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Tag 3 - Besuch

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So auch am Nachmittag, als wir unsere Freunde Matthias und Karina besuchten. Freunde, die wir seit Jahren kannten, aber aufgrund diverser Umstände beiderseits wenig trafen. Das letzte Mal sahen wir sie vor fünf Jahren. Eine lange Zeit, in der aber auch viel passiert ist. Zugegeben, wir waren mit unseren Drillingen gut eingespannt und bei den beiden kam ein Hausbau und drei Schwangerschaften dazwischen. Zeit für ein Treffen war theoretisch immer, aber wie es so ist, jeder ist in seinem Leben arg eingespannt und wenn man sagt „wir treffen uns mal“ und kein fester Termin vereinbart wird, wird die Zusammenkunft immer wieder weiter hinausgeschoben. Woche für Woche, Monat für Monat und plötzlich sind fünf Jahre vergangen. Allerdings ließen wir von den beiden in dieser Zeit bewusst ab, denn die zweite Schwangerschaft von Karina verlief zwar planmäßig und sie gebar das Kind, jedoch verstarb es kurze Zeit später als ein sogenanntes „Sternenkind“. Kinder, die der poetischen Bedeutung des Wortes nach den Himmel erreichen, noch bevor sie das Licht der Welt erblicken dürfen und gemäß der Wortbedeutung verstorbene Kinder bezeichnet, insbesondere wenn die Schmetterlingskinder vor, während oder zeitnah nach der Geburt verstorben sind. Alleine diese Erläuterung lässt jedes Herz einer Mama zerbrechen, wie schlimm mag es dann erst für die Betroffenen sein. Für die Beiden. Sie machten das Schlimmste durch, was Eltern wiederfahren kann und nicht einmal dem ärgsten Feind zu wünschen ist – ihr lebendes, gesundes Kind sterben zu sehen, welches sie noch kurz zuvor in den Armen hielten oder spielten und plötzlich nicht mehr da ist. Es zu verlieren. Eine unvorstellbare dramatische Erfahrung, bei der nicht nur das Baby selbst stirbt, sondern auch ein Teil eines Selbst. Beide zogen sich in dieser Zeit zurück und wollten mit der Trauer alleine sein. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen, der feste Halt der Familie und die Geburt eines weiteren, gesunden Babys holten beide zurück ins Leben und ließ sie wieder Freude und Spaß erleben. Meinen größten Respekt hatten Matthias und Karina, dass sie diese unerträgliche Zeit überstanden und gelernt hatten, damit umzugehen. Über ihr Sternenkind Emil werden sie nie hinwegkommen und ihn vergessen, selbst der Satz „die Zeit heilt alle Wunden“ ist in diesem Zusammenhang unangebracht.

Nun waren sie bereit, auch uns in Empfang zu nehmen. Im gleichen Atemzug der Einladung einigten wir uns darauf, bezüglich ihres Sternenkindes nicht nachzufragen, um keine alten Wunden aufzureißen. Trotz Kenntnis völlige Ausblendung! Weiterhin galt es Stillschweigen über meinen Zustand sowie unseres Vorhabens zu bewahren.

Wir klingelten an der Tür des Neubaus. Diese wurde von Karina mit ihrem Sohn geöffnet. Ein breites Grinsen brachte sie uns entgegen und John reichte uns ganz anständig die Hand. Zur Begrüßung umarmten wir uns herzlich und unsere Jungs sagten anständig „Hallo“. Als wir eintraten und uns den Schuhen und Jacken entledigten, kam Matthias mit dem kleinen Töchterchen Helen zur Begrüßung auf uns zu. Wir sahen zum ersten Mal die kleine Maus. „Ein Mädchen, wie schön“, dachte ich und wurde zugleich für einen kurzen Moment sentimental. Gut, dass mich Florian stupste und mir ein paar Hausschuhe reichte. Nichts anmerken lassen, war unser Bestreben.

Die beiden baten uns in den offenen Wohn- und Essbereich einzutreten und es uns an der gedeckten Kaffeetafel gemütlich zu machen. Einen großen Esstisch hatten sie, der längs entlang des Zimmers gestellt war. Der Vorteil bei Besuchen, denn wir alleine schlugen schon mit fünf Personen auf und zu Familie Müller zählten bereits vier Mann.

An der Stirnseite fand ich meinen Platz, direkt neben Karina und zur Linken Adrian.

