Читать книгу Später, Lena, später - Anne Karin Elstad - Страница 6
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ОглавлениеAlles, was von außen kam, beeinflußte sie ungeheuer stark, Filme, Reklame, Mode, ein glattes Äußeres, den Idealen so nah wie möglich. Mädchen sollten sexy sein, trotzdem aber von reizender Unschuld, eine Mischung aus Marilyn Monroe und Doris Day. Jungen sollten stark sein, einen schmalen Hintern und breite Schultern haben. An Aussehen und Betragen wurden Forderungen gestellt. Auf der Tanzfläche wurde das Mädchen im Petticoat herumgeschleudert, wobei ihre Unterhose bis zur Taille zu sehen war; nervös konzentrierte sie sich auf ihre Beine, ihre Schenkel, ihren Po, ob alles gut genug war. Gleichzeitig sollte sie „anständig“ sein. Um mit einem netten Jungen gehen zu können, mußte sie einen fleckenlosen Ruf haben.
Heute, nach all den Jahren, kann Lena erkennen, wie brutal dieser Druck auf ihnen allen gelastet hat. Damals nahmen sie es als gegeben hin, waren in einem Muster gefangen, das ihnen nicht bewußt war. Und dazu hatten sie noch die Schule, die Höchstleistungen forderte.
Sex wurde in Filmen, Reklame und Illustrierten vermarktet. Sie sprachen darüber, aber meistens sehr oberflächlich. Niemand traute sich, Unsicherheit, Unwissenheit oder Angst preiszugeben.
In der Schule wurde von Mädchen und Jungen das gleiche verlangt. Draußen waren sie streng nach Geschlechtern getrennt und völlig unterschiedlichen Anforderungen unterworfen. Wenn ein Junge von einer zur anderen flatterte und lauthals mit seinen Eroberungen prahlte, wurde das akzeptiert und festigte seine Position. Wenn ein Mädchen dasselbe tat, fiel sie sofort unter die Kategorie Freiwild, und ihre Chancen, das attraktive Ziel „fester Freund“ zu erreichen, sanken beträchtlich. Sie sollte zwar rechts und links flirten, um ihre Attraktivität und Popularität unter Beweis zu stellen, aber sie sollte Grenzen ziehen können. Bei vielen Mädchen führte das zu einer zynischen Einstellung den Jungen gegenüber. Sie benutzten ihr Geschlecht als Waffe. Da sie immer wieder mit äußerlichen Maßstäben gemessen wurden, nahmen sie den Jungen gegenüber Kampfhaltung ein. Einen Jungen zum Kochen zu bringen, um ihn dann verschmähen zu können, wurde zum sichtbaren Sieg, und sie rächten sich damit unbewußt für ihre eigene verwundbare Lage. Sie kamen nie auf die Idee, daß ein Korb für einen Jungen, der sie zum Tanz aufforderte, eine ebenso große Demütigung war wie das Mauerblümchen-Dasein für ein Mädchen. Im Kampf um Status war das erlaubt. In einem Kampf, in dem die Jungen die Stärkeren waren, weil sie das Recht hatten zu wählen. Die mutigsten Mädchen konnten sich durch Körbe rächen. Wer einen Tanz nach dem anderen sitzen blieb, konnte sich das nicht leisten, egal wer der Junge auch sein mochte.
Sie wurden selbstbezogen und körperfixiert. Die Jungen redeten von Titten und Beinen und Schenkeln, und selbst die hübschesten Mädchen litten unter schweren Komplexen. Immer fanden sie etwas an sich, das nicht gut genug war.
Diese Haltungen nahmen sie mit sich ins Leben. Eine Scheinwelt aus ermüdenden Forderungen und falschen Idealen. Eine Glanzbildwelt, in der Unsicherheit hinter glatten und uniformierten Fassaden versteckt wurde.
