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13. 11. 2018

¡Hola Jana!

Schade, dass im Hahnknüll kein Spanisch-Kurs angeboten wird. Das wäre sinnvoller als Kunsttherapie, Außenaktivitäten oder Familiengespräche. Für mich jedenfalls.

Vielleicht.

Nicht nur, dass ich Ihnen in einer mir neuen, von keiner Assoziation verdorbenen Sprache schreiben könnte, was zur Fremdheit und allmählichen Erkundung einer helleren Zukunft passen müsste. Es würde auch die Abhängigkeit von Naira ein bisschen verringern. Seit meinem letzten Brief hat unser Verhältnis nämlich etwas Abnormes entwickelt. Und daran sind Sie nicht unschuldig.

Aber von vorn.

Ich lächle immer noch über Ihren Brief. Er hat mich aber auch aus dem Konzept gebracht. Ich weiß nicht genau, was mich an ihm berührt hat, wie mich das berührt hat und warum. Sind es die Orte, die ich nicht kenne: Gerberau, Kirchhörde-Nord, Sagunt? Die will ich kennenlernen. Sind es die Rätsel, die losen Enden von »Bittschreiben«, »Beweisstück« und »Förderung« – die mich allesamt neugierig machen, als angelte ich in Ihrem Kopf nach seltenen Fischen –, auch »Gärtnerei«, »Fahrradkurierin« und »zu genehmigende Projekte«? Wie passt das zusammen? Ist es die Freundlichkeit, mit der Sie mir entgegenkommen? Der praktische Witz, mit dem Sie mein jahrelanges Lambrecht-Problem im Handstreich lösen? Die Geschichte Ihrer Geburt, die tanzt und zappelt wie ein Wirtschaftswunder-Comic? Oder ist es einfach die Tatsache, dass Sie zu Fastnacht in der Wohnung sitzen und mir schreiben, anstatt sich unter die zotteligen Wesen zu mischen, die unerträglich laut auf ihre Schellen schlagen? Darf man denn so etwas versäumen?

Das alles erscheint mir bunt und melodisch, auch wenn Sie behaupten, in grauen Gewässern unterwegs zu sein. Ich sehe Sie aus der Ferne. Das darf ich nicht vergessen. Ich will diese Entfernung ausmessen. Aber wie macht man das?

Sie sagen, wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen. Ist das so? Ja, für mich sind Sie, was Sie erzählen, weil ich Sie nicht kenne. Ich habe keine Handhabe, kann Ihnen keine gemeinsame Erfahrung entgegenhalten, Sie keiner Schönfärberei überführen, weil ich Ihre Grundfarbe nicht sehen kann. Ich bin blind und muss hören. Aber stimmt es deswegen auch für Sie?

Es ist ja nicht auszuschließen, dass wir nur erzählen, weil wir etwas sein wollen. Dann wären aber alle Anekdoten, Legenden, Erinnerungen nur Orchestrierung der gewaltigen Furcht, nichts zu sein? (Oder wenigstens nicht das Gewünschte. Und warum ist uns genau das so wichtig?)

Erzählen wir aus Angst?

Ein Teil meines Lebens bestand beinahe ausschließlich aus Geschichten. Es war die Zeit, in der ich versucht habe, festzuhalten. Sind wir, wenn wir nichts von uns erzählen? Ja.

Sind wir auch, wenn andere nichts über uns erzählen? Ja.

Dieses Sein ist nicht mehr als die Summe unserer einfachsten Instinkte. Gier, Hunger, Geilheit, Brutpflege. Auch Angst gehört dazu. Sie führt zu Flucht. Ist das Erzählen eine Flucht? Eine Flucht, die uns in mehr oder weniger plausible Zusammenhänge treibt, die vortäuschen, was es gar nicht gibt: Sinn und Bedeutung. Sicherheit. Das absolut Zwangsläufige, das alles zu umgeben scheint und uns zu Einzigartigen macht, weil wir es entdecken, herleiten, verknüpfen, entwickeln, anschaulich machen, dann durchschauen und benutzen können und uns so schließlich unsterblich fühlen, allmächtig.