„Wir trinken Kaffee und dann zeigen wir Euch unser Haus. Einverstanden?“, fragte und beschloss Matthias in einem Satz und schenkte uns währenddessen das Heißgetränk ein. Karina reichte die Getränke für die Kinder und verteilte an jeden ein Stück Kuchen. Dies ließ Zeit, unsere Blicke in ihrem Neubau schweifen zu lassen, doch immer blieb ich bei der kleinen Helen hängen. Mit einem Lätzchen um den Hals saß sie in ihrem Kinderstuhl, beobachtete mich mit ihren blauen Kulleraugen und lächelte mich die ganze Zeit an. Selbst der Blick in die große Stube mit dem wunderschönen Kachelofen, der Holztreppe, die ins Obergeschoss führte oder die große und moderne Küche mit einer Kochinsel konnte meine Aufmerksamkeit nur kurzzeitig von der kleinen Maus ablenken. Ihr blond gelocktes Haar lag auf ihren zarten Schultern auf und unter dem Lätzchen trug sie ein rotes mit weißen Punkten getupftes Kleid. Wie eine Puppe sah sie aus. Wunderschön.

„Jetzt erzählt mal, wie geht es Euch? Conny, ich habe gehört, dass du wieder zu arbeiten angefangen hast“, eröffnete Karina das Gespräch und spießte zeitgleich die Gabel in das Stück Kuchen. Ich hingegen schluckte sprichwörtlich meinen riesigen Kloß im Hals beziehungsweise in diesem Fall ein großes Kuchenkrümel hinunter, fing an von meiner Rückkehr nach der Elternzeit zu erzählen. Wir kamen ins Plaudern, wie glücklich ich war, den Posten bekommen zu haben und auch Beruf und Familie aufgrund der Teilzeitanstellung und Gleitzeit gut unter einen Hut zu bekommen.

Die Tatsache, dass wir uns ganze fünf Jahre lang nicht gesehen hatten, hätte uns ein Außenstehender niemals angemerkt. Es war so, als hätten wir erst letzte Woche zusammengesessen. So ist es eben mit guten Freunden, egal wie lange man sich nicht sieht, bei einem Zusammentreffen ist keiner dem anderen böse, ist beleidigt, nachtragend oder ähnliches. Nein, man freut sich, den anderen zu sehen und ist sofort herzlich in einer Unterhaltung.

Die Gesprächsrunde am Kaffeetisch gestaltete sich sehr locker und angenehm, bis zu dem Punkt, als die beiden uns fragten, ob wir noch ein weiteres Kind haben wollen. Ein Augenblick, an dem mir wieder einmal bei solch einer Frage kurz der Atem stockte und ich entsetzt zu Florian sah. Wie kamen die beiden darauf? Hatten sie mir etwas angemerkt? Verhielt ich mich anders als sonst? Gut, naheliegend war die Frage, wenn wir unsere Kinder mit John und Helen spielen sahen und doch immer wieder die Kinder als Thema in das Gespräch einflossen. Natürlich blieb die Frage nicht aus. Nicht nach so einem langen Wiedersehen, ein paar Kindern, festen Jobs und einer häuslichen Basis später.

Fast schon zeitgleich stritten Florian und ich ein weiteres Geschwisterchen ab und argumentierten vehement dagegen. Ganz nach dem Motto: „Mit unseren Drillingen haben wir alle Hände voll zu tun“. Als wir entschlossen gegen ein Baby redeten, wurde mir erneut bewusst, so niedlich die Kleine auch war und ich mich wie verrückt über ein Mädchen freuen würde, umso weniger wollte ich es. Wenn ich an die Anfangszeit zurückdachte, an das Nächte lang wach liegen, Windeln wechseln, ständiges Geschrei, Milchflaschen zubereiten und überall mit hinnehmen, Brei kochen, das Essen an sich beibringen, einfach mit Allem wieder von vorne zu beginnen, nein, das wollte ich nicht. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Ein Kind von Freunden oder Bekannten für ein paar Stunden oder auch ein Wochenende lang mit zu betreuen, das war in Ordnung, aber nicht ein Eigenes. Es war gerade gut so, wie es war. Perfekt? Dies konnte ich momentan nicht objektiv genug einschätzen, aber die Beschreibung ´gut´ traf es auf jeden Fall.

