Читать книгу Homer Pym - Anne Plichota - Страница 10

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KAPITEL

Man brauchte nicht sehr lange nachzudenken, um zu erkennen, dass diese Situation vollkommen abwegig war. Anstatt tief und fest zu schlafen, durchwühlte er das Arbeitszimmer seiner Mutter auf den drängenden Wunsch einer sprechenden Rennmaus hin.

Nur um festzustellen, dass das Tierchen recht hatte: Der Schlüssel des verbotenen Nebengebäudes war da, ganz unten in der dritten Schublade. Wie konnte ein winziges Tier, das erst seit ein paar Tagen im Haus war, das nur wissen?

»Ist es wirklich das, was dich am meisten beunruhigt?«, zischte sich Homer selbst zu.

Er schüttelte den Kopf, verdutzt über seine eigene Reaktion. Das Problem war schließlich nicht die Frage, woher Bibi Zwo wusste, wo sich der Schlüssel befand, sondern, wie es möglich war, dass eine Rennmaus sprechen konnte!

Eine Fehlfunktion seines Verstandes, das musste es sein. Der Besuch von Georg Finck hatte irgendetwas in seinem Gehirn durcheinandergebracht. Denn Mäuse sprachen nicht.

Niemals.

Es schwirrten ihm so viele Gedanken durch den Kopf, dass er nicht mehr klar denken und schon gar keine Ordnung mehr in seinen Gedankensalat bringen konnte. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf gleich explodieren würde.. Es hätte ihn nicht einmal großartig überrascht, wenn Rauch aus seinen Ohren gequollen wäre.

»Du solltest aufhören zu glauben, dass du dich hier in einem Film befindest«, murmelte er.

Im Halbdunkel des Zimmers kam ihm der Schlüssel kleiner vor, als er ihn in Erinnerung hatte. Sollte er ihn mitnehmen und damit gegen das klare Verbot seiner Mutter verstoßen? Oder wäre es nicht viel vernünftiger, einfach wieder in sein Zimmer zurückzukehren und so zu tun, als wäre all das nie passiert? Bibi Zwo war schlau. Sie war in das Nebengebäude hineingelangt, also würde sie es auch wieder hinausschaffen.

Ja, er würde in sein Zimmer zurückgehen und morgen früh würde er in seinem Bett aufwachen, während die kleine Rennmaus friedlich in ihrem Käfig schlief, sie würde nicht sprechen können, alles wäre wieder in Ordnung und er würde über diesen sehr lebhaften Traum einfach lachen.

Doch irgendetwas tief in ihm drin, drängte ihn dazu, genau das Gegenteil zu tun. Seit er den Schlüssel in der Hand hielt, wusste er, dass er seiner Intuition folgen und das, was er bereits begonnen hatte, zu Ende bringen musste.

Ihm war klar, dass dies nur der Anfang war.


Als Homer die Tür öffnete, strömten ihm kühle Luft und ein muffiger Geruch entgegen. Er zögerte, das Licht anzuschalten. Doch in dieser fast vollkommenen Dunkelheit würde es ihm sicher nicht gelingen, seine flüchtige Rennmaus wiederzufinden. Und dafür war er schließlich hier oder nicht? Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drückte er auf den Lichtschalter.

Seit die Polizei vor fünf Jahren wieder abgezogen war, war im Schnittstudio nichts mehr verändert worden: Alles lag noch immer, von den Polizisten auf den Kopf gestellt, da, mit einer dicken Staubschicht überzogen und obendrein überall voller Spinnweben.

Wie der Schlüssel kam ihm auch hier alles kleiner vor als damals. Und viel gruseliger.

»Bibi Zwo, komm jetzt, das ist echt nicht mehr lustig!«

Seine Stimme hallte seltsam wider, einen Hauch schriller als sonst. An diesem Ort voller Erinnerungen fühlte er sich so unwohl, dass es ihm fast die Kehle zuschnürte. Der Filmprojektor wirkte, als könne er jeden Moment die Bilder preisgeben, die sich auf den schweren Filmrollen eingebrannt hatten; man musste bloß den »On«-Knopf drücken. Doch das hätte Homer um keinen Preis gewagt.

Die Präsenz – und vor allem die Abwesenheit – seines Vaters waren hier viel deutlicher spürbar als im Auto oder in der Garage.