Die Spinne im Netz. Die spröder werdenden Fäden wippen im Herbstwind. Der Raufrost beißt sich fest. Noch blitzt die Sonne in den Kristallen. Aber bald reißt das Lügengespinst. Ob Spinnenfaden oder Liane, sie halten nicht.

Macht Sie das Heimweh Ihrer Mutter zu einer Spanierin? Nein. Bin ich ein Pfaffenhütchen? Ja. Mag sein. Vielleicht.

Nur, wie bin ich dazu geworden (oder zu einem Halophyten oder einem anderen Gemüse)? Ich weiß nicht, ob ich, was jetzt kommen sollte, durchhalten werde. Es müsste der Teil meines Lebens sein, der mit »Kein Anschluss unter dieser Nummer« endete, und ich wünschte, er hätte sich wenigstens unter warmer Sonne, zwischen Oleanderblüten und Meeresrauschen abgespielt. Aber auch hier nur: Neumünster.

Na ja, fast – ein Teil der Geschichte spielt in Hamburg.

Warum Neumünster, haben Sie mich gefragt? Die Antwort ist so einfach wie langweilig. Ich wurde hier 1972 geboren. Am 27. Mai, während die erste Folge von Raumschiff Enterprise im Fernsehen lief, setzten bei meiner Mutter die Wehen ein. Ihre Freundin Anette, auf deren Sofa Mutter lag, weil sie den einzigen Farbfernseher weit und breit besaß, wollte einen Krankenwagen rufen. Meine Mutter fand das unnötig dramatisch, hatte aber kein Geld für ein Taxi. Also steckte sie sich eine Zigarette an und ging zum Bus. Anette guckte die Folge zu Ende und verliebte sich in Spock. Ich würde jetzt gerne erzählen, dass ich unter heldenhaftem Einsatz eines Busfahrers zwischen Padenstedt und Wittorf das Licht der Welt erblickte, aber so war es nicht. Ein Busfahrer hatte nichts damit zu tun. Nach einem weiteren langen Fußmarsch und der einen oder anderen Ernte 23 gebar mich meine Mutter in der Scholtz-Klinik. Mit abgelaufenen Hacken, wie nebenbei, unaufgeregt und allein – einen Vater zu dem Kind gab es nicht, nicht einmal auf einen Kreis potenzieller Erzeuger wollte sie sich je festlegen. Später, wenn sie einen im Tee hatte und ich sie nach meinem Vater fragte, zählte sie die ganze Mannschaft der Enterprise auf und endete jedes Mal mit: »Die Abenteuer des Raumschiffs mit seiner 400 Mann starken Besatzung!« Dann kamen mir aus Wut und Hilflosigkeit die Tränen, und sie kicherte so niedergeschlagen in sich hinein, dass ich Angst um sie bekam. (Übrigens ist die Pilotfolge von Star Trek eine Halophythenfolge! Ein extraterrestrisches Lebewesen, das Salz zum Überleben braucht, ermordet in seiner Verzweiflung mehrere Mannschaftsmitglieder, ehe es selbst getötet wird.)

Hier in Neumünster wuchs ich auf. Ich brach das Gymnasium nach der Zehnten ab und begann eine Lehre in Lüneburg. Meinen Meisterbrief bekam ich 1993 in Hamburg: Ich war Metallbau-Meister geworden. Ein vernünftiger Beruf. Und alles, was ich wollte, war, es besser zu machen, als ich es mir selbst zugetraut hatte.

