Читать книгу Homer Pym - Anne Plichota - Страница 12
ОглавлениеKAPITEL
Homer mischte sich sofort unter das lustige Treiben des Jahrmarkts. Entlang der verschiedenen Gassen reihten sich Stände und unterschiedlichste Karussells und überall sah Homer die seltsamsten Menschen, denen er je begegnet war.
»Guten Abend, junger Freund!«
Er hob den Kopf, um zu sehen, wer ihn da so überschwänglich begrüßte. Es war eine Frau mit Spitzenkragen, die nur aus einem Rumpf bestand und auf einem Trapez saß, das hoch oben an Sternen am Himmel befestigt war …
»Das bilde ich mir bloß ein …«, murmelte Homer und nickte der Akrobatin höflich zu.
Als er weiterging, begrüßte ihn eine ebenso außergewöhnliche Frau mit einem breiten Lächeln. Ihr Korsett verlieh ihr eine unnatürlich schmale Taille – aber was war hier schon normal? Und sie schwebte! Ihr langer Rock, der an den Fußknöcheln zugebunden war, bildete eine Art Heißluftballon, der sie sanft dahingleiten ließ.
Weiter hinten hielt ihm ein Mann, dessen Rücken schimmernd grün war wie bei einem Skarabäus, eine bunte Zuckerwatte hin. Ein anderer, dessen Körper so verwachsen war, dass er auf allen Vieren kriechen musste, bot ihm ein blubberndes, rosa phosphoreszierendes Getränk an.
»Danke«, stammelte Homer und konnte den Blick nicht von seiner Gestalt abwenden.
»Gerrrne, mein Lieberrr«, erwiderte der Mann mit einem starken slawischen Akzent und einem breiten Lächeln, das seine Goldzähne enthüllte.
Alle, denen Homer hier begegnete, waren Figuren aus dem Universum, das sein Vater sich ausgedacht hatte. Doch hier traf er sie wirklich, er konnte ihnen die Hand schütteln, ihren Geruch wahrnehmen, Blicke mit ihnen austauschen, ein paar Worte mit ihnen wechseln.
Sie existierten wirklich. Es waren menschliche Wesen, die ein bisschen anders waren. Das Wort »monströs« kam ihm in den Sinn, und er schämte sich dafür.
»Mach dir nichts draus«, sagte jemand hinter ihm.
Homer drehte sich um. Eine Frau musterte ihn mit großer Neugier. In ihrem Reitdress und mit der Zigarettenspitze wirkte sie äußerst elegant und sie hatte die Ausstrahlung eines Mannequins – wenn man einmal von ihrem Bart absah …
»Wir tragen alle etwas Monströses in uns«, fuhr sie zwischen zwei Zügen an ihrer Zigarette fort. »Auf Ithaka ist es bloß nach außen sichtbar. Wir stellen das Monströse an uns offen zur Schau. In deiner Welt dagegen werden sie versteckt.«
Bei diesen Worten fasste sie sich erst ans Herz und dann an die Stirn.
Verunsichert von so viel Weisheit, nickte Homer nur schüchtern und setzte seine Wanderung fort zwischen Männern mit Elefantenhaut oder Hirschgeweihen und Frauen, die so korpulent waren, dass man sie für drei oder vier Personen hätte halten können, und anderen, die so schlank und zart wie Lianen waren. Er war hier der Einzige, der zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf und einen normalen Körper hatte. Wieder schämte er sich für diesen Gedanken.
Obwohl der Weg sich gleichmäßig dahinschlängelte, fand er den Eingang des Zirkuszeltes nicht, das eigentlich allgegenwärtig war. Wie ein riesiger Wolkenkratzer aus rotem Stoff mit weißen Girlanden ließ es den Jahrmarkt und die Wohnwagen drum herum auf ein scheinbar winziges Maß schrumpfen. Auch das Zirkuszelt konnte man als »monströs« bezeichnen.
»Psst!«
Inmitten des Trubels hätte Homer den Zwerg fast nicht gesehen, der versuchte, seine Aufmerksamkeit zu ergattern.
