Читать книгу I get a bird - Anne von Canal - Страница 7
ОглавлениеIch arbeite mit Fotos, oder besser: mit Bildern.
Seit Jahren ist mir bewusst, dass mein Blick auf die Welt immer nur ein Blick auf die Welt sein kann. Daher verwende ich fast ausschließlich vorhandenes Material, das bereits ein Leben, eine Bestimmung hinter und in sich hat. Das erhöht die Vielfalt der Perspektiven und damit die Chancen auf einen Fund.
Antiquariate und Trödelläden, Flohmärkte, Wohnungsauflösungen, Recyclinghöfe und selbst Wertstofftonnen sind dabei für mich die zuverlässigen Lieferanten all dessen, was absichtslos vorhanden ist und eine eigene Erzählung mitbringt.
Der Zufall spielt mir Objekte in die Hand.
Objets trouvés.
Offen für neue Einordnung und Zuschreibung.
Warum ich das tue?
Die Sehnsucht nach dem Unmessbaren treibt mich an. Nach dem kaum oder nicht Sagbaren. Vielleicht ist das die Dimension, die ich verloren habe? Ihre Spuren, ihren Ausdruck jedenfalls nenne ich »das Original«.
Lange Zeit bestand mein einziger Zugang zur Welt darin, sie durch das Objektiv meiner Kamera zu lesen. Durch Verschiebung des Kaders, Schärfentiefe, Detailbetonungen oder durch eine Perspektivwahl, die vielleicht den Blick ins Unendliche öffnet, hoffte ich, die mir früh verlorene Dimension wiederzuentdecken. Allerdings will ich mich nicht Fotografin nennen, denn ich habe die Ungenauigkeit, die Unzuverlässigkeit dieser Art der Abbildung eingesehen: Der Moment, den es braucht, den Auslöser zu drücken, verschiebt das Erlebnis. Er verschattet sich gewissermaßen selbst. Der richtige Zeitpunkt für ein Foto existiert faktisch nicht. Ich würde notgedrungen immer zu spät sein. Oder zu früh. Es sei denn, ich verzichtete auf die Aufnahme selbst.
Aus diesem Grund habe ich den Schwerpunkt meiner Arbeit in einen Bereich verlegt, der mich zumindest von meiner eigenen schicksalhaften Unzeitigkeit und von einer Rolle befreit, die ich nie ausfüllen konnte. Ich suche, sammle, betrachte bereits entstandene Fotos. Versuche, sie zu verstehen, zu kombinieren, zu collagieren und falls nötig aufzulösen, ohne mich ihrer Herkunft oder ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu unterwerfen.
Ich suche das Original – und gebe ihm so die Chance, mich zu finden.
Die Umstände, unter denen vorliegende Briefe zu mir fanden, waren für meine Vorgehensweise unüblich. Zwar sind auch sie gewissermaßen Fundstücke – doch der Zufall war nicht unbedingt willig, eher bestochen. Jedenfalls überredet.
Im Spätsommer vor zwei Jahren trug mir eine Galeristin aus London den Kontaktwunsch eines hartnäckigen deutschen Sammlers an, der mehrere meiner Werke besaß.
Meine Anonymität wahrend, hielt mir die Galeristin den Bewunderer zunächst vom Leib, berichtete aber bald, er habe angeblich »Material« für mich. Angebote dieser Art sind keine Seltenheit, doch mit dem Verweis auf das Entstehungsprinzip meiner Projekte lehne ich stets ab.
Ich hatte gerade die Arbeit an Visual Acuity abgeschlossen (wofür ich Fotografien eines Anthropologen aus den Dreißigerjahren an ihre Entstehungsorte in Afrika zurückgebracht, den heutigen Bewohnern gezeigt und deren Reaktionen auf die historischen Vorlagen festgehalten hatte) und bereitete zur Buchpremiere eine Ausstellung im Koninklijk Museum voor Midden-Afrika in Tervuren vor. Die Vernissage sollte am 18. Oktober 2019 stattfinden.
An ebenjenem Tag erreichte mich knapp eineinhalb Stunden vor Beginn der Veranstaltung eine absenderlose Briefsendung. Ein einfacher, dicker DIN-A4-Umschlag lag einsam auf einem der Stehtische im Ausstellungsraum. Darauf stand: WHO – IF – WHEN.
Die einzigen drei Wörter meiner Homepage.