Das Schicksal spielte mir in die Karten, ich fand eine Anstellung als Assistent der Zentralen Sterilgutversorgungsabteilung am Krankenhaus Groß-Sand in Wilhelmsburg. Reinigung und Desinfektion von chirurgischen Instrumenten, Funktionsprüfung, Packen und Verpacken des Sterilgutes nach Listen, Wartung der Reinigungsmaschinen. Das war genau das Maß an Verantwortung, das ich mir zutraute. Es war eine gute Zeit. Und allmählich wurde ich sicherer. Es begann Spaß zu machen, Teil eines so wichtigen Prozesses zu sein. Bald hatte ich Verbesserungsvorschläge, konnte kleine Optimierungen im Arbeitsablauf durchsetzen, die Effizienz der Reinigungsmaschinen besser ausnutzen.

Kurz, ich kam voran, war akzeptiert und guter Dinge.

Ich lernte Kiki kennen. Im November ’95 in der U-Bahn, wo sie mit einem Bauchladen über die Bahnsteige zog, um ihr BAföG aufzustocken. Sie hatte eine bunte Zipfelmütze über die roten Haare gezogen, auf der Sugafari stand, bot Süßigkeiten aus aller Herren Länder an, und wenn sie einen großen Riegel finnischer Schokolade beiseiteschob, erweiterte sich ihr offizielles Sortiment um ein inoffizielles: Kleiner Feigling, Jägermeister, Küstennebel, Boonekamp und Korn. Sie war offensiv und neugierig, in ihren Augenwinkeln wohnten Kobolde. Ich richtete meinen Fahrplan, soweit es ging, nach ihren Arbeitszeiten.

Ein Jahr später zogen wir zusammen. Ich war zum Leiter der ZSVA aufgestiegen und konnte von meinem Gehalt etwas zurücklegen. Kiki studierte weiter BWL – allerdings ohne Ehrgeiz. Sie war im 9. Semester, und das Ziel lag noch in weiter Ferne. 1997 wurde sie schwanger. Wir badeten in Glück und Hoffnung. Dass unsere wenig synchronisierten Leben austrockneten, fiel uns nicht auf. Wir heirateten sogar. Am 2. 2. 1998. Am 13. Februar wurde unsere Tochter geboren. Marie.

Ich habe mich nie wieder so stark gefühlt wie in diesen ersten Jahren. Ich dachte, ich könnte alles tragen. Ich hatte eine Frau, eine Tochter und einen ordentlichen Job. Ich war ein guter Mann, ein verliebter Vater und ein fairer Abteilungsleiter. So konnte es weitergehen.

Ging es aber nicht.

Kiki brach das Studium ab und konzentrierte sich voll auf Marie, bewachte eifersüchtig ihr kleines Leben. Keinen Atemzug durfte die Kleine unbeaufsichtigt machen. Wollwindeln wurden in Olivenseifenflocken gewaschen. Auf dem Spielplatz musste Marie einen Schnuller benutzen, damit ihr keine Insekten in den Mund flogen. Als sie in die Kita kam, drückte sich Kiki vormittagelang am Eingang herum und horchte ängstlich auf die Kinder. Als sie sich endlich mit der Fremdbetreuung abgefunden hatte, schrieb sie detaillierte Anweisungen für die Erzieherinnen: »Unter 18,5 Grad Pulli anziehen, ab 20 Grad Sonnenschutzoberteil an. Ersteres im Schatten, Letzteres bei Sonnenschein ebenso im Schatten messen!« Die Kita kündigte den Betreuungsvertrag. Kiki stürzte sich in einen Rechtsstreit, der schon bald das einzige Thema war, um das sich ihre Gedanken drehten. Das vergiftete unsere Tage.

Nur selten schien die alte Kiki noch durch. Zwar konnte sie mich in aller Öffentlichkeit beschimpfen und einfach stehen lassen, aber wenn sie dann am Abend wiederauftauchte, weder kleinlaut noch reuig, sondern mit einem Friedensangebot vor der Brust, blitzten in ihren Augenwinkeln die Kobolde, die ich so liebte. So kam ich auch an diese Jutetasche, auf der I get a bird stand.

