Читать книгу Homer Pym - Anne Plichota - Страница 6

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KAPITEL

Homer konnte nicht sagen, dass dieser Tag schlecht gewesen wäre. Aber genauso wenig konnte er behaupten, dass er besonders großartig gewesen wäre.

Er hatte seinen Geburtstag gefeiert und alles war gut verlaufen. Lylou und Sascha, seine besten Freunde, hatten ihm das Computerspiel geschenkt, das er sich so sehr gewünscht hatte, und sie hatten den halben Nachmittag damit verbracht, es einzuweihen. Und dann hatte Nina, seine junge Tante, auch noch einen gigantischen Schokokuchen für ihn gebacken, nach dem sich noch immer alle die Finger leckten.

Ja, alles war gut gelaufen. Traurig gut, genau genommen. Denn seit fünf Jahren erinnerte sein Geburtstag Homer gezwungenermaßen immer auch an den unheilvollen Tag, an dem sein Vater, David Pym, verschwunden war.

Isabelle, Homers Mutter, hatte sich kurz hinzugesellt, als er die zwölf Kerzen auf seinem Kuchen ausblies. Sie hatte ein paar Schnappschüsse mit dem Handy gemacht, ihren Sohn umarmt und an einem Stück Kuchen geknabbert, bevor sie sich, wie immer, wieder in ihrem Arbeitszimmer verschanzt hatte. Denn wenn sie nicht gerade bei der Arbeit war, ein Job, der sowieso schon quasi ihre komplette Zeit in Anspruch nahm, war sie dort anzutreffen, in diesem düsteren, unaufgeräumten und stickigen Arbeitszimmer.

Sein Vater hatte sich damals in Luft aufgelöst, als hätte ein Zauberkünstler ihn mit einem Fingerschnipsen verschwinden lassen. An jenem Tag war alles in sich zusammengebrochen, eine richtige Katastrophe. Seitdem hatte Isabelle sich stark verändert, vor allem Homer gegenüber. Die aufmerksame, strahlende und verständnisvolle Mutter war distanziert, fast schon ausweichend geworden, vom Kummer niedergedrückt.

Ihren Mann unter so rätselhaften Umständen verloren zu haben, machte sie untröstlich. Nicht zu vergessen die langen Monate der polizeilichen Ermittlungen, der Verdächtigungen, der falschen Spuren, der krankhaften Neugier der Nachbarschaft und der Medien, der unerträglichen Anspielungen. Denn für die meisten war David Pym einfach nur ein untreuer Ehemann, der mit seiner Geliebten durchgebrannt war, da musste man sich doch nichts vormachen.

All das hatte Isabelle innerlich mürbe gemacht.

Mit der Zeit war Homer klar geworden, dass er vor fünf Jahren nicht nur seinen Vater verloren hatte, sondern ein Stück weit auch seine Mutter.

Glücklicherweise war Nina bei ihnen eingezogen. Oft wurde die quirlige Neunzehnjährige mit den braunen Haaren für Homers große Schwester gehalten, obwohl sie eigentlich Isabelles kleine Schwester war.

Homers Großeltern mütterlicherseits hatten, als sie in Rente gingen, sofort alles verkauft und ihren Traum, mit dem Wohnmobil um die Welt zu reisen, verwirklicht. Nina hatte sich also sowieso eine neue Bleibe suchen müssen und ein guter Kompromiss war gefunden worden: Solange Nina drei Tage die Woche Gebäudetechnik an einer Ingenieursschule einige Hundert Kilometer entfernt studierte, wohnte sie die restlichen Tage bei Isabelle und Homer, anstatt sich eine kleine Wohnung in der Stadt zu nehmen, denn ihr Neffe brauchte sie. In ihren Augen ging die Familie vor, besonders wenn sie so schwierige Zeiten durchmachte.

Homer schwankte an seinem Geburtstag also zwischen zwei gegensätzlichen Gefühlen: Auf der einen Seite war da die Freude darüber, zwölf geworden zu sein, tolle Freunde und es locker in die siebte Klasse geschafft zu haben – nächste Woche stand die Schulkonferenz an, bei der die Entscheidung offiziell würde. Doch auf der anderen Seite war der Kummer über den Verlust seines Vaters immer da. Der Großteil der Leute um ihn herum dachte, dass sein Vater einfach irgendwo anders ein neues Leben angefangen hatte. Doch weder er noch seine Mutter glaubten daran. David Pym hätte sie beide niemals so zurückgelassen, ohne auch nur die geringste Nachricht. Er hätte es niemals ertragen, seinen Sohn unglücklich zu wissen.

