Читать книгу Homer Pym - Anne Plichota - Страница 7
ОглавлениеKAPITEL
Laue Windböen wehten wie so oft und trugen das Geräusch der Wellen zu ihm herüber, die sich nicht weit vom Anwesen der Pyms am Fuße der Steilküste brachen.
Fantasievoll, wie Homer war, neigte er dazu, in dem, was ihn umgab, etwas anderes zu sehen oder zu hören als das, was von seinen Sinnen wahrgenommen werden konnte. Die Form einer Wolke, die Art und Weise, wie sich ein Insekt fortbewegte, das Zwitschern eines Vogels … Er sah darin Zeichen, die er interpretierte, und entfloh so oft der Realität. An diesem Tag wollte ihm der Wind eine Welt zeigen, die atmete, sich wandelte, lebte. So wie er.
»Hallo Gutfried!«, rief er dem rosa Schweinchen zu, das sich in seinem Gehege abseits des Hauses vergnügte.
Das Tier schien stets zu lächeln und sah ihm, auf einer Kartoffel oder einem Stück alten Brots herumkauend, nach, als er vorbeilief. Homer und seine Mutter hatten es am Tag nach Davids und Aristids Verschwinden im Garten gefunden. Überwältigt von Sorge, hatten sie weder Kraft noch Lust gehabt herauszufinden, wem es entwischt sein konnte. Also hatten sie es behalten, zumal niemand es zu vermissen schien.
In der ersten Zeit war es noch so klein gewesen, dass sie es wie einen Hund oder eine Katze im Haus halten konnten. Es hatte zwar nie Aristid, den schönen Shiba, ersetzen können, aber es hatte seinen Platz in der Familie gefunden.
Doch aufgrund seiner zunehmenden Körpergröße und seines Geruchs wurde ihm schließlich ein komfortables Gehege im Garten errichtet. Seitdem kümmerte sich Isabelle oft und gerne um das Tier. Sie duschte es mit dem Gartenschlauch ab, rubbelte es von Kopf bis Fuß trocken und verwöhnte es mit Essensresten, die sich das Schwein unter großem Gegrunze schmecken ließ.
Homer hatte seine Mutter auch schon des Öfteren dabei ertappt, wie sie mit dem Schwein redete. Was sie wohl … einem Schwein zu erzählen hatte? Es war seltsam. Aber definitiv auch nicht seltsamer, als mit einer Rennmaus zu sprechen, so wie er es oftmals tat.
Er ging durch den mehr oder weniger gepflegten Garten und kam an der großen Kiefer vorbei. Darunter stand sein Spielhaus aus Kinderzeiten, das sein Vater ihm gebaut hatte und das nun langsam verfiel. Er blieb vor der Korkeiche stehen, unter der Steine aufgehäuft und mit einem kleinen Kreuz aus Ästen versehen worden waren.
»Hallo Bibi, ich möchte dir Bibi Zwo vorstellen, sie ist gerade bei uns eingezogen«, sagte er und streichelte den flauschigen Kopf der Rennmaus, die vom Wind verängstigt schien.
Er setzte sich im Schneidersitz vor den Steinhaufen und fing an, von seinem Tag zu erzählen, so wie er es regelmäßig tat, da er überzeugt war, dass irgendetwas Bibi Eins mit seinem Vater verband. Aber er hatte nie – NIEMALS! – auch nur gedacht, sein Vater könnte … nicht mehr am Leben sein. Im Gegenteil, tief in ihm spürte er ganz deutlich seine Anwesenheit, seine Existenz, die Gewissheit, dass er zurückkommen würde.
»He, Bibi, was machst du da?«, rief er plötzlich und sprang mit einem Satz auf.
Die Rennmaus war ihm entwischt und flitzte nun durchs hohe Gras, in dem er ihr kaum mit den Augen folgen konnte.
»Bibi Zwo!«, schrie Homer.
Schließlich erspähte er sie weiter hinten auf dem gepflasterten Weg und er hätte schwören können, dass sie dort Männchen machend auf ihn wartete und ihn mit ihren winzigen Äuglein aufmerksam beobachtete. Doch sobald er näher an sie herankam, huschte sie wieder los in Richtung der ans Wohngebäude angrenzenden Garage und schließlich weiter zu einem kleinen rückversetzten Nebengebäude, einer Art Puppenhaus, das erst Homers Großvater und schließlich seinem Vater als Filmschnitt-Studio gedient hatte. Es war David Pyms Rückzugsort gewesen.
Die Letzten, die ihn betreten hatten, waren Polizisten gewesen, kurz bevor die Ermittlungen eingestellt wurden, die Monate in Anspruch genommen hatten, ohne zu irgendeinem Ergebnis zu führen. Isabelle Pym hatte daraufhin die Fensterläden zugemacht, die Tür verschlossen, den Schlüssel in ihre Tasche gesteckt und sich in ihr Büro zurückgezogen.