Natürlich war ich ziemlich eingespannt, kümmerte mich aber um Marie, wann immer es ging, um Kiki zu entlasten. Als die Kleine Pseudo-Krupp bekam, habe ich sie nachts im Buggy spazieren gefahren. Wir drehten Runde um Runde durch Parks, stille Straßen, und ich erzählte ihr leise alles, was mir durch den Kopf ging. Nach zehn Metern schon fielen ihr die Augen zu, und die Hustenkrämpfe blieben aus. Zumindest solange ich redete, was absurde Situationen ergab.

Manchmal schoben wir an Nachtschwärmern vorbei, die sich totlachten über den Depp, der seinem schlafenden Kind die Funktionsweise eines Dampfsterilisators erklärte. Oder wir standen an einer stark befahrenen Straße, während ich gerade ein Lied sang, von dem wegen des Verkehrslärms kein Ton zu hören war – aber wehe, ich hätte aufgehört.

Das muss der Anfang unserer besonderen Nähe gewesen sein.

Als Marie 2003 in die Vorschule kam, teilte Kiki mir mit, dass sie sich scheiden lassen wolle. Sie habe einen Mann kennengelernt, der »ihre Seele berühre«. Sie wolle mit ihm leben und werde selbstverständlich auch das alleinige Sorgerecht für Marie beantragen. Erst spät fand ich heraus, dass es der Anwalt war, mit dessen Hilfe sie die Kita verklagt hatte. Plötzlich fielen alle Puzzleteile an ihren Platz.

Im Nachhinein Sinn zu schaffen, indem ich ausmale, koloriere und dann jede Schattierung auf Fehlpigmente untersuche, ist überflüssig. Es war nichts Besonderes. Ich war wie der Klettermaxe, den ich als Kind von einem Onkel aus dem Erzgebirge bekommen hatte: ein Holzmännchen auf einer Leiter, das unaufhaltsam abwärtsklickerte.

Klick, klick, klick, klick – klack!

Ich war so fassungslos, dass ich die Flucht ergriff. Kopflos räumte ich die Wohnung, zog in ein billiges Hotel. Ich ließ mich krankschreiben und stand jeden Tag am Pausenhof, um Marie zu sehen. Manchmal gelang es mir, eine Mitschülerin zu überreden, ihr kleine Briefchen mitzunehmen. Da waren Zeichnungen drin: eine lachende Sonne; ein Mann, der eine Kartoffel im Buggy durch die Welt schiebt; bunte Eistüten, so was. Aber natürlich fiel das auf, und der Anwalt erwirkte im Handumdrehen eine vorläufige Kontaktsperre.

Die Scheidung ging durch, aber das Sorgerecht wurde geteilt. Allerdings durfte ich Marie nur jedes zweite Wochenende sehen. Zu Beginn ausschließlich unter Kikis Aufsicht – das waren die schlimmsten Nachmittage. Doch das änderte sich bald, denn ich kündigte (bevor mir gekündigt werden konnte, weil mein Zustand für die Firma nicht mehr tragbar war). Ich wollte Hamburg verlassen. Jetzt wäre der Augenblick gewesen, nach London zu gehen, Berlin oder in den Mittleren Westen. Allerdings hätte ich Marie dann aufgeben müssen.

Da ergab sich die Möglichkeit, Anettes Wohnung in Neumünster zu übernehmen – und das schien mir wie ein Zeichen: zurück auf die Enterprise – »Viele Lichtjahre von der Erde entfernt, dringt die Enterprise in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat«. Die Vorstellung, mich dort einzuigeln, wo ich herkam, beruhigte mich.