Schließlich erblickte er die Maus auf einem Stapel Filmrollen. Als sie merkte, dass er sie entdeckt hatte, sprang sie auf ein dickes rotes Heft. Obwohl die Seiten durch die Feuchtigkeit aufgequollen waren, erkannte Homer es sofort: Es gehörte seinem Vater, er notierte darin immer alles, was seine aktuellen Filme betraf – Beschreibungen und Skizzen der Figuren, der Ausstattung, der Kostüme, der Handlung und von Szenenelementen, einfach alles bis ins kleinste Detail. Er arbeitete oft Jahre an einem Film und steckte seine ganze Leidenschaft hinein. Niemals hätte er aus einer Laune heraus einen Dreh mittendrin abgebrochen. Isabelle Pym war nicht müde geworden, dies immer und immer wieder zu betonen, doch niemand hatte ihr geglaubt. Man bevorzugte die Version von einer stürmischen neuen Liebschaft, vom Umkrempeln des Lebens, von einem Neuanfang in einem anderen Land. Alle hatten Mitleid mit dieser armen verlassenen Frau gehabt, die plötzlich mit ihrem kleinen Sohn allein dastand.

Und schließlich hatte man sich wieder anderen Dingen zugewandt.

»Antworten auf deine Fragen / könnten hier sich sagen«, verkündete die Rennmaus mit ihrer Piepsstimme.

»Und dann sprichst du auch noch in Reimen …«, stellte Homer genervt fest. Er fühlte sich plötzlich sehr müde.

»Setz dich / glaub an mich / und das Geheimnis wird / gelüftet unbeirrt.«

Die Rennmaus sprang von dem Notizbuch herunter und versuchte, den Deckel hochzuklappen, um die erste Seite aufzuschlagen.

Wie hypnotisiert schob Homer das Durcheinander auf der alten Ledercouch zur Seite und setzte sich zwischen die Unterlagen und Papiere, die dort achtlos verteilt worden waren. Vor ihm an der Wand hing eine große, leicht vergilbte Filmleinwand.

Er nahm das Notizheft, legte es sich auf die Knie und begann, mit Bibi auf der Schulter, zu lesen.

Die Geschichte kannte er, zumal er sie dieses Jahr im Unterricht durchgenommen hatte. Die Odyssee. Die Abenteuer des Odysseus, erzählt vom Dichter Homer … und anderen antiken Verfassern. Sein Vater liebte die griechische Mythologie, die Sagen, die Epen, die Figuren mit ihren außergewöhnlichen und tragischen Schicksalen. Seinen Sohn hatte er schließlich auch nicht umsonst Homer genannt. Ein Name, den er sein Leben lang buchstabieren und sich immer wieder anhören musste: »Ach ja, Homer wie Homer Simpson!«, worauf er unermüdlich erwiderte: »Ja, aber auch wie der Dichter aus der Antike.«

Dank der Leidenschaft seines Vaters war seine Kindheit umrankt gewesen von den Abenteuern der antiken Götter und Helden. Odysseus, Zeus oder Achilles waren ihm keine Unbekannten.

Nach seinem Filmstudium hatte David Pym einige wenig erfolgreiche Filme gedreht und sich dann in ein mitreißendes Projekt gestürzt: eine ausgefallene Fantasy-Neufassung der berühmten Odyssee, die sich Homer nun im Detail offenbarte.

Und die Version seines Vaters war nicht nur spannend, sondern sie bewegte ihn auch sehr, denn er erkannte darin alles, was er an ihm liebte, seine Fantasie, seine Vorliebe für fremdartige Welten und einen ausgeprägten poetischen Stil.

In der Mitte des Heftes befand sich ein Stück Filmrolle als Lesezeichen. Homer hielt es gegen das Licht, um zu erkennen, was darauf zu sehen war.


Mechanisch steckte er es in die Tasche seiner Pyjamahose und setzte seine Lektüre fort.

Gefangen von der Geschichte, zuckte er vor Schreck zusammen, als Bibi plötzlich mitten auf das geöffnete Heft sprang.

»Lass mich lesen«, knurrte er und packte sie, um sie wieder zurück auf seine Schulter zu setzen.

Sie hielt fünf Sekunden lang still und sprang dann erneut hinunter.

»Du willst mich wohl ärgern, was?«

Sie starrte ihn so schelmisch an, dass es fast menschlich wirkte. Dann duckte sie sich und bohrte ihre feinen Krallen ins Papier des Notizheftes.

»He, was soll denn das?«, rief Homer.

Bibi war es gelungen, ein Wort aus dem Heft herauszureißen wie eine Wurzel aus der Erde! Sie zerrte ächzend mit aller Kraft weiter am Papier, bis sie einen ganzen Satz herausgerissen hatte, zusammen mit der Skizze einer Zirkusmanege. Doch damit nicht genug, Bibi warf die Papierfetzen hoch, und die mit blauer Tinte geschriebenen Wörter und die Skizze flatterten durch die Luft. Homer sah wie hypnotisiert zu. Währenddessen riss die Maus bereits hastig weitere Sätze heraus und warf sie hoch, bis eine ganze Wolke aus Wörtern das Studio erfüllte.

