Читать книгу Später, Lena, später - Anne Karin Elstad - Страница 10

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Kjell bekommt einen Studienplatz in Medizin. Er ist aufgeregt, begeistert. Es ist ein Sieg, einen Platz in Oslo zu bekommen, sich nicht im Ausland bewerben zu müssen. Sie versucht, seinen Enthusiasmus zu teilen.

Am letzten Abend vor seiner Abfahrt ist sie bei seinen Eltern eingeladen. Sie macht sich schön. Ihre Haare sind frisch gewaschen, ihr kariertes Kleid frisch gestärkt, die bloßen Arme und der Nacken braun von der Augustsonne.

„Wie süß du bist“, sagt Kjells Mutter.

Kjells Mutter ist nach den Ferien dunkelbraun. In einem schlichten weißen Kleid, die dunklen Haare im Nakken zu einem schweren Knoten gesammelt und mit hochhackigen Riemchensandalen ist sie so elegant, daß Lena sich farblos und grau vorkommt. An dem schöngedeckten Tisch ist sie sich jeder ihrer Bewegungen peinlich bewußt. Kjell ist in Spitzenlaune, seine Eltern sind nett und aufmerksam, und trotzdem sitzt sie da und kommt sich dumm vor. Kjells Vater ist auf poltrige Art ein Kavalier, reicht ihr die Schüsseln zuerst, schließlich ist sie der Gast. Zögernd und vorsichtig nimmt sie sich Stroganoff und Reis. Bei ihr zu Hause wird so etwas nicht gekocht. Verlegen sieht sie, wie selbstverständlich die andern sich auftun, wie sie Stücke vom Baguette abbrechen. Sie traut sich nicht, Wein zu trinken, ehe die anderen nicht die Gläser heben. Sie stochert im Essen herum, hat Angst, etwas falsch zu machen, während Kjell munter drauflos plappert und Brotkrümel um seinen Teller verstreut.

Sein Vater benimmt sich genauso, und die Mutter betrachtet sie mit leichtem Lächeln. Der Vater erzählt Anekdoten aus seiner eigenen Studentenzeit, über das Leben im Studentenheim Blindern. Er meint, Kjell schulde ihm, seinem Vater, sehr viel Dankbarkeit, da auch er ein Zimmer in diesem ehrwürdigen Haus bekommen hat.

Lena kommt es so vor, als sei Kjell schon abgereist, und außerdem hat sie das Gefühl, daß er bei sich zu Hause ein anderer ist. Er legt den dörflichen Akzent ab und redet wie seine Eltern. Auch dadurch fühlt sie sich verlegen und gehemmt, merkt, daß sie selber bisweilen unnatürlich geschraubt redet. Ohne es zu wollen, spielt sie eine Rolle, die ihr fremd ist; trotzig denkt sie, daß sie eines Tages sein will wie Kjells Mutter, sicher und elegant.

Nach dem Essen werden in der Sitzecke Kaffee und Likör serviert. Immer wieder wird betont, daß Kjell jetzt erwachsen ist. Das Abitur ist vorbei, nun kommt die Verantwortung. Er ist Student, erwachsen kann er mit ihnen anstoßen, und Lena wird genauso behandelt.

Sie atmet erleichert auf, als Kjell einen Spaziergang vorschlägt.

„Aber Kjell, ist das denn vernünftig? Der Bus fährt doch so früh!“

„Nun laß doch die Jugend allein Abschied nehmen“, sagt der Vater und zwinkert Lena zu.

„Wir ziehen uns früh zurück, Vater und ich. Ihr könnt gern hier sitzen, nicht wahr, Lena?“

„A-aber ...“

„Nein, wir drehen eine Runde mit dem Boot. Willst du das?“ schlägt Kjell vor.

„Das mußt du entscheiden“, sagt Lena schüchtern.

„Dein letzter Abend zu Hause, Kjell!“ bittet die Mutter.

„Nein, Mutter“, entscheidet der Vater. „Du darfst nicht vergessen, du warst auch einmal jung.“

„Aber nicht zu spät kommen“, sagt sie und seufzt.

Im Bootsschuppen nimmt er eine Decke und eine Tasche, die er dort versteckt hat.

„Wir gehen auf Strandraub“, lacht er und rudert auf eine der kleinen Inseln im Fjord zu.