Doch nicht nur dadurch wurden sie geformt, auch die Atmosphäre im Gymnasium war etwas Besonderes. Die meisten von ihnen wohnten möbliert. Viele kamen wie Lena aus kleinen Orten, in denen es für die Jugend nur die Wochenend-Feste in den nahegelegenen Lokalen gab. Nun waren sie in einer völlig anderen Welt gelandet. Sechzehnjährige mußten auf sich selber aufpassen, Verantwortung für Geld und Schule tragen. Wer von der Realschule kam, wohnte schon seit zwei Jahren möbliert. Das gab ihnen Freiheit, machte sie aber auch frühreif. In der Auseinandersetzung mit der neuen Umgebung verloren sie den Kontakt zu alten Freunden und ihren Heimatorten. Die Konkurrenz der Samstagabende wurde zum immerwährenden Zustand.
Die möblierten Zimmer hatten ihre eigenen Gesetze. Jungen genossen größere Freiheit als Mädchen, die von eifrigen Wirtinnen überwacht wurden. Einige durften keinen Herrenbesuch empfangen. Andere Vermieterinnen waren weniger streng in ihren Vorschriften und setzten eine Frist. Keine Jungen nach neun, zehn oder elf, je nach Dehnbarkeit der Toleranz. Ein Verstoß gegen diese Regeln bedeutete bestenfalls, daß Schule und Eltern informiert wurden. Schlimmstenfalls bedeutete es Kündigung des Zimmers – und in Fällen, die als extrem galten, den Verweis von der Schule. Das kam zu Lenas Schulzeit vor, passierte aber nur Mädchen. Sie kann sich an keinen einzigen Jungen erinnern, der von der Schule geworfen wurde. Jungen, die von der Schule abgingen, waren sitzengeblieben oder hatten die Lust verloren.
Ein Mädchen mit einem solchen Schicksal war erledigt. Die anderen Mädchen sprachen darüber, waren im tiefsten Innern empört, hatten Mitleid mit ihr, wagten aber nicht, es zu zeigen. Sie stimmten in das verdammende Geheul ein, voller Angst, in dieselbe Kategorie eingeordnet zu werden, unter die diese Mädchen unweigerlich fielen. Sie sahen die Ungerechtigkeit, nahmen sie aber hin als einen Teil der Ordnung, der sie sich fügen mußten.
Wenn jemand Lena damals gefragt hätte, ob sie glücklich sei, hätte sie ihn erstaunt angeblickt. Sollte sie denn nicht glücklich sein? Sie ging mit einem der attraktivsten Jungen der Schule. Außerdem machte er Abitur und hatte Erfolg. Das verlieh ihr Status, erleichterte die Zeit der Anpassung. Sie brauchte nur ins Zimmer gegenüber zu gehen, um den Beweis zu erhalten. Dort wohnte Synnøve. Sie kam von der Realschule, war eine Klasse über Lena und erschreckte sie zu Tode, als sie sie zum ersten Mal sah. Sie war umwerfend: schlank, attraktiv, selbstsicher, nonchalant. Lena fühlte, wie sie schrumpfte und unter Synnøves trägen, abschätzenden Augen, die sie mit einem einzigen überlegenen Blick maßen, zu nichts wurde.
Sie kann es noch heute deutlich vor sich sehen. Synnøve stellte alles dar, was sie selber gerne gewesen wäre. Ihr honiggelbes Haar fiel in einer dicken Innenrolle auf ihre Schultern. Das glatte, hübsche Gesicht war goldbraun und perfekt geschminkt. Schwacher grüner Lidschatten vermittelte die Illusion eines grünlichen Schimmers in den blauen Augen mit den langen, dunklen Wimpern.
In der ersten Zeit behandelte Synnøve Lena mit herablassender Überlegenheit, änderte ihr Verhalten aber, als sie Lenas Beziehung zu Kjell begriff. Nun akzeptierte sie Lena als Freundin. Lena erinnert sich noch an ihre Angst, als Synnøve und Kjell sich kennenlernten. Synnøve glitzerte. Sah ihn mit ihrem typischen von-unten-nach-oben-trägen Blick an. Jetzt merkte sie, wie gut er eigentlich aussah. Die dunklen, vorne gelockten Haare waren mit Frisiercreme zur genau richtigen halblangen Tolle nach hinten gebürstet, sogar im Winter war er braun. Synnøves blonder Kopf sah neben seinem dunklen so schön und richtig aus.