„Florian, wir trinken ein Bier, oder?“ Matthias hatte schon immer das Talent, eine Frage und zugleich einen Beschluss in einem Satz zu formulieren. Noch bevor Florian antworten konnte, stand Matthias bereits am Kühlschrank und öffnete diesen, um zwei Flaschen herauszunehmen. „Ihr Frauen trinkt ein Glas Sekt?!“ Ich sah Karina an. Sie nickte und diesmal zögerte ich nicht so lange, wie gestern bei Luis. „Gerne“, antwortete ich und unser Freund stellte die entsprechenden Kaltgetränke und Gläser bereit. Wir stießen zusammen mit den Worten „Schön, dass wir uns mal wiedersehen. Prost“ an und die Gläser klangen wie liebliche Glocken.

Nach dem ersten Schluck war sie wieder da, meine Übelkeit. Der Kuchen, der Kaffee und nun der Sekt schlugen mir ganz schön auf den Magen und ich kämpfte mit dem Würgereiz. Dieses Gefühl, wenn die verschlungene Speise nun sauer die Speiseröhre wieder hochwandern möchte, musste ich während des Erzählens versuchen zu unterdrücken und zu verdrängen. „Nichts anmerken lassen, Conny!“. Sie durften keinen Verdacht schöpfen. Florian und ich konnten den beiden auf keinen Fall erzählen, dass ich schwanger bin und wir das Kind nicht wollen. Nicht den beiden. Was würden sie von uns denken und halten, wenn wir ihnen offenbaren, dass wir eine Abtreibung planen? Wie würde es den beiden damit ergehen? Nicht auszumalen!

So, wie ich Karina kannte, wusste ich, sie würde in Erinnerung an Emil sofort in Tränen ausbrechen und mir wütend einen Vortrag halten, wie ich nur solch eine Entscheidung treffen könne. Als Mutter. Als Frau. Als Mensch. Sie hätten uns voller Trauer gesagt, wie sie damals alles dafür getan und aufgegeben hätten, um das Leben von Emil zu retten, selbst ihr eigenes Leben. „Wie könnt ihr nur!“ oder „Habt ihr überhaupt ein Gewissen?!“, solche oder ähnliche Äußerungen hätten sie garantiert, trotz unserer Freundschaft, uns an den Kopf geworfen und wutentbrannt uns des Hauses verwiesen. Selbstverständlich völlig nachvollziehbar und nicht einmal böse zu nehmen. Darauf oder auf eine vergleichbare Situation wollte ich es einfach nicht ankommen lassen.

Leider konnte ich nicht einfach aufstehen und rasch die Örtlichkeiten des Hauses besuchen. Das ging nicht. Ich musste mich so verhalten, als sei alles normal und mir der Sekt gut schmeckt. Das funktionierte offenbar, denn kaum hatte ich mir das Glas hineingequält, wurde auch schon nachgeschenkt. Ein „nein, ich möchte nicht“ war nicht akzeptabel. Mir blieb lediglich die Hoffnung, durch die Kinder so in Besitz genommen zu werden oder Zeit durch die versprochene und noch offene Hausbesichtigung zu schinden, dass ich unangetastet das Glas stehen lassen konnte.

Das Schicksal meinte es gut mit mir und Letzteres trat ein. Matthias erhob sich von seinem Platz. „Komm, ich führe euch herum.“ Neugierig und ganz gespannt folgten wir seiner Einladung. Wir begannen mit dem Rundgang im Obergeschoss. Am besten gefiel mir das Badezimmer. Eine Eckbadewanne genau unter dem Dachfenster. Das konnte ich mir gemütlich und romantisch vorstellen. In der Wanne liegend, dem Regen zuhören, der auf das Fenster plätschert oder bei klarer Nacht die Sterne aus dem warmen Nass beobachten oder im Winter die kleinen Schneekristalle beobachten, wie sie sich auf der Scheibe niederlassen. Dazu erklingt leise Musik aus dem Radio und die eine oder andere Kerze ziert das Bad mit ihrem Schein. Das könnte mir gut gefallen.

„Du wirst es nicht glauben, das habe ich bis jetzt nur einmal geschafft“, erwiderte Karina, als ich laut dachte. „Dafür brauche ich Ruhe und Zeit, was beides bislang sehr begrenzt war. Außerdem schmerzt ab und an der Blick in die Sterne.“ Sie senkte den Kopf und lenkte ab. „Duschen geht deutlich schneller.“ Das zuerst Gesprochene ausgeblendet, konnte ich ihr nicht widersprechen, aber man darf ja wohl noch träumen dürfen. Mit einer Badewanne war zwar unser Bad ebenfalls ausgestattet, aber bei einer Wohnung im Erdgeschoss gestaltete es sich mit Sterne beobachten schwierig.