Es bestand kein Zweifel daran, dass dieses Päckchen für mich bestimmt war.
Während die Vernissage, wie üblich ohne meine Anwesenheit, ihren Lauf nahm, suchte ich mir einen Platz in einer Bar gegenüber dem Museum. Dort öffnete ich die seltsame Post.
Ein dicker Haufen beschriebenes Papier. Bis auf wenige Fotos, Postkarten und ausgerissene Zeitungsseiten hauptsächlich Text. Teils Computerausdrucke, teils Handschriftliches, stellenweise nahezu unleserliche Kommentare am Rand. Offensichtlich eine Sammlung von Briefen. Nirgends fand sich ein Hinweis darauf, wer sie mir zugespielt hatte. Keine Notiz, keine Begründung.
Der deutsche Sammler, den ich abgewiesen hatte, kam mir in den Sinn. Das angekündigte »Material«? Meine Neugier erwachte.
Wie es auch meiner Vorgehensweise bei Bildern entspricht, eine Szene nämlich so eingehend zu untersuchen, dass sie selbst den kleinsten Widerspruch verrät, widmete ich mich jetzt diesen Briefen.
Ich las.
Was ich las, nahm mich sofort gefangen. Aber weniger das Wie und das Was berührten mich als die ungewöhnliche Situation, in der diese Briefe verfasst worden waren und die sich wie selbstverständlich in ihre Matrix eingebrannt hatte: Hier schrieben sich zwei, die sich nicht kannten.
Vom Zufall, einem Fundstück, zusammengeführt.
Das Tasten, Lauschen, Zurückschrecken, Vorpreschen, Staunen und Bedauern der ersten Briefe: Da wird geraten und gemutmaßt, beleidigt, ins Blaue hinein fantasiert und aus demselben Blau intimste Wahrheiten gezogen – ihre Fremdheit macht die beiden frei.
Ohne Erwartung und Voraussetzung öffnen sich zwei Menschen in einen Raum, als beträten sie eine Halle, lassen ihre Blicke über die Anwesenden streifen, und jeder Einzelne fühlt sich momentweise »angesehen, ohne gesehen zu werden«, wie es in Roland Barthes’ Bemerkung zur Photographie heißt.
De facto trennen diese Briefe »Beachtung von Wahrnehmung und setzen nur die erste ins Bild. Obwohl sie ohne letztere gar nicht denkbar ist.«
Zwei Welten rasen aufeinander zu, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sie kollidieren – ohne erzählerisches Ziel und doch mit weitreichender Konsequenz. Und weil die Schreibenden sich nur allmählich kennenlernen und Zuschreibungen sich dabei vor Gewissheiten schieben, treibt sie eine einzige Hoffnung: Weiterreden. Weiterschreiben. Da sein.
Es ist ein »Zielen ohne Ziel. Und dennoch bringt dieser unbegreifliche Vorgang die höchst seltene Erscheinung eines Ausdrucks hervor.«
Dieser Ausdruck ist das Original.
Das kaum oder nicht Sagbare, das alles klärt.
Seit meinem 16. Lebensjahr suche ich es.
Seit meine Herkunft sich unerwartet als unecht entpuppte und kompromisslos auflöste und die Mitglieder meiner Familie vom einen auf den anderen Moment zu Fremden wurden. Seit meiner Welt die Notwendigkeit und mit ihr eine Dimension verloren ging, sie zur reinen Oberfläche verkam. Seit ich nicht mehr dazugehöre.
Seither versuche ich, mich zumindest in meiner künstlerischen Arbeit diesem Original zu nähern. Es gelingt mal mehr und mal weniger.
An jenem Abend in der Bar nun fiel ich in diese beiden schreibenden Unbekannten wie in einen Trichter. Ich las etwa die ersten zehn Briefe, ziemlich genau, bis Johan von seinem 14. Geburtstag erzählt, und die rätselhaften Menschen hatten mich fest im Griff – beinahe möchte ich sagen, wie eine Familie.
Ich fühlte mich beschenkt. Gefunden.
Dabei wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dieses Päckchen etwas enthielt, das mein Leben auch auf einer anderen Ebene gänzlich umkrempeln würde.
Ich schreibe das auf, weil es mir nie um mich ging. Und weil ich mich frage, ob das so bleiben kann.
Herbst 2021
beirette.art.ca