»Meinst du mich?«, fragte er.
»Ja, du, komm mit!«
Neugierig folgte Homer ihm, vorbei an Ständen mit Wurf- und Angelspielen und schließlich zwischen Dutzenden bunten Wohnwagen hindurch, bis sie schließlich die Spannseile des Zeltes erreichten. Die Schulterblätter des Zwerges zeichneten sich deutlich unter seinem Gehrock ab wie kleine angelegte Flügel und ließen ihn von der Seite bucklig aussehen.
»Das, was du suchst, findest du hier«, keuchte er und zeigte auf das Zelt.
»Aber ich suche doch gar nichts!«
»Aber natürlich! Jeder sucht etwas.« Damit entfernte er sich schnellen hinkenden Schrittes und ließ Homer mit seiner Rennmaus leicht betreten zurück.
»He, warte!«, rief Homer.
»Da!«, sagte der Zwerg und zeigte erneut auf das Zirkuszelt, bevor er zwischen zwei Wohnwagen verschwand.
»Gut, danke trotzdem für die Info«, brummelte der Junge.
Dann wandte er sich an Bibi Zwo.
»Was hältst du denn davon?«
»Gehen wir hinein / und nehmen es selbst in Augenschein.«
»Mir soll’s recht sein«, stimmte Homer zu.
Der unabsichtliche Reim entlockte ihm ein Lächeln. Seine Rennmaus und er waren immer mehr auf einer Wellenlänge.
Sie liefen gefühlt kilometerweit um das Zirkuszelt herum, mussten über riesige Spannseile steigen und kamen vorbei an Technikeraffen, die schwer ausgestattete Werkzeuggürtel trugen, bis sie zu der gewaltigen Eingangsschwelle gelangten.
Wie schon am Einlass des Jahrmarkts hielt auch hier ein Zerberus Wache, der aussah wie ein Bär. Mit seinen drei Augenpaaren starrte er Homer und Bibi Zwo gebieterisch an und sprach: »Ah, endlich seid ihr da!«
Er zog den purpurroten, fast zwanzig Meter hohen Vorhang zur Seite und ließ sie ein.
Homer hatte nur einmal ein Fußballspiel gesehen. Das war, bevor sein Vater verschwunden war.. Damals hatte David Pym Karten für ein Endspiel im Stade de France ergattern können und er dachte, es wäre eine einmalige Gelegenheit für seinen Sohn. Homer würde sich sein Leben lang daran erinnern.
Als er das Zirkuszelt betrat, überkam ihn genau das gleiche Gefühl wie damals, als er ins Innere des Stadions gekommen war: Es war grandios, voll flirrender Energie, einzigartig.
Doch die Zuschauerränge waren ganz leer und lagen im Halbdunkel. Nur die Manege in der Mitte wurde von einem Lüster mit riesigen Kristallen erleuchtet. Eine Hundeschar tollte wild kläffend herum. Als er genauer hinsah, begriff Homer, dass sie ein Fußballspiel austrugen! Er setzte sich auf eine Bank und verfolgte dieses unglaubliche Spektakel. Ein Afghanischer Windhund, edel und stolz, schien um jeden Preis dem Ball aus dem Weg zu gehen, während ein dicker Mops mit hängender Zunge herumwieselte, ohne dass es ihm je gelang, an den Ball zu kommen. Ein langhaariger Briard schoss ein Tor, woraufhin alle durcheinanderbellten und Homer lachen musste.
Bis er inmitten dieses heillosen Durcheinanders einen Shiba entdeckte. Ihm wurde ganz schwer ums Herz, vor allem, als sich ihre Blicke kreuzten und der Hund plötzlich stehen blieb. Ein paar Sekunden schien die Zeit stillzustehen.
»Aristid …«, murmelte Homer.