Als die Seite vollkommen leer war, sprang Bibi wieder auf die Schulter des fassungslosen Homer und fing an, wie ein Dirigent mit ihren Pfötchen herumzufuchteln. Die Worte ordneten sich neu an und bildeten eine Spirale, die größer und größer wurde.

Homer konnte den Luftzug körperlich spüren, der von diesem schwindelerregenden Wirbel ausging, seine Haare flatterten wie bei einem Sturm, leichte Gegenstände wurden mitgerissen, sogar die kleine Rennmaus musste sich am T-Shirt ihres Besitzers festklammern, um nicht gegen die Wände oder die Decke geschleudert zu werden.

Plötzlich schaltete sich der uralte Filmprojektor ein, warf einen gleißenden Lichtkegel auf die Leinwand. Bilder fingen an vorbeizuziehen, doch Homer schloss reflexartig die Augen, um sich vor Verletzung oder dem Erblinden zu schützen. Er nahm sehr wohl das unglaubliche Gefühl wahr, das von dem heißen Licht des Projektors hervorgerufen wurde, und auch den Wortwirbel, der ihn einhüllte. Die Buchstaben, die Sätze streiften ihn wie ein Streicheln, zogen ihn hoch … rissen ihn mit.

Plötzlich wurde es ganz still. Doch Homer wagte nicht sofort, seine Augen wieder zu öffnen. Etwas sagte ihm, dass er sich nicht friedlich in seinem Bett befinden würde, als wäre all das nur ein unglaublicher Traum gewesen, einer von denen, die das Gefühl hinterließen, man hätte sie wirklich erlebt, weil sie so echt wirkten.

Mit noch immer geschlossenen Lidern tastete er nach seiner Schulter. Bibi Zwo saß weiterhin zitternd darauf und klammerte sich fest.

»So ein Tornado, alle Wetter / da wirbeln die Haare wie Blätter!«, seufzte sie in sein Ohr.

Zuckerwatteduft lag in der Luft und in der Ferne hörte man eine Blaskapelle spielen. Mit jeder Sekunde übertrumpfte Homers Neugier seine Furcht. Er blinzelte durch ein Augenlid, dann durch das zweite: Vor ihm erhob sich auf einer Insel die Kuppel eines riesigen, rot-goldenen Zirkuszeltes, dessen Fähnchen bei Sonnenuntergang im Wind flatterten.

Die Augen des Jungen weiteten sich vor Erstaunen und Besorgnis: Das Zirkuszelt war vollkommen identisch mit den Skizzen seines Vaters.

»Für das letzte Schiff zum Zirkus Ithaka hier entlang bitte!«, sagte eine Frau mit kraftvoller, feierlicher Stimme.

Homer zuckte unwillkürlich zurück, als er entdeckte, wer ihn da angesprochen hatte.

Ein menschliches Gesicht mit kantigen Zügen, einer rot flammenden Löwenmähne und einem am unteren Ende wie eine Schlangenzunge gespaltenen Ziegenbärtchen. Das Wesen hatte einen gedrungenen, haarigen Körper und trug einen Mantel aus rotem Samt … faszinierend und bedrohlich zugleich, hockte es auf seinen Hinterbeinen und richtete seinen stechenden Blick auf den Jungen, der sich dabei schrecklich klein und verletzlich vorkam.

»Ich glaub’s nicht, sieht fast aus wie eine Chimäre …«, murmelte er.

»Strapazier nicht ihre Geduld / sie ist dir nicht immer so hold«, beschwor ihn die Rennmaus leise und bestätigte damit seine Vermutung.

Die Chimäre reichte ihm ihre Tatze, deren Krallen tadellos gefeilt und mit rosa Glitzer lackiert waren.

»Wenn ich bitten darf!«, sagte sie noch einmal.

Ihr drängender, fast schon erboster Ton erlaubte keine Widerrede. Homer sah sich um. Er war allein. Der Befehl richtete sich an ihn.

Das Schnittstudio tauchte noch einmal in seinem Augenwinkel auf, das Sofa, auf dem er noch vor wenigen Augenblicken gesessen hatte, der Projektor, der Lichtkegel mit den bewegten Bildern, die Filmspulen, das Durcheinander. Er sah nun alles von der anderen Seite der Leinwand aus, wie durch ein offenes Fenster! Doch sobald er den Blick auf das Zimmer richtete, verblasste es.

Unmöglich, einen Rückzieher zu machen.

Also holte Homer tief Luft und ging mit seiner Rennmaus auf der Schulter direkt auf die Chimäre zu.

Homer Pym

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