Während ich mich in meiner Heimatstadt schnell wieder zurechtfand, begann ich ein Studium an der Fernuni Hagen. Philosophie. Wie um mein bisheriges Leben mit einem Streich über den Haufen zu werfen. Ich begann zu lesen, was mir in die Hände fiel. Von der »historisch-systematischen Einführung in die Entstehung, Begrifflichkeit und konzeptuelle Vielfalt der Kulturphilosophie« über den »Zusammenhang von Sprach- und Denkstrukturen« bis hin zur »Philosophie der Interkulturalität«. Nur die Einsamkeit beim Lesen machte mir zu schaffen. Wenn ich allerdings von meinen Büchern aufblickte, sah ich manchmal den Linienbus an der Haltestelle. Mein alter Traum, diese dicken Dinger zu fahren, klopfte an. Und was wäre denn eigentlich, fragte ich mich, der Unterschied zwischen den geistigen Transferleistungen, denen ich mich gerade widmete, und dem Passagiertransfer? Unterm Strich ging es doch immer um das Ankommen. Was sprach also dagegen, Fährmann zu werden? Schon bald studierte ich Verkehrsregeln statt Logik.

Unterdessen entwickelte sich mit Marie eine ganz spezielle Kommunikation: Es war mir unerträglich, dass ich in ihrem Alltagsleben keine (wenn auch noch so kleine) Rolle mehr spielen konnte. Ich kannte ja das Gefühl, ohne Vater zu sein. Ich hatte ständig das Gefühl, ihr etwas zu schulden. Sie verraten zu haben. Ich erinnerte mich, wie froh es mich gemacht hatte, wenn ihre Mitschülerinnen die kleinen Briefe entgegennahmen, schüchtern grienten und mit schnellen Trippelschritten in den Klassenraum rannten, um meine Post auszuliefern.

Ich begann, Marie Postkarten zu schreiben. Oder eigentlich am Anfang noch zu zeichnen. Sie war sieben Jahre alt und lernte ja gerade erst schreiben und lesen. Ich würde nach und nach Buchstaben in die Bilder schmuggeln können. Täglich schickte ich eine. Natürlich antwortete sie anfangs nicht. Aber an unseren Wochenenden konnten wir über die kleinen Bildergeschichten lachen und uns neue ausdenken, die ich dann in der kommenden Woche zeichnete. Marie sammelte sie alle. Sie hatte sich eine extra Pappkiste dafür besorgt und sie mit Trockenblumen verziert. Und so wie sie allmählich das Alphabet lernte, die ersten Zusammenhänge verstand, wurden aus meinen Zeichnungen nach und nach Comics. Sprechblasen mit einfachen Grüßen oder Witzen oder Fragen auf der Rückseite von historischen Ansichten, Scherzkarten, Werbe- oder den üblichen Touristenkarten. Mit neun Jahren, als wir am Wochenende in einem dieser schrecklichen Spaßbäder Pommes aßen, zeigte sie mir, dass sie alle bisher geschickten Karten an den Längsseiten zusammengeklebt hatte. Sie hatte so etwas wie einen bunten Zeitstrom, eine meterlange Vergangenheit gebastelt! Und sie teilte mir umwerfend altklug mit, dass sie die gezeichneten Bildchen langsam zu kindisch fand. Sie bestellte Geschichten bei mir. Und sie wollte antworten!

Jana, können Sie sich vorstellen, wie aufgeregt ich war?