Sie sitzt auf einer Ruderbank, legt ihre Hände auf seine. Er hat die Hose bis zu den Knien aufgekrempelt, beide sind barfuß, sie schlingen ihre nackten Beine umeinander. In der Abenddämmerung, im weißen, kurzärmligen Hemd wirkt er brauner, als er ist. Wein und Likör geben ihr ein seltsames Gefühl für den eigenen Körper. Sie entspannt sich nach den steifen Stunden mit seinen Eltern, und Lachen perlt in ihr auf. Sie legt ihre Hände auf seine Schultern, spürt seine Muskeln, wenn er sie beim Rudern anspannt. Er läßt die Ruder los, seine Hände stehlen sich unter ihr Kleid, um ihren nackten Leib, und sie gleitet vor ihm auf die Knie. Sie schmiegt ihre Hände unter sein Hemd, verschlingt sie hinter seinem harten Rücken. Sein heißer, kurzer Atem an ihrem Gesicht, ihrem Hals, ihrer Brust ist ihr vertraut, seine Hände, der heiße Knoten in ihrem Bauch, wenn er sie küßt. Es gibt nur sie beide, den Geruch der See und das unklare Halbdunkel um sie herum. Sie fährt zusammen, als ein Ruder mit leisen Platschen ins Wasser fällt.

„Kjell, wir sind ja verrückt!“ kichert sie atemlos.

„Deine Schuld.“

Sie kichert ausgelassen im kreiselnden Boot, während sie versuchen, das Ruder wieder zu erwischen.

Es gibt kein Morgen. Er ist hier, sie ist hier, es gibt keine wartenden Eltern, die auf die Uhr sehen, es gibt nur diesen Moment.

Sie ziehen das Boot in einer stillen Bucht aufs Land, in der sie oft baden und finden einen windgeschützten Felsvorsprung. Dort breitet er die Decke aus und öffnet die Tasche. Überrascht und lachend sieht sie zu, wie er eine Flasche Wein und zwei Gläser herausholt. „Bist du verrückt, Kjell?“

„Verrückt? Das hab’ ich schon seit langem so geplant.“

„Du bist unmöglich.“

„Nicht unmöglich, nur sehr umsichtig und klug. – Prost, mein Mädchen!“ sagt er ernst und stößt mit ihr an.

„Prost. Ach, Kjell, ich will nicht, daß du wegfährst.“

„Meinst du vielleicht, ich hätte dazu Lust?“

„Ja, du hast Lust. Du freust dich.“

„Aufs Studium, ja, aber nicht darauf, dich zu verlassen.“

„Aber alles wird ganz neu für dich. Du kannst andere Mädchen treffen. Hübschere, erwachsene Mädchen aus der Stadt.“

„Ich hab’ ein Mädchen, mehr brauch’ ich nicht. Aber wie steht’s mit dir? Du kannst doch auch jemand anderen kennenlernen!“

„Ich? Aber du weißt doch, daß das nicht passiert.“

Und sie denkt, daß das stimmt, so, wie ihre Beziehung jetzt aussieht. Ihre Schuldgefühle ihrer Mutter, ihren Eltern gegenüber hat sie weit weggeschoben. Will nicht daran denken. Hier bei ihm endet alles. Es gibt keinen anderen Weg für sie, sie wünscht sich auch keinen. Der bloße Gedanke, so mit einem anderen zusammenzusein, erscheint ihr unmöglich.

Bei ihm gibt es Sicherheit, alles andere wird verdrängt und ist unwesentlich.

Um den Hals trägt sie eine dünne Kette. Er streift seinen Siegelring darüber und befestigt die Kette wieder um ihren Hals. „Trag das immer. Versprichst du mir das?“

Sie umklammert den Ring mit der Hand, schluckt. „Kjell, das ist ja fast, als wären wir verlobt.“

„Sind wir das denn nicht?“

Vielleicht liegt es am Wein, vielleicht an der Nacht, den warmen Gerüchen, der Einsamkeit draußen auf der Insel, dem Gefühl, frei zu sein, sie weiß es nicht; aber so nah ist er ihr noch nie gewesen. Sie wagt es, Dinge zu sagen, die sie bisher nur gedacht hat. „Sag nichts, Kjell, sei nur bei mir, ganz ruhig, lieg ganz still.“

Und sie liegen nackt und engumschlungen da, Gesicht an Gesicht. Sie spürt ihn in sich, und er ist still, warm.

