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Freiburg, 11. 11. 2018

Guten Tag, Johan,

»guten Tag« im Sinne von: Ich wünsche Ihnen, dass es einer jener besseren Tage ist, deutlich besser als die, die hinter Ihnen liegen; einer jener Tage, an denen sich der Morgen anfühlt wie ein frisches Handtuch und nicht wie tiefste mondlose Polarnacht; also »gut« im Sinne von »mit Fenster«, wenn Sie wissen, was ich meine?

Haben Sie Ihr Fenster gebastelt?

Ich halte das für eine sehr gute Idee. Ein Fenster lässt den Blick raus und das Draußen rein, ohne dass man merken muss, wie kalt es ist. Und das Gute an einem gebastelten Fenster ist, dass man auch noch die Aussicht selbst bestimmt.

Wohin schauen Sie? Wohin wollen Sie schauen?

Ich schaue hinunter in die herbstliche Gerberau.

Es ist ein zugiger Sonntag, und kaum jemand ist unterwegs, obwohl heute Fasnetsbeginn ist und die Narren in den Hexengilden endlich wieder ihre gruseligen Holzmasken aufsetzen können. Narri, narro!

Das olle Krokodil hockt unten im trockengefallenen Gewerbebachbett, und ohne das Wasser, das es sonst umspült, ist es, was es ist: ein gestrandetes Stück Stein. Es tut mir leid. Es würde mich nicht wundern, wenn es irgendwann einfach verschwände. Was hält es noch hier? Den Straßenmusiker mit dem Fagott hat es jedenfalls nicht mehr auf der Brücke gehalten, zu kalt, zum Glück. Irgendwann werde ich ihm Wasser über den Kopf schütten, irgendwann kommt der Punkt, an dem ich ein weiteres schief gepupstes Forellenquintett nicht mehr ertragen kann, und dann regnet das Bächlein helle schlicht von oben auf ihn. Oder ich werfe einen Blumentopf. Obwohl, nein, das haben die Blumen wahrlich nicht verdient.

Na, egal. Ich schaue auf die Fassade von Haus Himmelsbach und auf einen geschlossenen Spielzeugladen. Es ist Sonntag in den Gassen, hinter den Türen und in den Fugen des Kopfsteinpflasters. Das ist eins meiner Fenster. In diesem Fall mein echtes Fenster, hier bei mir zu Hause.

Sind Sie inzwischen wieder ganztägig zu Hause? Was tun Sie?

Ich war zugegeben sehr überrascht, noch einmal von Ihnen zu hören, Johan; aber gefreut habe ich mich, dass Ihnen Tranströmers Gedicht gefallen und dass es Wurzeln geschlagen hat. Wenn man es gedeihen lässt, kann so etwas wie ein Lianengewächs daraus werden, stabil genug, um einen zu halten, wenn man strauchelt. Woher ich das weiß? Ich halte mich selbst daran fest, wenn es leer in mir ist und wieder der Abgrund droht. Ja, ich war auch schon mal dort unten. Genau wie Sie. Kenne das Zittern. Es ist also kein Zufall, dass ich Ihnen das Gedicht geschickt habe. Nein. Diesmal nicht.

(Wussten Sie übrigens, dass viele Lianengewächse sehr nützlich sind und sehr gesund? Indianische Völker aus Südamerika verwenden sie angeblich als heilende Halluzinogene.

Lianen werden auch als Therapeutikum verwendet. Paullinia Cupana gegen Erschöpfung. Katzenkralle anscheinend gegen Krebs. Und bei uns, in den hiesigen Breiten, die Rebe und der Hopfen, alles Lianen, Schling- und Kletterpflanzen mit ganz erstaunlichen Haftfähigkeiten. Efeu zum Beispiel oder Wilder Wein kann die bröckeligsten Fassaden aufrechterhalten …)

Schreiben Sie mir, schreiben Sie mir.

Das sagt sich so einfach.

Aber ich bin ziemlich aus der Übung. Die meisten Briefe, die ich abfasse, sind offizieller Natur. Anträge und Eingaben, formal devote Bittschreiben um Geld oder Förderung oder Genehmigung meiner Projekte. (Wenn ich es recht bedenke, habe ich keinen persönlichen Brief mehr verfasst, seit mein Vater vor etwas mehr als drei Jahren gestorben ist. Er war der Einzige, mit dem ich mir noch echte »Schreibebriefe«, wie er sie nannte, schickte, denn er weigerte sich, sich einem Computer auch nur zu nähern, und das Telefonieren fand er zu teuer und zu anstrengend.)