Daraufhin entfernte sich der Hund eilig vom Spielfeld und verschwand in den Kulissen. Bibi Zwo klammerte sich an Homer, in einem vergeblichen Versuch, ihn zum Trost mit ihren kurzen Beinchen zu umarmen. Der Junge streichelte ihr dankbar über den Rücken, ohne den Blick von der Stelle abzuwenden, an der der Shiba verschwunden war. Plötzlich sah er ihn noch einmal, wie er den schmalen Gang vor der Bühne entlanglief. Homer sprang auf, was die treue kleine Freundin auf seiner Schulter etwas aus dem Gleichgewicht brachte.
Der Hund schien ihn irgendwohin führen zu wollen. Immer wenn Homer sich ihm näherte, lief er mit wedelndem Schwanz weiter, dann blieb er wieder stehen, wartete auf ihn und rannte kurz darauf wieder los. Homer ließ ihn nicht aus den Augen.
Sobald sie in den Kulissen hinter der Bühne angelangt waren, verschwand der Hund wieder. Homer blieb allein mit Bibi zurück, die sich an der Schulterklappe seiner Jacke festhielt.
Da bemerkte er einen Umriss: An einem Tisch saß eine Frau und nähte an Zirkusuniformen. Homer sah nur ihren leicht über die Arbeit gebeugten Rücken und ihr Haar, dass zu einem riesigen, fluffigen Knoten frisiert war, der sich seltsam bewegte.
Neugierig sah der Junge genauer hin und wäre beinahe hintenübergefallen: In dem Haarknoten flatterten die Seiten eines Buches herum, ein winziges Boot trieb auf heftigen Wellen, Wolken zogen dahin, eine Sonne und ein Mond drehten sich … ein imaginäres Miniaturuniversum, aber vollkommen realistisch, entsprang dem Geist dieser Frau.
»Ist sie nicht wunderschön?«, flüsterte eine Stimme hinter ihm.
Er erschauderte. Ein Mann in einem eleganten Anzug stand plötzlich neben ihm und schaute die Schneiderin verliebt an. Um den Hals trug er eine Fliege, die mit ihren sanft flatternden, bläulich schimmernden Flügeln aussah wie ein wunderschöner echter Schmetterling.
In diesem Augenblick trat der Shiba wieder in Erscheinung. Im Maul trug er eine große Lupe. Er stupste Homer mit dem Kopf am Bein an und ließ sie ihm vor die Füße fallen. Der Junge, der sich wunderte, dass er nicht schneller begriffen hatte, was der Hund ihm sagen wollte, nahm die Lupe und näherte sich damit der ausgefallenen Frisur der Schneiderin.
Eine Meereswelle schleuderte ihre Gischt gegen die Glaslinse der Lupe, aber das hinderte Homer nicht daran, sich das Schiff und die fast mikroskopisch kleinen Männer darauf genauer anzusehen. Drei von ihnen hissten die Segel und einer klammerte sich mit aller Kraft an die Spitze des Mastes, als wolle er ihm ein Zeichen geben.
Plötzlich blieb Homer beinahe das Herz stehen. Er hatte seinen Vater entdeckt, im belebten Haarknoten der Schneiderin! Er hätte ihn unter sieben Milliarden Menschen erkannt! Doch noch sicherer machte ihn die Tatsache, dass er die beiden Silben seines Namens in den Lippenbewegungen des Matrosen erkannte, der aus vollem Halse zu schreien schien: »HO-MER!«
»Papa?«, stammelte er.
Er sah gerade noch, wie der Matrose ihm flehend die Hand entgegenstreckte, als die Schneiderin sich plötzlich umdrehte.
Sie zog die Augenbrauen hoch und schaute den Jungen fragend an.
»Wer bist du?«, fragte sie.
Im selben Moment wurde Homer von einer unsichtbaren, aber unerbittlichen Kraft fortgezogen. Er kam nicht dagegen an und wurde aus dem Zirkuszelt, von dem Jahrmarkt und der Insel Ithaka weggetragen.
Einige Sekunden später saß er sprachlos und außer Atem wieder auf dem Sofa im Studio seines Vaters.