Lena weiß noch gut, welches Bild sie damals von sich hatte. Natürlich war sie nicht zufrieden, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sie war keine Schönheit, aber in ehrlichen Momenten konnte sie sehen, daß sie ein normal hübsches Mädchen war. Ihre hellbraunen Haare fand sie langweilig, aber sie waren dicht und glänzten. Meistens trug sie sie als Pferdeschwanz, an den Wochenenden offen, wenn sie sich durch eine Nacht mit Lockenwicklern gequält hatte. Der Pony fiel schwer über ihre ruhigen, grauen Augen. Kjell sagte, die Augen seien das Schönste an ihr. Er neckte sie oft mit ihrer Stupsnase, und sie fand ihre Wangen zu kindlich rund. Sie war groß, langbeinig und dünn. Trotzdem hatte sie schreckliche Angst davor, zuzunehmen. Ihre Brüste waren zu klein, ein Mangel, der durch Büstenhalter mit Einlage getarnt wurde. Normal, fand sie meistens, aber neben Synnøve kam sie sich wie eine graue Maus vor.
Kjell durfte sie auf ihrem Zimmer besuchen, nur abends traute sie sich nicht, ihn hereinzulassen, wenn Stein nicht dabei war. Wenn die beiden zusammen kamen, schaute Synnøve immer herein. Kjell flirtete mit ihr, und in Lena brannte die Eifersucht. Es gehörte zum Spiel zwischen ihnen, es mußte so sein. Sei-dir-meiner-ja-nicht-zu-sicher hieß das Spiel. Sie wußte, daß er sie damit nur necken wollte. Trotzdem war sie vor Eifersucht außer sich. Bei der ersten Gelegenheit nahm sie Rache. Flirtete auf dem Schulhof, tanzte auf Festen lange eng mit anderen. Dann gab es Streit und Reue und stürmische Versöhnung. Manchmal wünschte sie, sie fände den Mut, ihm zu sagen, daß sie unsicher war, daß sie Angst hatte, ihn zu verlieren, daß ihr niemand anders etwas bedeutete. Aber sie wagte es nicht, wagte nicht, ihre Schwäche zu zeigen.
Daran erinnert sie sich am besten, an die Unsicherheit, die Angst vor dem Versagen. Sie lernten nie, in solchen Fällen offen miteinander zu sein. Lernten es auch später nie.
Lena erkannte bald, daß Synnøve Macht über sie hatte. Sie wußte auch, daß Synnøve sie benutzte. Sie als Hintergrund für sich selber benutzte, als Einstieg in die Gruppe um Kjell und Stein. In die attraktive Gruppe von Abiturienten. Trotzdem fühlte sie sich geschmeichelt, weil Synnøve sie zur Freundin haben wollte, geschmeichelt und ängstlich zur selben Zeit.
Eines Abends sitzen sie zusammengerollt auf dem Sofa.
„Starke Typen, die da“, sagt Synnøve und zeigt mit ihrer Zigarette auf die ganzseitigen Illustriertenbilder, Tony Curtis, Rock Hudson, Gregory Peck, Howard Keel. – „Aber alle irgendwie gleich. Alle dieselben Mistkerle.“
„Das meinst du noch nicht“, lacht Lena.
„Doch, weißt du, das mein’ ich. Eigentlich.“
„Einige sind doch in Ordnung, findest du nicht?“
„Dann zeig’ mir doch mal so einen! Ja, dein Kjell natürlich, ’tschuldigung, der ist natürlich nur prima, nicht wahr? Warst du übrigens schon mit ihm im Bett?“
„Nein, wie kannst du fragen. Natürlich nicht!“ sagt Lena und wird rot.
Synnøve lacht. „Du lügst, meine Kleine.“
„Nein, tu’ ich nicht! Ich bin keine von denen, die gleich am ersten Abend ins Bett hüpfen!“
„Wie süß! Ist das wirklich wahr? Ihr hängt doch schon ewig zusammen, oder nicht?“
„Keine Ewigkeit, bloß ein paar Wochen.“
„Junge, da kannst du dich ja noch auf was freuen!“ grinst Synnøve und bläst Rauchringe in die Luft. „Und sie gab sich ihm hin, und ihr Glück war vollkommen. Sie schwebte im Raum auf einer Wolke aus hingerissenem Glück und Ekstase“, deklamierte sie.