Was habe ich schon zu berichten, das für Sie nicht nur ein beliebiges Geräusch ist. Das Sie wirklich interessiert. Und was sollte es Ihnen bedeuten, was irgendeine Fremde, die allein der Zufall ans selbe Ufer gespült hat wie Sie, über das Leben denkt? Ich weiß es nicht.

Ich versuche es mal mit meinem Namen, denn danach haben Sie gefragt. Ob Mañana eine Rufform für das Zukünftige sei?, schreiben Sie. So hat es bestimmt noch nie jemand betrachtet, inklusive mir selbst. Aber es gefällt mir, sehr sogar.

Mañana. Das war bisher immer: Morgen, morgen, nur nicht heute. Später, irgendwann. Zu spät. Ein Ärgernis der ersten Stunde. That’s me.

Mañana Banana. Mañana Marihuana. Mama Mañana. Hola, Chica. Mana mana, dupdubidubi. Mañana, Mañana, morgen soll deine Hochzeit sein. Tomorrow you’ll get it.

Ach, ich kenne sie alle, diese lustigen Anspielungen.

Ich frage Sie, ist das ein Name für ein Kind, das in den Siebzigerjahren in Kirchhörde-Nord zu einem selbstbewussten Menschen heranwachsen soll? Nein, er ist eine Strafe. Darum bin ich seit meinen Teenagerjahren nur Jana, Nana oder sehr selten Maja, obwohl Letzteres natürlich unweigerlich die dumme Biene und Karel Gott ins Spiel bringt, weshalb ich mich ziemlich konsequent an Jana halte.

Die Umstände meiner Namensgebung sind zu einer jener hundertfach zitierten und damit identitätsstiftenden Familienanekdoten geworden (denn so ist es doch? Wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen! Jede Familie wird von ihren Geschichten, Legenden zusammengehalten, wie ein Mauerwerk vom Efeu, auch wenn es im Innern völlig marode ist), und eigentlich widerstrebt es mir, ausgerechnet mit dieser Episode in dem hallenden Nichts zwischen uns in Erscheinung zu treten, denn es ist viel weniger meine Geschichte als die meiner Mutter, es ist eine Anekdote aus ihrer Beweissammlung im endlosen Fall »Die Welt gegen Maria Alvarez«. Beweisstück 4324 c oder so. Aber sei’s drum. Vielleicht kann ich ja auf diese Weise wenigstens zu Ihrer Unterhaltung beitragen.

Ich sollte unbedingt Spanierin werden. Meine Mutter stammt aus Sagunt, in der Nähe von Valencia, und sie war entschieden, ihr erstes (und, wie sich herausstellte, einziges) Kind, wenn es schon einen deutschen Vater haben musste, in ihrem Heimatort zu gebären, so die Überlieferung. Also reisten meine Eltern in größter Sommerhitze mit dem Zug von Dortmund nach Valencia. Bis zum Umstieg in Madrid ging alles gut, dann wurde meiner Mutter schlecht. Auf der Höhe von Almodóvar del Pinar setzten die ersten Wehen ein, ab Utiel kamen sie regelmäßig, in Valencia wurde ihr beim Aussteigen schwarz vor Augen. Die gesamte Verwandtschaft wartete schon am Gleis, und als auf dem Bahnsteig die Fruchtblase platzte, konnten sich Tanten und Onkel und Großeltern nicht entschließen, in welche Klinik meine Mutter gebracht werden sollte. Alle krakeelten durcheinander, meine Mutter mittendrin. Schließlich winkte mein Vater ein Taxi heran und brachte sie, ohne ihren Widerspruch zu hören, ins nächstgelegene Krankenhaus. Maria schrie und zeterte, weil sie nach Sagunt wollte, nur nach Sagunt und nirgendwo anders hin, schon gar nicht in dieses verkommene Valencia. Für solche Schmach habe sie diese beschwerliche Reise nicht auf sich genommen! Sie beschimpfte den Taxifahrer und die Krankenschwestern, den Arzt und meinen Vater, ihren Bauch und den Heiligen Geist und rief: Wann kommt das Kind? Wann kommt endlich das verdammte Kind? Und der Arzt sagte: Tranquilo, Señora. Und es wurde Nacht, meine Mutter schimpfte, und der Arzt sagte: Aguante un poco más. Und es wurde Morgen, und sie schimpfte. Und der Arzt sagte: Mañana, mañana, Señora. Es dauerte und dauerte, inzwischen wiederholte auch mein Vater stoisch Mañana, Schätzchen, Mañana, auch noch, als ich 29 Stunden später unter dem wüsten Geschrei meiner Mutter das Licht der Welt erblickte. Angeblich sah sie mich kurz an und sagte dann zu meinem Vater: Das verzeihe ich dir nie.