Unsere nächsten fünf Jahre spiegelten sich in diesen regelmäßigen Schnipseln. Maries Entwicklung, ihre Wünsche, kleinen Niederlagen und Verwirrungen (das Leben mit Kiki bot wohl viele davon), mein mittlerweile fahrplanmäßiger Alltag, der so viele beiläufige Kostbarkeiten beinhaltete: z. B. den Riesenschnauzer, der allein in meinen Bus sprang und drei Haltestellen später wieder ausstieg, offenbar so desorientiert, dass ich rechts ranfuhr, den Hund mit meinem Pausenbrot an Bord lockte, Frau Florczak (die täglich mit mir zu ihrem Nagelstudio fuhr) bat, sich seiner anzunehmen, und ihn am Bahnhof der wartenden Feuerwehr übergab. Sein Frauchen war so erleichtert, dass sie mir eine Kiste Wein an die Endstation brachte. Mir, einem Berufsfahrer! Allein dieser Vorfall wurde eine 20-teilige Fortsetzungsgeschichte. Unsere Karten wurden immer genauer. Um ehrlich zu sein, war es Marie, deren Interesse entschiedener wurde. Ich musste mich anstrengen, ihre Fragen zu beantworten, ihre fantastischen Ausflüge in die Pubertätslabyrinthe mit Humor und Verantwortung zu kontern. Unsere Erzählungen wurden immer komplexer, und ich begann zu lesen, um mich an Beispielen zu orientieren. Marie schickte mir die Literaturlisten aus ihrem Deutschunterricht. Wir lasen parallel – und kommentierten auf unseren Karten, die nun endgültig zu klein waren und zu Briefen wurden.

Das hat mir eine unerwartete Welt eröffnet.

Gregor Samsa zum Beispiel habe ich unterm Lenkrad im Berufsverkehr kennengelernt. Immer darauf achtend, dass die Fahrgäste das Buch auf meinen Knien nicht entdeckten. Eine Zeit lang erwog ich ernsthaft, in eine Stadt mit mehr Staupotenzial zu ziehen. Auch das besprach ich mit Marie. Sie lachte mich aus. Sie war 15, als sie eines Abends im Jahr 2013 an meinem Bus stand. Sie trug einen großen Rucksack, stieg ein wie ein normaler Fahrgast – ich war zu perplex, sie nach dem Fahrschein zu fragen – und fuhr bis Schichtende in der letzten Reihe mit. Wortlos. Ohne ein einziges Zeichen, das das Rätsel ihres Auftauchens erklärt hätte. In der Nacht gingen wir von der Garage ebenso wortlos nach Hause. Ich machte mein Bett auf dem Sofa. Sie ging duschen. Dann packte sie den Rucksack aus – die Kartenkiste hatte sie auch dabei und schob sie unter ihre Pullover im Schrank.

Ihre und meine Karten, Briefe, Zettel waren unter einem Dach. Natürlich konnte ich mir den Grund für ihren plötzlichen Besuch zusammenreimen. Aber fragen musste ich doch irgendwann. Ihre Antwort war ein Schock, im Guten wie im weniger Guten: Sie wollte bei mir leben. Die Konflikte mit ihrer Mutter (die sich, wie Marie meinte, mit einem Yogastudio selbstständig machen wollte) waren unauflöslich geworden. Kiki hatte Marie mehr oder weniger rausgeschmissen – abgeschoben zu mir. Einerseits war ich glücklich darüber, andererseits war mir sofort klar, dass das Leben, in dem ich mich so bereitwillig eingerichtet hatte, gefährlichen Belastungen ausgesetzt sein würde: das Leben in Geschichten.

Sollten wir jetzt anfangen, uns alles, was wir für Erlebnisse hielten, zu erzählen? Zu sagen? Reden? Unvorstellbar. Wir waren ja die Geschichten, die wir dem anderen geschrieben hatten. Wir waren so vieles.

Wir versuchten, uns das Schreiben irgendwie zu erhalten: Die Beobachtungen, Fragen, Verabredungen schmolzen auf Post-it-Größe zusammen und klebten am Kühlschrank. Zeichnungen wurden wieder häufiger. Und es war möglich, lustig und manchmal überraschend.

Es kam uns entgegen, dass wir uns, obwohl wir jetzt unter einem Dach lebten, selten sahen.

