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Freiburg, den 18. 10. 2018

Sehr geehrter Johan Zweipfennig,

sind Sie noch da?

Dachten Sie, ich melde mich nicht?

Natürlich sind Sie noch da. Niemand ruft in den Wald, ohne zumindest ein kleines Echo zu erwarten, auch wenn Sie so wortreich das Gegenteil behaupten.

(Wahrscheinlich sitzen Sie in Ihrer Küche, in der jetzt nicht mehr viel übrig ist, außer ein paar Stühlen und einem Tisch, und sind damit zufriedener als mit allen Möbeln, die dort je Ihr Leben bevölkert, aber nicht belebt haben. Sie sitzen dort und hören den Briefträger im Treppenhaus. Seine Schritte, seinen Schlüsselbund. Das Klappern der Kästen, viele klappern, aber man kann sie kaum unterscheiden. Und dann bleiben Sie noch eine Stunde sitzen, ehe Sie die Wohnung verlassen, einen langen Spaziergang machen und erst auf dem Rückweg im Vorbeigehen – und natürlich aus reiner Routine – in den Kasten schauen, weil Sie selbst vor sich nicht in den Verdacht geraten wollen, Sie würden auf Post oder irgendetwas warten.)

Ich habe tatsächlich überlegt, ob ich Ihnen überhaupt schreiben soll.

Eigentlich ändert es ja nichts, dachte ich. Nicht für Sie und nicht für mich. Aber vielleicht ja doch.

So, wie Sie in Ihrem Brief erwirken wollten, dass ich in meinem Leben Raum und Zeit erübrige für Ihr schlechtes Gewissen und Ihre Bitte um Entschuldigung (ist angekommen und gewährt, auch wenn Sie nur drum rumgeredet haben. Absolution erteilt. Amen!), müssen Sie jetzt eben meine Sicht der Dinge ertragen.

Ich weiß, Gefühle sind nicht so Ihr Ding, sorry, aber dann hätten Sie meinen Kalender besser mitsamt dem Sofa, der Stereoanlage und den leeren Bilderrahmen in den Müll geworfen.

Wissen Sie, ich habe geheult vor Zorn und Verzweiflung, damals, als ich dumm, so saudumm, meine Agenda in dieser verdammten Telefonzelle in der Wendeschleife vergessen hatte. Und wieder, als Sie sie mir zurück in mein Leben geschickt haben. Und zwischendrin auch.

Ich war so bis ins kleinste Detail wütend. Nicht auf Sie, nein, Sie haben in der Telefonzelle nur vergeblich etwas gesucht (was? Trost? Erleichterung?) und dann etwas ganz anderes gefunden.

Sie trifft im engeren Sinne keine Schuld. Ich bin wütend auf mich. Auf den Bindfadenregen an diesem Tag damals. Auf diesen Termin, den man mir eingeräumt hatte: »Rufen Sie bis 9.15 Uhr an.« Auf das ewige Besetztzeichen im Hörer Ihres ach so bunten Bücherschranks. Sogar auf die Wahlwiederholungstaste (hätte ich die Nummer so oft tippen müssen, wie ich die Wahlwiederholung gedrückt habe, hätte ich sie am Ende wahrscheinlich auswendig gewusst, und der Verlust des Kalenders hätte nichts bedeutet). Und dann doch auf Sie oder Ihre Kollegen mit ihrem magnetischen Mondfahrplan, dessentwegen ich um 9.12 Uhr schließlich aufhängen musste, ohne durchgekommen zu sein, und rennen, um den Bus (Sie?) nicht zu verpassen.

Als ich kurze Zeit später bei der Konferenz bemerkte, dass der Timer weg war (ein Geschenk übrigens und darüber hinaus quasi mein Gehirn, ohne das zu leben erst mal nicht besonders einfach war), habe ich mir ein Taxi zur Telefonzelle genommen. Aber ich war zu spät. Sie waren mir zuvorgekommen.

Ich habe alles Erdenkliche versucht, um den Planer zurückzukriegen: Leute in der Nachbarschaft gefragt, das Fundbüro bemüht, sogar einen Zettel mit dem Versprechen auf Finderlohn habe ich an die Scheibe der Zelle geklebt. Aber den haben Sie natürlich nicht gesehen, Sie hatten ja offenkundig keinen Grund mehr, das Telefon zu benutzen …

Ich erspare Ihnen eine lange Beschreibung der persönlichen und beruflichen Beschwernisse, die sich aus meiner und letztlich auch aus Ihrer Nachlässigkeit ergeben haben. Das spielt alles keine Rolle mehr. Das meiste ist ja ersetz- oder verzichtbar.

Aber die NUMMER war weg, und mit ihr die eine winzige Chance, mein größtes, allergrößtes Versäumnis wenn auch nicht ungeschehen, so doch vielleicht ein kleines bisschen erträglicher zu machen.