Während ich das schreibe, merke ich, wie lange ich nicht an meine Familie gedacht habe (also an uns drei als Gesamtheit, das Wort »Einheit« wage ich nicht in den Mund zu nehmen) und wie die alten Bisse sich zwischen meine Worte schleichen, obwohl die Tiger schon lange zahnlos sind. Ich höre die Stimme meiner Mutter, wie sie sich bei jeder Wiederholung dieser Geschichte mit dem scharf gerollten R (wahrscheinlich ganz ähnlich der Aussprache von Naira) in Rrrrage erzählt. Dazu sehe ich meinen Vater vor mir, der geduldig wie Schlachtvieh auf seinen Einsatz (den einzigen heroischen in seinem Leben) wartet, an der Stelle mit dem Taxi, da rief er immer: Dann habe ich kurzen Prozess gemacht, einer musste ja eine Entscheidung treffen!, und wie sie schließlich gemeinsam die Pointe orchestrieren, um dann vereint darüber zu lächeln. Und wie sich unter mir der Boden auftut.

Wie heißt es noch in Pulp Fiction? Das war etwas mehr Information, als ich mir gewünscht hätte …? Entschuldigen Sie. Aber ich habe mich richtig warmgeschrieben. Langsam erinnere ich mich daran, warum ich einmal gerne Briefe schrieb: Die Gedanken werden klarer, wenn man sie für jemanden formuliert. Auch kleine Gedanken finden Raum. Die unwichtigen. Ach. Was sind überhaupt wichtige Gedanken?

Außerdem merke ich plötzlich, dass mir die Briefe meines Vaters fehlen. Dabei waren sie eigentlich ziemlich kläglich. Die immer gleichen cremefarbenen Umschläge in meinem Briefkasten, seine strenge Handschrift, dann die alltäglichen, belanglosen und wenig abwechslungsreichen Beobachtungen und Überlegungen in seinem spanischen Exil. Sein Wetterbericht und seine Fragen (die jetzt keiner mehr stellt, vielleicht ist es das, was mir fehlt?): Hast du Pläne? Hast du genug Geld? Wann kommst du mal nach Málaga? Gießt du auch brav meinen Oleander?

(Ja, Papa. Ich gieße den Oleander. Er hat geblüht, prächtig und wunderbar, den ganzen heißen Sommer lang. Ich habe ein neues Bewässerungssystem ausprobiert, das nicht von oben nässt, und ich glaube, es hat ihm gefallen. Vor einer Woche habe ich ihn reingeholt, denn auf dem Feldberg fiel schon der erste Schnee. Das merkt er sofort. Er ist ja so eine Mimose … Und Pläne, ja, ja, ich habe mir das ein oder andere vorgenommen, für das kommende Jahr, vor allem, was die Gärtnerei betrifft. Nächste Woche habe ich einen Termin bei der Bank, und dann sehen wir weiter.)

Wir standen uns nie nah, meistens tat er mir auf eine distanzierte Art leid, trotzdem fehlt er mir irgendwie.

Ich glaube, ich höre jetzt besser auf und gehe eine Runde laufen. Aber eine Frage habe ich noch, die bewegt mich die ganze Zeit. Warum ausgerechnet Neumünster, Johan? Warum diese Stadt, die so sehr darunter leidet, einerseits nicht Kiel und andererseits nicht schön zu sein. Warum nicht der Greyhound? Warum nicht London? Wie ist es dazu gekommen? Darf ich das fragen?

Passen Sie auf sich auf, vor allem in der Dusche,

Jana

PS: Haben Sie der Dame Lambrecht mal eine Schachtel Pralinen zum Dank für Ihre Rettung vorbeigebracht? Ich bin sicher, dann funktioniert der Boiler auch bald wieder …

I get a bird

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