Außer Atem blieb Homer in einigen Metern Entfernung vor dem Nebengebäude stehen, das für sie alle tabu war. Die Rennmaus wartete auf der Türschwelle, auf den Hinterbeinen hockend und mit furchtbar schelmischem Blick.
»Wir können hier nicht bleiben«, flüsterte Homer nervös.
Zitternd streckte er die Arme aus, um das kleine Wesen zu sich zu locken.
»Los, komm, das ist nicht lustig.«
Erstaunlicherweise gehorchte Bibi Zwo, verließ die Türschwelle und erklomm wieder die Schulter ihres jungen Besitzers.
Mit schlechtem Gewissen, weil er sich so nah an das Studio herangewagt hatte, kehrte Homer in die Küche des Haupthauses zurück. Er schenkte sich ein großes Glas kalte Limonade ein, die in seinem Bauch zu gluckern anfing. Dann setzte er die Rennmaus auf dem Tisch ab, stützte die Ellenbogen auf die Tischkante und nahm seinen Kopf in die Hände. Er beobachtete die Maus dabei, wie sie Sonnenblumenkerne knabberte. Ein Anblick, den er gewohnt war, der ihn aber immer wieder faszinierte.
»Jetzt, wo du zur Familie gehörst, musst du wissen, dass es bei den Pyms zwei, drei Dinge gibt, die tabu sind«, erklärte er mit gesenkter Stimme. »Erstens ist es verboten, das Nebengebäude zu betreten. Zweitens … na ja, dasselbe. Und drittens ebenso. Hast du verstanden?«
Er hätte auf alles, was ihm lieb war, schwören können, dass Bibi Zwo beinahe unmerklich mit ihrem niedlichen kleinen Köpfchen nickte. Homer setzte sich wieder gerade hin. Wahrscheinlich verursachte der viele Schokoladenkuchen bei ihm schon Halluzinationen.
»Blödsinn«, seufzte er und verdrehte die Augen zum Himmel.
»Was ist Blödsinn?«, fragte Nina.
Homer zuckte zusammen. Er hatte seine Tante nicht reinkommen gehört.
»Ach nichts«, sagte er. »Gar nichts.«
Nina erblickte die Rennmaus auf dem Tisch und kraulte ihr den Kopf.
»Du bist vielleicht goldig! Aber dein Herrchen sollte dich jetzt besser in sein Zimmer zurückbringen, denn es gibt da jemanden, der deine Anwesenheit hier nicht besonders schätzt.«
Homer schaute sie traurig an.
»Meinst du?«, warf er ein. »Ich habe eher den Eindruck, dass es Mama egal ist … Bibi, mein Geburtstag, einfach alles.«
Ein kummervoller Ausdruck verfinsterte Ninas sonst so offenen Blick.
»Deiner Mutter ist das nicht egal, Homer, und das weißt du auch.«
»Ja gut, aber man kann jetzt nicht gerade behaupten, dass das besonders offensichtlich wäre.«
Nina stieß einen resignierten Seufzer aus und öffnete den Kühlschrank, auf der Suche nach Ideen für das Abendessen.
»Also, wie fühlt es sich an, zwölf zu sein?«
Homer zuckte mit den Schultern und wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
»Du hast recht«, meinte Nina, »das ändert nichts, nur dass du jetzt offiziell bestimmte Horrorfilme anschauen darfst, Godzilla oder Psycho zum Beispiel …«
Sofort hellte sich Homers Gesicht auf. Er würde es niemals zugeben, aber beim letzten Mal hatte er hinterher solche Angst bekommen, dass er wochenlang fast in Panik ausgebrochen wäre, sobald auch nur ein Fensterladen gescheppert oder eine Stufe geknarzt hatte. Aber jetzt wäre es anders, er säße schließlich nicht allein vor dem Bildschirm, das änderte alles.
»Oh ja!«, rief er begeistert. »So was hab ich noch nie angeschaut. Können wir heute Abend gleich damit anfangen?«
»Hm, ich erinnere dich, dass du morgen früh Schule hast.«
»Aber das Schuljahr ist doch schon fast zu Ende, die Lehrer haben die Noten schon gemacht, und ich komme in die Siebte!«
Nachdenklich schob Nina eine Pizza in den Ofen.
»An Argumenten mangelt es dir ja mal wieder nicht, mein kleiner Lieblingsneff.«
Diese Abkürzung von »Neffe« verwendete sie schon immer. Was den Zusatz »Lieblings« betraf, musste Homer schmunzeln angesichts der Tatsache, dass er Ninas einziger Neffe war und sie seine einzige Tante.
»Du fragst aber erst deine Mutter, ja?«, sagte sie.
»Okay!«
Auch wenn Nina die große Stütze der Familie war, überschritt sie nie die Grenzen ihrer Rolle: Sie war Homers Tante, nicht seine Mutter.
