassen und in jedem Stolperstein eine Gelegenheit zu finden, zu wachsen und unsere inneren Werte zu steigern.

Kintsugi kann uns dazu bringen, voller Selbstvertrauen auf unsere innere Stärke zu bauen und uns so der Realität zu stellen. Wir haben mehr Mut, von destruktivem Erleben hin zu konstruktivem Ändern zu wechseln. Alle ängstlichen Gedanken, die uns zweifeln lassen, können wir in Richtung einer positiven und mutigen Vision korrigieren.

Auch kleine Stiche machen Seelenwunden

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