Ihre Vorstellungen davon, wie mich der Blitz, den Sie so reuig losgeschickt haben, getroffen hat, sind wirklich hübsch, aber leider völlig unzutreffend. Ich kam aus der Dusche (war gerade von der Arbeit gekommen), hab noch im Bademantel der Nachbarin aufgemacht, die schon drei Tage zuvor Ihre Sendung für mich entgegengenommen hatte (Ira hat übrigens die Annahme auch quittiert; Sie haben Ihren Computer also wahrscheinlich verschrottet, bevor Ihre Post mich tatsächlich erreichte – so viel zum Thema »Sendungsverfolgung«), wir tranken Kaffee und sprachen über meinen kaputten Boiler, und das Päckchen lag dann noch mal einen weiteren Tag herum. Ich musste nämlich sofort los zur Fahrradwerkstatt, weil ich am Morgen bei der Arbeit einen Beinaheunfall mit einem Linienbus (!) gehabt hatte. Der Idiot von Fahrer hat mir die Vorfahrt genommen, und ich bin mit dem Vorderrad in die Tramschienen geraten. Natürlich hat der Typ nicht mal angehalten. (Ich sage es ganz ehrlich, auch wenn Sie offenbar ein harmloses Exemplar sind: Ich habe auch so meine Erfahrung, insbesondere mit Busfahrern, und zwar mehr und schlechter, als mir lieb ist. Hätten Sie angehalten? Ja? Ich könnte es mir vorstellen. Sie mögen ja sogar Ihre Fahrgäste, dann bremsen Sie vielleicht auch für Fahrradkuriere.)

Ich habe den Timer schon durch die Folie erkannt. Es war, als hätte ich ihn gestern zuletzt in der Hand gehabt. Ich hab gleich die Nummer aufgeschlagen, diese eine Nummer. Ich wusste noch genau, wo ich sie hingeschrieben hatte, zigfach umrandet, und als ich sie sah, habe ich mich tatsächlich sogar an die Nummer selbst erinnert. Wie oft habe ich vergeblich versucht, sie wieder hochzuholen aus den Tiefen meines Gedächtnisses. Und als sie da stand, wirkte sie so lächerlich, unfassbar einfach.

Ich habe sofort angerufen, ohne nachzudenken. Ohne mir zu überlegen, was ich sagen würde (ganz anders als damals in der Telefonzelle, da hatte ich mir jedes Wort genau zurechtgelegt). Es klickte. Jemand antwortete. Und jetzt raten Sie mal, was.

Genau: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«

Ist das nicht absurd? Ganz ehrlich: Es wäre doch zum Lachen, wenn es nicht so zum Heulen wäre, oder?

Ich kann nur erahnen, was diese Ansage damals für Sie bedeutet hat. Wer weiß, wer Ihnen abhandengekommen ist und warum (es scheint eine ausreichend traurige Geschichte zu sein, wenn sie Sie dazu gebracht hat, sich schriftlich bei einem wildfremden Menschen von der Welt abzumelden).

Mir kommt es so vor, als hätte die Stimme seit diesem verregneten Freitag vor drei Jahren faul in den Leitungen rumgehangen und bloß darauf gewartet, dass sie endlich auch zu mir durchdringen durfte, um mir eine lange Nase zu drehen. Nie vorher ist mir aufgegangen, wie gemein, wie zerstörerisch, ja, wie absolut endgültig dieser kurze Satz ist.

Armeen von »Hättes« sind mir durch den Sinn gezogen: Hätte ich damals jemanden erreicht, wäre ich heute ein anderer Mensch, vielleicht sogar ein glücklicher. Hätte ich den Bus doch einfach fahren lassen. Hätte ich nur besser aufgepasst. Hätten Sie mal früher bei sich aufgeräumt. Hätten Sie doch einfach reingeschaut in den Planer. Hätten Sie Ihren kleinbürgerlichen Anstand doch über Bord geworfen und wären Sie neugierig gewesen. Hätten Sie mal aus Ihrem Kosmos raus- und in meinen reingeguckt. Dann hätten Sie vielleicht gesehen – ach, es führt ja zu nichts.

Es soll einfach nicht sein. Wieder nicht. Und nie.

Man könnte wirklich einen Vogel kriegen!

Aber keine Sorge, Herr Zweipfennig. Ich will Ihr Mitleid genauso wenig, wie Sie meines wollen. Das liegt hinter uns.

Wir weinen nicht über verschüttete Milch, nicht wahr? Das tun wir nicht. Nicht mehr. Genug geheult. (Mein Leben ist längst von Salz gesättigt. Bei mir gedeihen nur noch Halophyten. Bei Ihnen ist das bestimmt ganz anders. Ich bezweifle, dass Sie je ein Tränchen verdrücken, auch wenn Sie nur zu gut zu wissen scheinen, wie sich Kummer anfühlt. Bei Ihnen herrscht wahrscheinlich eher mineralarmes Wüstenklima. Ein Tipp am Rande: Pfaffenhütchen wachsen gut auf solchen salzarmen Böden.) Wir leben mit dem sauren Geruch, der zwischen den Dielen festsitzt, und warten auf den nächsten Sonnenaufgang. So ist es doch.

Sie sind doch noch da?

Ich bin noch da.

Sie dort, ich hier und zwischen uns Kein Anschluss unter dieser Nummer, immerhin, das verbindet.

Es tut mir leid, wenn dieses Schreiben anders ausgefallen ist, als Sie es erwartet, gewollt haben. Keine Dankeskarte.

Den Timer habe ich übrigens weggeworfen.

Und was machen wir jetzt? Hm? Hand in Hand von der Brücke springen, oder was?

Sagen Sie es mir.

Und lassen Sie sich ja nicht einfallen, sich jetzt einfach gekränkt in Luft aufzulösen, weil ich Ihnen Gefühle zugemutet habe. Sie haben zuerst in meine Welt gerufen (Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?). Ich rufe nur zurück.

Jana Richter

PS:

Ich füge zu Ihrer Entschädigung 20 Euro bei, den gesetzlichen Pauschalbetrag für Auslagen in Porto und Telekommunikation.

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