Lena kichert. „Blöde Kuh!“
„Wart’ du nur! Bald naht der Tag, wo Klein-Lena ihre Tugend verliert!“
„Die kann man wohl nur einmal verlieren“, kichert Lena.
Dann beißt sie sich auf die Lippen. Das hätte sie nicht sagen dürfen. Synnøve reißt die Augen auf. „Ist das wahr? Erzähl!“
Lena will ausweichen, aber Synnøve läßt nicht locker. „Erzähl, erzähl!“
„Ach, es war nur blöd. Ich hatte mir eingebildet, ich wäre in den Typen verknallt. Alle anderen waren hinter ihm her, weißt du. Zwei-, dreiundzwanzig, sah unheimlich toll aus. Im Frühling waren wir ein paar Wochen zusammen.“
„Und Kjell?“
„Kjell hat mich da nicht mal angesehen. Und er war ja auch fast nie zu Hause, er war ja hier, nicht wahr?“
„Und dann hat das erwachsene Schwein dich bedrängt, und du hast mit ihm geschlafen, was?“
„Ja. Das war schrecklich. Das war nur schrecklich!“
„Und nachher ist er natürlich mit seinem Erfolg bei dir hausieren gegangen. Und ei der Daus und Lena ist ’raus.“
„Du bist gemein“, sagt Lena matt. „Das war so. Das hat er gemacht.“
„Ach, Himmel, gibt’s wohl etwas noch Bescheuerteres als Mädchen und etwas Schlimmeres als aufgeblasene, eingebildete Mannsbilder?“ seufzt Synnøve. „Und wie willst du das deinem lieben, netten Kjellchen erzählen?“ fügt sie mit schrecklichem Grinsen hinzu.
„Das geht den doch nix an. Da war ich noch nicht mit ihm zusammen.“
„Bildest du dir das ein?“
„Und die, mit denen er geschlafen hat?“
„Das ist was anderes. Das ist was ganz anderes.“ Synnøve streckt sich. „Wart’ du nur, meine Kleine.“
„Aber das ist doch nicht gerecht!“
„Meinst du, der schert sich um Gerechtigkeit? Du bist eine dumme Göre, Lena.“
„Bist du Jungfrau?“ fährt Lena dazwischen.
Synnøve kneift die Augenbrauen zusammen. „Das wüßtest du wohl gern, was?“
„Ich hab’s dir erzählt. Fairer Tausch.“
„Bin ich natürlich nicht.“
„Und was hältst du davon?“
„Das will ich dir sagen, Mädchen“, sagt Synnøve hart und drückt mit wütenden Händen die Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich kann’s nicht vertragen. Bring’ es nicht. Es ist bloß ekelhaft und scheußlich und – ach, es ist nichts!“
„Aber warum tust du’s dann?“
„Weil’s dazu gehört.“ Synnøve schneidet eine Grimasse.
Sie streckt ein langes Bein aus. Wackelt mit dem nackten Fuß unter der engen Hose. Spreizt braune Zehen mit rosa Nagellack, streckt den Fußrücken, betrachtet ihr Bein, lacht leise. „Aber alles vorher finde ich verdammt toll!“
„Vorher? Wieso denn?“
„Daß er mich mag, verstehst du. Daß er meinen Körper toll findet, daß er mich gut findet. Sehen, wie blöd er sein kann. Bist du jetzt schockiert, oder was?“ lacht Synnøve und springt auf, streckt die Arme zur Dekke. Lena betrachtet den schönen Körper in hautenger, schwarzer Hose und weißem, engem Rollkragenpullover voller Mißgunst. Sie könnte die Einlagen auch aus dem BH nehmen. Synnøve braucht keine.
„Okay, Lena. Keine Panik. Mit Kjell, meine ich. Aber er soll sich vorher ein bißchen anstrengen. Das ist ein guter Rat. Ich weiß, wovon ich rede!“
„Blöde Kuh“, lacht Lena matt.
Aber das Gespräch mit Synnøve hat sie verstört.