Wenn mein Dienst begann, kam Marie aus der Schule. Wenn ich nach Hause kam, war sie mit Freunden aus. Ich stellte ihr das Frühstück für den kommenden Morgen hin, klebte Post-its an Tassen, Besteck oder die Tageszeitung und ging zu Bett. Eine erstaunliche Weile lief das hervorragend. Wir hatten Spaß, an meinen freien Tagen auch eine vorsichtige Nähe, denn an ein Zusammenleben waren wir beide nicht gewöhnt, machten Blödsinn, führten ernsthafte Gespräche und überlegten angestrengt, wie man wohl die Post-its chronologisch verwahren könnte. Es war Maries Idee, sie an einer Ecke mit einem robusten Faden zusammenzuheften. So konnten wir blättern, wie in einem Daumenkino.

Dann kam der Tag. Zur Orientierung: Es war exakt sieben Monate bevor ich Ihre Agenda fand.

Marie war 17 Jahre alt.

Ich kam etwas verspätet wegen einer Betriebsratsversammlung und bemerkte es sofort: Sie war weg. Nicht in der Disco oder bei Freunden. Nicht in Hamburg bei Kiki. Sie hatte sich in ihr eigenes Leben verabschiedet – ohne sich zu verabschieden!

Ja, sie hatte ein paar Mal davon gesprochen, mit einer Freundin zusammenziehen zu wollen, Backpacking durch Skandinavien vielleicht, Neuseeland stand auch hoch im Kurs. Träume, hatte ich gedacht. Aber es gab keinen Anlass, es gerade jetzt zu tun. Es war grund- und vorzeichenlos. Und sie hatte sich nicht verabschiedet.

Die Kartenkiste mit all unseren Briefen hatte sie mitgenommen und damit auch unsere Geschichte.

Wenn wir aber die Geschichten sind, die wir von uns erzählen, wo bin ich dann? Bin ich noch?

An der Türklinke zum Badezimmer hing ein Daumenkino, das Marie gebastelt hatte: Es zeigte ihr Selbstporträt, das langsam verschwand. Auf die letzte Seite waren sieben Ziffern notiert. Am nächsten Tag in der Mittagspause ging ich zum ersten Mal in die Telefonzelle in der Wendeschleife und wählte diese Nummer. Ich ließ es 30-mal klingeln und redete mir ein, sie würde wissen, dass ich es versucht hätte, auch wenn niemand abgehoben hatte. Das machte ich dann ein Mal täglich. Exakt zur selben Zeit, exakt 30 Klingeltöne. Exakt sinnvoll – bis die Nummer abgeschaltet wurde.

Jana, Naira sitzt mir im Nacken.

Ich habe ja zu Hause nichts, keinen Computer, kein Smartphone. Ich muss also weiter den Patientenrechner des FEK nutzen, um Ihnen schreiben zu können. Aber der Zugang zum Netz ist eingeschränkt. Seiten und Suchoptionen sind gesperrt, damit wir Insassen keinen Blödsinn anstellen. Also habe ich mir Nairas Kontodaten erbettelt, um mich anmelden zu können und z. B. Dinge wie Kirchhörde-Nord zu googeln. Aber Naira wäre nicht Naira, wenn sie sich bedingungslos darauf eingelassen hätte. Sie hat mir ein Versprechen abgenommen: Jeden Abend, an dem sie mich nach Hause bringt, muss ich mit ihr und dem Ehepaar Lambrecht mehrere Runden Mau-Mau spielen. Die Lambrechts sind sehr um mich bemüht, seitdem ich Ihre Idee mit den Pralinen beherzigt habe (auch wenn der General nicht versteht, dass ich nie wieder duschen werde). Und Naira ist, glaube ich, sehr einsam im norddeutschen Regen. Ich werde Ihnen demnächst von diesen Abenden schreiben. Sie sind wirklich abenteuerlich. Die Brunslow würde es »Training der sozialen Kompetenz« nennen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich das Trainingsziel erreichen werde.

Naira durchbohrt mich mit ihren ungeduldigen Blicken. Ihr Schlüsselbund hat etwas von einer Waffe.

Eine Frage noch: Sind Sie Gärtnerin?

Klick, klick, klick, klick – klack!

Johan Z.

I get a bird

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