Es gab viele schöne und liebevolle Details im Haus, was sie beim Bau haben mit einfließen lassen und nach ihren Vorstellungen und Wünschen entstehen ließen, auch bei der Einrichtung. Alles war in sich stimmig und geschmackvoll. Zum Schluss zeigte mir Karina und auch nur mir, auf dem Sims des Kachelofens eine in Anführungsstrichen „kleine Gedenkecke“. Diese war nur vom Sofa aus sichtbar, nicht vom Essbereich, in welchem sich unsere Ehemänner an der langen Tafel niederließen.

Ein weißer Bilderrahmen, der das Abbild von Emil zeigte, daneben eine kleine Vase mit getrockneten rotweißen Röschen und einen herzförmigen hellgrauen Stein mit der Aufschrift „Emil - Für immer in unseren Herzen“ sowie das eingravierte Geburts- und Sterbedatum, zwischen welchen nicht einmal vier Wochen lagen. Ich stand neben Karina, Seite an Seite und starrte auf den Sims. Es war so, als würde ein Schalter umgelegt werden und in meinem Kopf ein Film ablaufen. Ich blendete die Anwesenheit von meiner Freundin aus, wie auch alles andere um mich herum. Bei dem Anblick des Bildes sah ich nicht Emil, sondern das Ultraschallbild meines Ungeborenen, so wie ich es am Freitag auf dem Monitor der Frauenärztin sah. Ich erschrak. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und ich spürte, wie meine Lippe anfing zu vibrieren. Ich wurde traurig, kurz vorm Weinen. Mein Herz schlug schnell. Bis auf die Worte „Für immer in unseren Herzen“ verschwamm der Schriftzug auf dem Stein vor meinen Augen. Ich fühlte mich so, als stände ich vor unserer eigenen Gedenkstätte. Ich presste meine Lippen fest aufeinander und plusterte meine Nasenlöcher auf. Ich konnte das nicht. Ich konnte einfach nicht mehr hinsehen. Es ergriff mich so sehr. Schnell wandte ich meinen Blick zu Karina. Ihre Augen schimmerten gläsern und in dem Moment wischte sie sich ganz unauffällig eine Träne aus dem Gesicht. Keine einzige Sekunde zögerte ich und nahm sie in den Arm. Stillschweigend. Mitleidend. Ich versuchte ihr Trost zu spenden und mein Mitgefühl zu zeigen. Ein Hauch von Egoismus versprühte meine Handlung, denn so wurde ich selbst getröstet. Unfair meiner Freundin gegenüber, ich weiß. Ich konnte einfach nicht anders. Das brauchten sie und ich auch. Fest hielt ich sie und spürte, wie sie leicht zitterte. Dann vernahm ich ein leises Schluchzen, welches zu einem Weinen überging. Es traf mich so sehr, ihre persönlichen Erinnerungen an Emil zu sehen, ihren Schmerz zu spüren und sie so verletzt und verzweifelt zu erleben, dass ich ebenfalls nicht mehr innehalten konnte und mir ebenfalls die Tränen nur so die Wangen hinunterliefen. Was war nur los mit mir? Unsere Entscheidung stand zu neunundneunzig Prozent und heute Abend definitiv, warum berührte mich ihr Schicksal so sehr? Weil es ein kleines Stück weit Unserem ähnelte! Zumindest der Verlust des Kindes. Bislang konnte ich der ganzen Misere sicher und relativ gefühlsneutral gegenüberstehen und abwägen, aber Karina so zu sehen und ihr Leid zu spüren, das traf mich im Herzen und da ich sie bereits viele Jahre kannte und wir uns vom Charakter sehr ähnelten, wusste ich, dass es mich spätestens nach der Durchführung der Abtreibung genauso umreißen würde. Wie schafften es die Beiden? Was mussten sie durchgemacht haben? Konnte ich diesen Schmerz, der nicht annähernd an dem der beiden herankam, durchhalten und verkraften? Macht dieser einen anderen Menschen aus mir? Einen Deprimierten, Verbitterten, Frustrieten und konnte ich durch mein Umfeld so viel Ablenkung finden, dass mich einst der Schmerz nicht berühren wird? Letzteres kaum vorstellbar. Nicht für mich als Person und schon gar nicht als Mutter. Was war ich nur für ein Mensch, der sich freiwillig gegen das größte Wunder auf der Welt entschied? Ich konnte nicht einmal sagen, meine Handlung sei vernünftig. Weder aus Überzeugung, noch von ganzem Herzen. Matthias hatte unser beider Kummer bemerkt und kam mit zwei Taschentücher in der Hand auf uns zu, welche er uns reichte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Matthias besorgt. Ich denke, eine Antwort war an diesem Ort des Hauses und bei dem Anblick unserer Umarmung überflüssig und dennoch säuselten wir Tränen überflutet zeitgleich „aber ja“ vor uns hin und mussten im gleichen Atemzug lachen. Wir lösten uns und wischten mit dem weißen Zellstoffviereck unsere salzigen Wassertropfen weg. Gut, dass es wasserfeste Wimpernmascaras gibt, sonst hätten unsere Gesichter denen aus einem Gruselfilms geähnelt. Rote und geschwollene Augen und zu guter Letzt schwarze Striche verlaufend von den Augen bis hin zum Kinn. Einen Schönheitspreis konnten wir so nicht gewinnen. Da Karina nicht wusste, warum diese Situation mich so mitnahm, entschuldigte ich mich bei ihr, bevor Fragen aufkamen. „Es tut mir leid. Es ist nur so, wenn ich dich so sehe …“ Bevor ich ausreden konnte, fiel sie mir jedoch ins Wort und bat mich für ihren Gefühlsausbruch um Verzeihung. „Es gibt Tage, da betrachte ich stundenlang das Bild von meinem kleinen Engel und dann gibt es wieder Tage, da, naja, dann holen mich die Erinnerungen ein und dann reißt es mich richtig herum, so wie gerade eben“, stammelte sie vor sich hin. „Weißt Du Conny, es war die schlimmste Zeit in meinem Leben und so froh wie ich bin, dass ich diese überstanden habe, kann und will ich sie nicht vergessen. Diese Verzweiflung gehört zu mir, zu uns, genauso wie Emil immer zu uns gehören wird.