Das war ganz einfach unmöglich.

Homer ließ sich auf den Beifahrersitz des Wagens sinken, der nun seit fünf Jahren in einer der beiden großen Garagen herumstand. Der Duft des Aftershaves seines Vaters war zwar bereits verflogen, doch so viele andere Dinge weckten Erinnerungen … der Sitzbezug mit den Massagekugeln aus Holz gegen Rückenschmerzen, die kakifarbene Mütze hinten auf der Hutablage, das Familienfoto, das in der Sonnenblende klemmte, der Schlüsselanhänger mit dem Bild des griechischen Windgottes Aiolos … und sogar das geknotete Seil, auf dem Aristid, der Hund der Pyms, immer so gerne herumgekaut hatte. Der gutmütige Shiba war zur selben Zeit wie sein Herrchen verschwunden. Von ihm war nichts als dieses etwas streng riechende Spielzeug geblieben und die Haare auf der Fußmatte, die zu reinigen bisher niemand übers Herz gebracht hatte.

Alles wirkte so, als könnte – als werde! – David Pym jeden Moment zurückkommen, den Wagen anlassen und mit voll aufgedrehter Musik zu einem Filmset rasen.

Homer setzte sich oft auf den Fahrersitz, legte die Hände ans Lenkrad, das sein Vater so oft berührt hatte, und hing seinen Gefühlen nach, in der sehnlichen Hoffnung auf ein Zeichen von ihm. Doch egal, wie sehr er es sich wünschte, dies blieb immer aus.

Homer wusste sehr wohl, dass er die Garage besser zusperren und nie mehr einen Fuß hineinsetzen sollte. Denn die zahlreichen und lebhaften Erinnerungen bereiteten ihm mehr Kummer, als dass sie ihm Trost spendeten. Dennoch hatte er nach und nach das Bedürfnis verspürt, sie zu seinem Zufluchtsort, zu seinem Schlupfwinkel zu machen. Nina hatte ihm geholfen, die Garage mit einigen hier und da zusammengesammelten Möbelstücken einzurichten: ein Sofa mit buntem Überwurf, ein Fernseher mit leichten Macken, ausgestattet mit einer Spielkonsole, ein alter Kühlschrank und einige Lichterketten anstelle von Lampen … und natürlich das Auto seines Vaters als ausladendes und skurriles Dekoelement.

Homer verbrachte also viel Zeit an diesem Ort und manchmal passierte es ihm auch, dass er dort einfach einschlief. Lylou und Sascha gesellten sich dort oft zu ihm, denn zusammen bildeten sie die Rockband »Triangle«, und die Garage war ein perfekter Ort zum Proben. Lylou spielte Gitarre und sang, Sascha saß am Klavier und sang zusätzlich im Background und Homer spielte Schlagzeug. Wenn sie nicht probten, zockten sie oder erfanden die Welt neu, während sie M&Ms knabberten oder Essigchips, die so sauer waren, dass sie Grimassen schneiden mussten.

Das war die gute Seite.

Homer nahm behutsam seine Rennmaus, die auf dem Armaturenbrett hockte, und setzte sie sich auf die Schulter. Die leichten Berührungen der Maus am Hals zu spüren, wirkte immer beruhigend auf ihn, und auch wenn er eigentlich schon zu alt für so etwas war, war sie ein bisschen wie ein lebendiges Kuscheltier für ihn.

Die Rennmaus, die ihm Nina am Vortag geschenkt hatte, entpuppte sich als noch lebhafter als ihre Vorgängerin, die er zu seinem siebten Geburtstag bekommen hatte und die vor drei Monaten gestorben war. An dem Tag hatte er ein bisschen geweint, heimlich, denn dieses kleine Lebewesen verband er so sehr mit seinem Vater. Plötzlich hatte er das Bedürfnis, ein paar Worte an sein kleines verstorbenes Haustier zu richten, das ihn während all der Jahre begleitet hatte.

Also streichelte er das honigfarbene Fell am Rücken seiner neuen Rennmaus, stieg mit ihr aus dem Auto und machte die Wagentür so vorsichtig hinter sich zu, als handle es sich um eine wertvolle, zerbrechliche Antiquität.

Homer Pym

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