Читать книгу Homer Pym - Anne Plichota - Страница 14

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KAPITEL

Trotz ihrer üblichen Unaufmerksamkeit spürte Homers Mutter schnell die Aufregung ihres Sohnes. Er hatte sich nicht nur viel zu viel Zucker in seine Frühstücksflocken getan, sondern sich auch Kaffee eingegossen, obwohl er den nie trank.

»Was ist denn heute Morgen bloß mit dir los?«, fragte sie ihn schließlich.

»Nichts. Gar nichts.«

»Bist du krank? Oder hast du nur schlecht geschlafen?«

»Nein, Mama, alles okay, keine Sorge.«

Sie sah ihn zweifelnd an und wandte sich dann wieder ihren E-Mails zu. Offenbar konnte das nicht warten, bis sie in der Arbeit war.

Als sie gerade aufgestanden war, um ein neues Stück Butter zu holen, vibrierte ihr Handy auf dem Tisch, was sie jedoch nicht hörte. Mit einem Stirnrunzeln spähte Homer auf den Namen, der auf dem Display angezeigt wurde: Paul. Nicht Paul Dings oder Paul Irgendwer, sondern nur der Vorname dieses … Mannes, der seiner Mutter anscheinend so nahestand, dass sie seinen Familiennamen nicht in die Kontakte eingetragen hatte. Denn man musste sich doch besonders nahestehen, wenn man jemanden nur beim Vornamen nannte, oder? Homer würde ja auch nicht Sascha Martel oder Lylou Goldberg eintragen.

Der Gedanke, dass es sich um Paul Martineau handeln könnte, einen Physiotherapeuten, den seine Mutter vor sechs Monaten wegen ihrer Schmerzen in der Schulter aufgesucht hatte, störte ihn. Außerdem war die Behandlung schon längst vorbei. Homer hatte die Frage schon einmal ganz beiläufig gestellt, nachdem ihm aufgefallen war, dass dieser Mann seiner Mutter sehr oft Nachrichten hinterließ, viel zu oft für seinen Geschmack.

Isabelle Pym zeigte jedoch kein besonderes Interesse. Sie hob selten ab, wenn er anrief, und ließ manchmal zwei Tage verstreichen, bis sie auf seine SMS antwortete. Homer war nicht besonders stolz darauf, aber er hatte einmal heimlich ihr Handy durchsucht, als sie es in der Küche hatte herumliegen lassen.

Die Facebook-Seite von Paul Martineau hatte Homer alle Hinweise gegeben, die er brauchte, um sich ernsthafte Sorgen zu machen: zweiundvierzig Jahre alt, strahlendes Lächeln, extremsportbegeistert, sehr zufrieden mit seinem Aussehen, wie die Flut von Fotos und Selfies auf seiner Seite bewies, und was am schlimmsten war: geschieden und Vater eines sechzehnjährigen Sohnes.

Daraufhin hatte Homer angefangen, ihn heimlich zu hassen. Wenn dieser Typ die Absicht hatte, sich seine Mutter zu angeln, dann würde er ihm das Leben zur Hölle machen. Homer wirkte zwar eigentlich ganz nett und zurückhaltend, wenn man ihn so sah, aber wenn es sein musste, konnte er auch anders.

»Homer? Hörst du mir zu?«

Der Junge zuckte zusammen und merkte, dass seine Mutter ihn wohl schon seit einer Weile fragend anstarrte.

»Hä?«

»Ich setze dich an der Schule ab, ja?«

Homer traute sich nicht, ihr zu sagen, dass er lieber mit dem Fahrrad gefahren wäre, wie so oft. Denn in ihrer Frage schwang eine bestimmte Hoffnung mit. Sie hatten so wenig gemeinsame Zeit, dass es ihm schwerfiel, eine Gelegenheit dafür auszuschlagen, auch wenn sie dann nur schweigend nebeneinandersaßen oder Banalitäten besprachen.

»Wer schickt dir denn da ständig SMS?«, fragte sie ihn unterwegs.

»Niemand … das heißt, Sascha und Lylou«, erwiderte Homer.

»Na, ihr scheint euch ja jede Menge zu erzählen zu haben!«

Homer stellte auf lautlos, wandte den Blick aus dem Fenster und betrachtete halbherzig die Straßen, die draußen vorbeizogen. Sein Handy in der Tasche vibrierte fast pausenlos, obwohl er seinen Freunden bereits versprochen hatte, ihnen gleich persönlich zu erzählen, was er ihnen mitten in der Nacht hatte sagen wollen.

Er zitterte vor Ungeduld. Und wie der Teufel es wollte, behinderten Bauarbeiten den Verkehr und ließen ärgerlicherweise wertvolle Sekunden verstreichen.

Endlich, nur zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn, hielt seine Mutter vor der Schule.

»Ciao, Mama, schönen Tag!«, rief Homer, als er eilig aus dem Wagen sprang.

»Dir auch, mein Großer, und arbeite gut mit.«

Homer sagte nichts dazu. Wahrscheinlich hatte seine Mutter einfach nicht mitbekommen, dass Schuljahresende war und niemand mehr wirklich arbeitete. Außer Herr Chauvet, der Geschichtslehrer, der den Stoff stur durchzog.

»Wo bleibst du denn? Los jetzt, Chauvet macht uns fertig!«, rief Sascha, als er ihn kommen sah.

Er wartete schon zusammen mit Lylou am Eingang auf ihn, bereit, aus reiner Solidarität mit ihm eine Strafe zu kassieren. Zusammen rannten sie so schnell sie konnten zum Klassenzimmer und stürmten noch genau in dem Moment hinein, als der berüchtigte Lehrer gerade die Türe zuziehen wollte.