“ Etwas Gutes hatte mein derzeitiger Zustand, ich konnte mich gut in Karina hineinversetzen, mit dem nötigen Feingefühl ihr gegenübertreten und nahm ihren Drang wahr, mir von dem Erlebten zu erzählen. So schwer wie es mir fiel, hörte ich ihr stillschweigend zu. Meine Augen musterten ihre traurige Mimik, welche sie arg versuchte, im Zaum zu halten. Karina berichtete von ihrer Verzweiflung, der Hilflosigkeit. „Ich wusste mir keinen Rat, konnte nicht mehr schlafen, hatte Schuldgefühle, verachtete mich und mein Leben, war aggressiv, zornig, verspürte keinerlei Freude. Selbst an John konnte ich mich nicht erfreuen. Ich wollte mein Kind, das lebte, nicht bei mir haben, habe ihn verstoßen, konnte ihn nicht mehr lieben. Mein Leben hatte keinen Sinn mehr und ich zog mich von allen und jeden zurück. Ich selbst veränderte mich. Die Trauer veränderte mich. Meine Gefühle schwankten fast schon im Minutentakt um und ich fiel in ein tiefes Loch. Enge Freunde wussten plötzlich nichts mehr zu sagen oder sie gingen uns bewusst aus dem Weg, wechselten zum Beispiel abrupt die Straßenseite, wenn sie uns sahen, um uns einfach nicht antreffen zu müssen. In der Zeit wollte ich nicht mehr essen, nahm extrem ab, so dass ich kurz davor war, aufgrund der starken Abmagerung in eine Klinik eingewiesen zu werden. Irgendwie schaffte es mein Mann, mich rechtzeitig aufzufangen und allmählich kehrte meine innere Ruhe zurück. Ich fand wieder zu mir selbst, zu meinem Kind und zu Matthias. Zurück in mein Leben.“ Durch diese Hölle will niemand freiwillig gehen und die, die es müssen, müssen einen Weg wieder herausfinden, um nicht unter zu gehen. Ihre Worte schmerzten so sehr, Gänsehaut vor Respekt und gleichzeitigem Mitgefühl überdeckten meinen Körper. Vor meinem geistigen Auge zog ich meinen Hut vor ihnen und verbeugte mich tief. Da dies in der Realität nicht ging, sah ich anfangs Karina verständlich an, musste sie dann aber noch einmal drücken, um ihr zu zeigen, dass ich für sie da war und gleichzeitig von meiner Fassungslosigkeit abzulecken. „Sei nicht so hart zu dir selbst!“, flüsterte ich. „Weißt Du Conny, es war so schön, als wir mit Emil aus dem Krankenhaus entlassen wurden und nach Hause kamen. Unsere Eltern freuten sich und auch Freunde waren da, um uns in Empfang zu nehmen. Ich genoss die Anfangszeit mit meinem Baby und war rund um die Uhr bei ihm. Mir ging es gut, ich blühte auf, war der glücklichste Mensch auf Erden und dann plötzlich, von einer Sekunde auf die Andere wurde unser Glück zerstört. Er wurde mir einfach genommen!“ Wütend und mit erhobener Stimme sprach sie weiter. „Wo ist denn da die Gerechtigkeit?“ Die starke Karina brach zusammen. Sie glitt mir aus meinen Armen und sank auf den Fußboden. Mit der geballten Faust schlug sie wutentbrannt und schmerzerfüllt auf dessen ein. Dabei schrie sie „Wenn es angeblich einen Gott gibt, warum war er dann nicht für uns da und bestrafte uns so sehr? Was haben wir verbrochen?“ Sie stützte die Ellenbogen auf ihren Schoß und hielt die Handfläche vor ihr Gesicht. Sie weinte bitterlich. Wie versteinert stand ich daneben. So voller Schmerz hatte ich sie noch nie erlebt. Sie tat mir so leid und ich konnte nur tatenlos und hilflos zusehen. Ich kniete mich neben ihr auf den Boden und legte meinen Arm als Trost um sie, denn das war das Einzige, was mir einfiel, doch sie schubste mich zur Seite. Sie wehrte mich ab. „Lass mich!“, schrie sie. Eingeschüchtert blickte ich das vor mir sitzende Häufchen Elend an und wusste mir keinen Rat. Entsetzt und zugleich hilfesuchend sah ich zu Matthias, der jedoch nur mit dem Kopf schüttelte und mit einer Handbewegung deutete, ich solle mit am Esstisch Platz nehmen. Unsicher richtete ich mich auf und schlich stumm und nachdenklich zurück an die Kaffeetafel. Wenn jemand so einen Verlust nicht erleben oder den Schmerz spüren muss, kann derjenige zwar gute Ratschläge und Tipps geben, um über das Erlebte hinwegzukommen, sich aber nie so sehr in eine solche emotionale Lage hineinversetzen und mitfühlen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, in welchem auch ich mir dies selbst eingestehen musste. Reden kann jeder und manche auch ganz schlau, aber mitfühlen, das ist eine in Anführungsstrichen „ganz andere Hausnummer“, bei der sich der Trauernde und der Ratschläge Gebende auf einer ganz anderen Ebene treffen. Vielleicht wollte es das Schicksal, dass wir die letzten Jahre nicht zueinander fanden und erst jetzt, wo ich schwanger war und eine schwerwiegende Entscheidung treffen musste beziehungsweise bereits traf, wir zueinanderfanden. Sollte mir der Anblick von Karina zu denken geben? Mich umstimmen? Noch bevor ich mich auf den Stuhl setzte, rettete Florian die Situation und meinte „Es ist bereits halb sechs durch wir müssen langsam den Heimweg antreten.