„Sei vorsichtig mit mir, Kjell, sei lieb.“

„Ja, Lena“, und seine Hände sind leicht, behutsam; sie wünschte, es nähme nie ein Ende. Denkt, daß es so sein soll.

Danach baden sie, und im eiskalten Wasser zieht sich die warme Haut überall zusammen. Sie stehen am Strand, dicht beieinander, mit nassen, kalten Körpern, und kichern wie die Kinder.

„War das hier auch geplant?“ fragt sie, als sie sich in die Decke gewickelt haben und wieder hinsetzen.

„Aber sicher“, lacht er. „Aber verdammt, das war eher kalt als romantisch.“

Es ist eine dieser warmen, dunklen Nächte, die im Sommer hier vorkommen. Die Felswand hinter ihnen ist immer noch sonnenwarm. Sie haben die Decke über sich gebreitet und trinken Wein, schmusen, reden. Die kostbaren Stunden rinnen ihnen durch die Finger.

„Kjell, was sagen deine Eltern dazu, daß wir zusammen sind?“

„Die finden das großartig. Mutter findet dich nett und sehr sympathisch, und dann verläßt sie sich auf uns“, äfft er seine Mutter nach.

„Sie sollte uns jetzt sehen!“

„Himmel, dann würde sie einen Anfall kriegen. Ich glaub, sie kann sich einfach nicht vorstellen, daß sowas passiert.“

„Und dein Vater?“

„Der? Der hat mich schon vor langer Zeit zu einem Gespräch unter Männern aufgefordert.“

„Was bedeutet das?“

„Er hat gefragt, ob ich Kondome benutze.“

„Und was hast du gesagt? Was hast du geantwortet?“ fragt sie schockiert.

„Ich hab natürlich ‚ja’ gesagt.“

„Aber was hat er dazu gesagt?“

„Er findet das vernünftig von uns.“

„Kjell! Dann weiß er das ja! Hast du nicht daran gedacht, wie peinlich das für mich ist?“

„Red doch keinen Quatsch, Lena. Er ist realistisch, und außerdem ist er Arzt. Meinst du denn, der hat sich das nicht schon längst gedacht? Meine Mutter, die schwebt in einer Welt, in der im Grunde alles anständig und hübsch ist. Mein Alter lacht bloß darüber.“

„Er lacht über deine Mutter?“

„Ja, aber das ist nicht böse gemeint. Er trägt sie auf Händen. Läßt sie denken, was sie denken möchte.“

„Das ist nicht richtig von ihm.“

„Doch, sicher ist das richtig. Das werd’ ich auch eines Tages machen, dich auf Händen tragen.“

„Und wenn ich das nicht will?“

„Ach, das willst du bestimmt.“

Als sie nach Hause rudern, ist die Nacht dunkel und seltsam. Meeresleuchten glitzert um die Ruder; wenn er sie hebt, funkeln die Tropfen. Das Wasser phosphoresziert um ihre Finger, die sie ins Wasser hängen läßt. Sie sitzt hinten im Boot. In ihr zieht der Schmerz sich zusammen, alles, was sie in diesen Stunden verdrängt hat. Morgen wird er fahren.

„Wir verabschieden uns nicht jetzt“, sagt sie, als er geht. „Ich komm’ an den Bus.“

Aber der Bus weckt sie am nächsten Morgen auf, als er quietschend vor dem Laden anhält. Sie fährt hoch, aber ehe sie richtig wach ist, sieht sie ihn auch schon hinter dem Hügelkamm verschwinden.

Nackt kriecht sie unter der Decke zusammen. Ihr Körper riecht nach Meerwasser. Ihr Kleid hängt zerknüllt über dem Stuhl, fleckig von Salzwasser und Rotwein. Sie reißt es an sich und vergräbt ihr Gesicht darin. Es riecht auch. Es riecht nach Kjell, See und Felsen, Heu und Strandhafer, und sie wirft es in die Ecke. Er ist fort. Vor ihr liegt eine Ewigkeit aus grauen Tagen. Sie wird ihn erst zu Weihnachten wiedersehen.

Später, Lena, später

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