Vorwurfsvoll blickte er erst auf die Uhr und dann die drei Zuspätkommenden an, die sich so leise wie möglich auf ihre Plätze begaben.

»Also, was ist das für eine Geschichte?«, fragte Sascha tuschelnd.

Lylou, die vor ihnen saß, schob ihren Stuhl zurück und beugte sich nach hinten, um mitzuhören.

»Ich weiß, wo mein Vater ist …«, flüsterte Homer.

»Aber das hast du uns doch schon gesagt!«, zischte Lylou hinter vorgehaltener Hand.

»Es ist total verrückt, ihr werdet es mir nicht glauben …«

»Lylou! Sascha! Homer! Wenn ihr so weitermacht, schicke ich euch hoch zum Direktor!«, drohte Herr Chauvet.

Schicksalsergeben setzte sich Lylou wieder gerade hin. Sie war nicht bloß eine hervorragende Schülerin, sondern legte auch Wert auf mustergültiges Verhalten. Noch nie hatte sie eine Strafe oder einen negativen Hefteintrag bekommen. Doch es kam nicht in Frage, Lylou außen vor zu lassen. Sie mussten auf den Stundenwechsel warten, um zu erfahren, was Homer ihnen erzählen wollte.

Für den Fall, dass sie alle drei diese unendliche und sterbenslangweilige Stunde überlebten … Homer hatte nichts gegen Ludwig XIV., aber wenn man gerade in einem riesigen Zirkus einer leibhaftigen Riesin, einem Zerberus, einer Chimäre und Kleinwüchsigen begegnet war, verloren der Sonnenkönig und sein Schloss von Versailles ein wenig von ihrer Pracht und Bedeutung.

Sobald es läutete, stürmte das Trio aus dem Klassenzimmer.

»Und?«, fragte Sascha ungeduldig.

Plötzlich wusste Homer gar nicht, womit er anfangen sollte. Am Anfang, hätte ihm die immer logisch denkende Lylou geraten.

»Also, zuerst war da Bibi Zwo …«

«Homer? Ich müsste dich kurz wegen der Tombola sprechen.«

Er erkannte die Stimme seiner Kunstlehrerin Frau Drapier und drehte sich reflexartig um.

»Äh … es ist nur – ich hab jetzt gleich Französisch …«

»Es dauert bloß eine Minute!«

Der Junge unterdrückte einen Seufzer und die drei Freunde schauten sich betreten an.

Was die Zeit betraf, machte Frau Drapier Einsteins Relativitätstheorie alle Ehre: Bei ihr bestand eine Minute nicht aus sechzig blitzschnellen Sekunden, sondern dauerte eine halbe Ewigkeit. Vor allem, wenn man seinen Freunden gerade ein Wahnsinnsgeheimnis zu lüften hatte … Detailreich erzählte die Lehrerin von den Gewinnen, die Nina für die Jahresabschlussfeier zur Verfügung stellen wollte. Homer hörte höflich zu, obwohl er innerlich vor Ungeduld zappelte.

»Bitte erinnere deine Tante noch einmal daran, ja?«, sagte sie abschließend.

»Ich schreibe ihr gleich eine SMS.«

Glücklicherweise entdeckte Frau Drapier da ein neues Opfer und ließ den Jungen ziehen.

»Ich dachte, ich überleb’s nicht«, ächzte Homer.

»Los jetzt, wir kommen zu spät!«, warnte Lylou.

Die drei Freunde rannten den Flur entlang und kamen wie vorher noch gerade rechtzeitig, ohne dass noch Zeit zum Erzählen blieb. Und als wäre das nicht genug, waren auch keine Plätze nebeneinander mehr frei, also mussten sie sich verteilen. Homer fragte sich langsam, ob sich nicht alles gegen ihn verschworen hatte, damit er seine Erlebnisse für sich behielt.

Es folgte die längste Französischstunde seines Lebens. Sein Blick kreuzte mehrfach den von Sascha, der am Fenster saß. Sein Kumpel riss die Augen auf, er platzte vor Neugier. Von Lylou sah er nur den Rücken und ihre zum Pferdeschwanz gebundenen braunen Haare. Sie tat so, als höre sie dem Lehrer zu, dem für die Stunde nichts Spannenderes eingefallen war, als ein Theaterstück in verteilten Rollen von widerwilligen Schülern vortragen zu lassen. Dass er davon verschont blieb, war Homers einziger Trost.

Sascha faltete die Hände und dankte dem Himmel, als die schier nicht enden wollende Stunde endlich vorbei war.

Wortlos eilten sie so schnell in die Cafeteria, dass sie die Ersten dort waren, füllten ihre Tabletts mit dem, was ihnen gerade in die Finger kam, und setzten sich an den hintersten Tisch.

»Also gut, was ist los?«, fing Sascha an.

»Bibi Zwo …«, sagte Homer.

»Aber ich dachte, es geht um deinen Vater! Du hast doch gesagt, du wüsstest, wo er ist!«

»Lass ihn doch ausreden!«, schimpfte Lylou.

Homer rieb sich die Augen und dann das ganze Gesicht. Es war alles so unglaublich.

»Der Anfang, Homer, fang am Anfang an«, riet ihm seine Freundin.

Als sie das sagte, sah er sie verblüfft an, als hätte er diese Szene schon einmal erlebt. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, knisternd wie Funken.

Seine Freunde würden ihn für verrückt halten.

Sei’s drum. Er konnte das Geheimnis nicht länger für sich behalten. Die Aufregung und der fehlende Schlaf taten seine Wirkung, er warf alle Bedenken über Bord und fing an, von seiner letzten Nacht zu berichten.

Homer Pym

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