“ „Ihr könnt aber auch gerne bei uns mit zu Abend essen“, unterbreitete Karina sofort das Angebot, als sie sich wieder beruhigt hatte und dabei aufrichtete. Dann trat sie ans Fenster und schaute mit leeren Blick hinaus. Abendbrot, das klang gut, denn meine Übelkeit war passé und ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen erneut breit. Etwas Essen, danach war mir. Bis es soweit war, war jedoch noch etwas Zeit und die beiden brauchten gewiss etwas Ruhe. Florian lenkte ein. „Nein, nein. Wir wollen euch keine Umstände bereiten“, legte er sein Veto ein. Ein anderes Mal gerne, aber so konnte die restliche Dauer unseres Besuchs zu einer Qual werden. Immerhin waren wir gekommen um zu erzählen, Spaß zu haben und zusammen zu lachen. So lange Karina noch am Fenster stand, gaben wir ihr die Zeit der Stille und widmeten unsere Aufmerksamkeit den Jungs. Sie spielten zusammen mit Johns Autorennbahn. Als ich ihnen mitteilte, dass wir bald nach Hause fahren, hielt sich deren Begeisterung in Grenzen und voller Eifer nutzten sie die wenig verbleibenden Minuten zum Spielen. Um die gekippte Stimmung in eine Bessere zu lenken, sprang Matthias von seinem Stuhl auf und lief erneut zum Kühlschrank, gefolgt von unseren Blicken. Es schien seine Lieblingsstrecke im Haus zu sein. Diesmal ließ er die Kühlschranktür geschlossen und starrte an die Seite des großen, weinroten Kühlers, an dem sich ein Familienkalender befand. Er stemmte seine Hände in die Taille und runzelte die Stirn. Ein „mmh“ raute durch den Raum, gefolgt von einem „tja“. Ein mehrmals aufeinander folgendes Kopfnicken später sagte Matthias mürrisch „Also die Wochenenden der nächsten zwei Monate sind bei uns bereits völlig ausgebucht. Wir könnten uns maximal werktags treffen, aber an einigen Tagen sehe ich auch verschiedene Einträge von Vorhaben und Anfang Juni bin ich zwei Wochen lang auswärts auf Montage. Ich denke, das nächste Treffen vereinbaren wir ganz spontan.“ „Das ist doch gar kein Problem. Wir haben uns so lange nicht gesehen, da müssen wir die nächste Verabredung nicht übers Knie brechen.“ „Das stimmt Conny, solange es nicht wieder fünf Jahre dauert.“ Wir drei schauten einander an und mussten wie auf Knopfdruck herzlich lachen. Jetzt gesellte sich auch Karina wieder zu uns und stieg umgehend in das Gelächter mit ein. Geht doch, Stimmung gerettet, Situation aufgelockert! Wir lachten so sehr, dass Karina und mir Freudentränen in die Augen schossen. Warum, das konnten wir nicht sagen, denn so amüsant war der Satz nicht, aber es platzte einfach so aus uns heraus. Der Schmerz sowie die Anspannung entwichen. Erleichterung hielt in unseren Gemütern Einzug. Es tat einfach gut und da brauche ich nicht zu erwähnen, dass sobald sich eine von uns gefangen hatte, wir uns nur einander ansehen mussten und das Gekicher fing von vorne an. Das Spiel ging so lange, bis meine drei Jungs zuerst nur horchten, dann aber zu mir kamen und besorgt fragten „Ist alles gut, Mama?“ Zur Beruhigung nickte ich, lachte und wischte mir die Tränen weg. Dann kniete ich mich zu ihnen und meinte „Mit eurer Mama ist alles gut.“ „Aber Mama, du weinst doch.“ „Ach Simon“, fing ich mich aus meinem Lachkrampf und versuchte meinen Söhnen den Unterschied zwischen den Tränen der Trauer und der der Freude zu erklären. Beide Varianten kamen in der letzten Stunde zum Tragen. Mit großen Kulleraugen und gespitzten Ohren lauschten sie mir gespannt, drehten sich nach Beendigung meiner Ausführung auf dem Absatz um und schenkten unbeeindruckt von dem Gesagten ihre Aufmerksamkeit Johns Autorennbahn. „Mmh, gut“, stammelte ich vor mich hin und sah zu Florian. „Nun sollten wir aber wirklich den Heimweg antreten. Es dauert noch ein Weilchen, bis alle im Auto sitzen und wir zu Hause mit gewaschenen Händen am gedeckten Abendbrottisch sitzen.“ Florian warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr und stimmte mir zu. „Immerhin ist es jetzt schon kurz vor achtzehn Uhr. Ich hole die Kinder.“ Umgehend trommelte er unsere Jungs zusammen und wie bei einem Appel standen sie in einer Reihe zum Jacke und Schuhe anziehen im Vorsaal bereit. Bei diesem Anblick staunten Matthias und Karina nicht schlecht und waren sichtlich beeindruckt, wie die Ansage von Florian befolgt wurde. Ich lachte. „Das funktioniert auch nur beim Papa.“ Ein Fakt. Oft gab es in der Vergangenheit Situationen, in welchen ich den Kindern irgendetwas befahl wie beispielsweise „putz bitte die Zähne“ und meine Jungs die Aufforderung völlig ignorierten. Kaum sprach mein Mann den gleichen Satz aus, fruchtete dies und dem wurde Gehör geschenkt. Selbst wenn Florian die Stimme hob oder lautstark in eine Streitsituation der Kinder ging, beruhigten sie sich sofort. Bei mir fruchtete dies nicht so gut. Egal, ob ich schrie, ganz ruhig und vernünftig mit wenigen Worten die Situation versuchte zu erklären und zu schlichten oder schweigend ein bis zwei der Drei aus dem Streit örtlich trennte, nichts hatte so eine Wirkung und so einen schnellen Erfolg wie eine Ansage von ihrem Papa. Ich nenne es das „männliche Stimme-Phänomen“. Eine andere selbst eingebildete Variante wäre, dass meine Stimmlage einfach zu hoch war und diese nicht in dem Frequenzbereich meiner Drillinge lag. Sie können meine ausgesprochenen Töne einfach nicht wahrnehmen. Dies war nur meine persönliche und ironisch gemeinte „Stimmlagen-Theorie“, die ab und an zum Tragen kam. Wir zogen uns und die Kinder an, verabschiedeten uns höflich und mit einer herzlichen Umarmung. „Bis bald“, riefen sie uns winkend in der Haustür stehend zu, als wir alle angeschnallt im Auto saßen und ich gerade die Beifahrertür schließen wollte. „Auf jeden Fall bis ganz bald und vielen Dank für alles!“, erwiderte ich und ließ die Tür zufallen. Florian startete den Motor und als wir die Einfahrt hinaus zur Straße fuhren, sah ich sie durch die Heckscheibe immer noch stehen und winken. „Das war wirklich ein schöner Nachmittag“, schwärmte ich. Florian hackte nach. „Trotzdem?“ „Ja, trotzdem“, erwiderte ich entschlossen. „Im Übrigen müssen wir uns, wenn die Kinder im Bett sind, noch einmal in Ruhe unterhalten.“ Florian legte seine rechte Hand auf meinen Schoß, lächelte mich an und sagte „Das machen wir.“ Eine Nachfrage bezüglich des Themas war überflüssig. Er wusste genau, was ich meinte.