Der Junge ging durchs Wohnzimmer, dann den Flur entlang und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.
»Herein!«, erklang eine Stimme von drinnen.
»Mama? Wie geht’s?«
»Komm rein, mein Schatz.«
»Wie geht’s« war eine Frage, auf die Isabelle Pym nicht antwortete. Obwohl sie an ihrem Schreibtisch saß, schien sie untätig und wortkarg. Allerdings wirkte der Raum auch nicht gerade einladend, mit seinen Wänden voller Regalen mit Büchern, die nie jemand aufschlug. Fast alle handelten von Kriegen und Militärgeschichte, der zweiten großen Leidenschaft von Homers Großvater väterlicherseits nach dem Kino. Von ihm hatte David Pym im Übrigen auch seine Vorliebe für die Filmkunst geerbt. Und sein Interesse daran war so groß, dass er sie sogar zu seinem Beruf gemacht hatte.
Die umfangreiche Bibliothek hatte er vor zehn Jahren zusammen mit seinem Elternhaus geerbt. Alle anderen Räume waren glücklicherweise renoviert und neu eingerichtet worden. Doch das Arbeitszimmer war in seinem Zustand bewahrt worden wie ein Heiligtum.
Ein süßlicher Geruch hing in der Luft. Isabelle Pym war niemals betrunken, doch Homer war sich sicher, dass sie allein in diesem düsteren Zimmer hin und wieder einen Schluck trank. Und die Vorstellung erschütterte ihn zutiefst und stimmte ihn traurig.
»Nina macht Pizza, magst du auch was?«
»Nein, ich werde noch ein bisschen arbeiten, macht euch um mich keine Sorgen.«
Leichter gesagt als getan, dachte Homer.
»Wir lassen dir einfach ein Stück übrig, das kannst du dir ja dann warm machen.«
»Das ist nett, danke.«
»Mama, ich wollte dich noch was fragen …«
»Was denn, mein Schatz?«
»Kann ich mir mit Nina noch einen Film anschauen? Wenn wir gleich anfangen, ist er um zehn aus, und morgen habe ich erst um neun Unterricht und außerdem war schon Notenschluss …«
Er hatte alles in einem Atemzug gesagt, obwohl seine Mutter schon immer leicht zu überzeugen gewesen war – das war so ziemlich das Einzige, was sich bei ihr nicht verändert hatte.
Sie winkte ihn zu sich, und er folgte ihrer Einladung fast widerwillig. Denn auch wenn sie lächelte, wirkte sie traurig, und er hatte längst begriffen, dass er sie nicht heilen konnte von diesem tiefen Schmerz, unter dem sie seit nun schon fünf Jahren tagtäglich litt.
Sie nahm ihn in die Arme. Auch das tat sie voller Trauer. Liebevoll, aber traurig.
»Was für ein Film ist das?«, fragte sie erst, bevor sie dann direkt fortfuhr: »Nein, lass mich raten … ein Horrorfilm, oder?«
Homer nickte.
»Na gut, aber bitte nichts zu Blutrünstiges.«
»Versprochen, Mama!«
Homer hätte ihr gern vorgeschlagen, den Film mit ihnen anzuschauen, doch wie jedes Mal hätte sie irgendeinen Vorwand gefunden, um abzulehnen. Also konnte er sich die Mühe genauso gut sparen.
Er zögerte, das Arbeitszimmer zu schnell zu verlassen, denn er wollte auf keinen Fall, dass sie dachte, er wäre nur deswegen zu ihr gekommen. Es war zwar die Wahrheit, aber die Wahrheit konnte manchmal unangenehm sein, so sagte man doch, oder?
»Homer?«
Die Hand bereits an der Türklinke, drehte sich der Junge noch einmal um und blickte in ihre vom jahrelangen Schmerz verschwommenen blauen Augen.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein Großer.«
»Danke, Mama!«, erwiderte er.
Wenn er auf sein Herz gehört hätte, wäre er zu ihr geeilt, hätte sie auf die Wange geküsst und hätte ihr von Bibi Zwos Schabernack berichtet, vom Punktestand, den er bei seinem aktuellen Lieblingscomputerspiel erreicht hatte, von den jüngsten Marotten seines Französischlehrers – dem theatralischen Vortragen von Haikus, die keiner verstand – und von dem witzigen Gif mit dem schnarchenden Hund, das Lylou ihm geschickt hatte.
Doch sie hatte sich auf ihrem Bürostuhl bereits wieder umgedreht und starrte durchs Fenster hinaus in den Garten, sie war schon wieder woanders, weit entfernt von ihrem Arbeitszimmer und ihrem Sohn.
Also ließ Homer sie in Ruhe und zog leise die Tür hinter sich zu. Was blieb ihm auch anderes übrig?