So kam es dann auch. Kurz nach zwanzig Uhr kehrte im Hause Jakobi Ruhe ein. Die Kinder schlummerten und wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich. Die Flimmerkiste lief als Hintergrundgeräusch- und Bild, das Augenmerk galt jedoch uns und dem Finden beziehungsweise Untermalen des Entschlusses. Im Schnellverfahren durchkauten wir ein letztes Mal alle Für- und Widerpunkte und werteten den heutigen Nachmittag aus.

„Das mag ja alles sein, das war auch von Anfang an mein Gedanke, aber …“ Ich stockte für einen Moment, atmete tief durch und zupfte nervös an dem Zipfel der Sofadecke. „… ach, ich weiß auch nicht. Ich stelle mir immer wieder die Frage, warum jetzt und warum so? Vor einigen Jahren hätten wir und diesen Umstand gewünscht. Nie wären wir auf den Gedanken gekommen, das Baby abzutreiben. Und jetzt haben wir das Glück und werfen es einfach so weg. Hast du gesehen, wie Karina am Boden zerstört war und das im wahrsten Sinne?! Selbst jetzt noch nach den Jahren!“ Alleine bei dem Gedanken daran, übermannte mich eine gehörige Portion Traurigkeit, gepaart mit Unentschlossenheit, was von Florian nicht unbemerkt blieb. Fest nahm er meine Hand in Seine. Dann sah er mir tief in die Augen und meinte „Ich weiß Conny, aber bedenke alles andere. Zum jetzigen Zeitpunkt und mit allen Gegebenheiten ist es das einzig Vernünftige und Richtige und tief im Inneren deines Herzens weißt du das auch.“

Genau das war das Problem. Tief in meinem Herzen versteckten sich Muttergefühle, die versuchten, immer mehr zum Vorschein zu kommen. Natürlich war es die einzig vernünftige Variante, abgesehen von der wohnlichen Begrenzung, das Aufgeben der erst kürzlich gewonnen Freizeit und der ruhigen Nächte, des vermutlichen Verlustes meines Berufes und des erneuten Auftretens des Dauerstresses mit dann insgesamt vier Kindern, malte ich mir dennoch eine Zukunft als sechsköpfige Familie immer und immer wieder aus.

„Sei doch vernünftig. Du musst bedenken, dass wir den langen und steinigen Weg gegangen sind, um überhaupt unsere Kinder zu bekommen. Sie sind gesund und entwickeln sich prächtig. Wir wissen nicht, ob wir mit diesem Baby auch so viel Glück haben.“

Es spielte keine Rolle, welche Argumente Florian vorbrachte und wie pessimistisch er sie beäugte, sie alle stimmten mich nicht entschlossener, sondern trauriger. Dennoch waren sie alle vernünftig und das wusste ich auch. Eine zwiespältige Entscheidung und eine Komplizierte zugleich.

„Wir wissen jetzt, dass du auf natürlichem Wege schwanger werden kannst und wenn die Jungs größer sind und du in deinem Job gefestigt bist, können wir immer noch ein Baby machen.“ So makaber dies klingen mag, dennoch eine realistische Einschätzung und Tatsache, die ich akzeptieren musste. Ein Lichtblick am Horizont und doch nur ein schwacher Trost.

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