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Tag 4 - Praxis

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Vor der Praxis parkte ich ein, holte tief Luft, stieg aus dem Auto aus und lief gezielt zur Eingangstür. Kaum hatte ich diese geöffnet, erblickte mich auch schon Schwester Hilde. Sie begrüßte mich noch einmal persönlich.

„Benötigen Sie noch etwas von mir?“, fragte ich beim Herantreten an den Tresen.

Sie schüttelte den Kopf und meinte „Nein. Falls Sie noch Fragen haben oder sich doch noch um entscheiden, können Sie sich jeder Zeit bei uns melden“, sagte sie und reichte mir zeitgleich den gelben Überweisungsschein. Meine Lippen fest aufeinandergepresst, tief ausatmend und langsam nickend packte ich den Schein vorsichtig mit gesenktem Blick in meine Tasche und verließ in Windeseile die Arztpraxis mit dem Satz „vielen Dank und eine schöne Woche“.

Ganz kühl ließ mich dieser Auftritt soeben nicht, das musste ich zugeben. Für mich würde diese Woche bestimmt nicht ganz so toll werden, wie ich es Hilde wünschte. Doch es half nichts, die Entscheidung stand und nun musste ich alle Konsequenzen durchstehen. Dabei war dies nur der Anfang.

Als ich wieder im Auto saß, zog ich den DIN A5-Zettel aus meiner Tasche hervor und betrachtete diesen intensiv. Viele Informationen befanden sich nicht darauf und dennoch las ich die wenigen Daten immer und immer wieder. „Überweisung an Frauenklinik, Diagnose II Gr., unerw. Grav., 8. SSW, Auftrag: erbitte Interruptio“, stand geschrieben. Kurz und knapp. Dieser gelbe Zettel sollte der Startschuss für die Abtreibung sein, der so zu sagen den Stein ins Rollen brachte. Schwarz auf weiß stand mein Beschluss geschrieben: erbitte Interruptio. Interruptio, ein Wort, welches sich bislang meinem Sprachgebrauch entzog. Das änderte sich ab dem heutigen Tag. Nicht nur das. Wie ich den Überweisungsschein in der Hand hielt, beschloss ich, gleich einen Termin im Krankenhaus zu vereinbaren. Ob ich zehn Minuten eher oder später auf Arbeit käme, spielte bei meinem Luxus der Gleitzeit keine Rolle und da ich in meinem Stahlkäfig ungestört war und nicht belauscht werden konnte, nutzte ich meinen momentanen Enthusiasmus und griff erneut zu meinem Handy. Die Telefonnummer der Frauenklinik im Krankenhaus speicherte ich bei meiner damaligen Geburt meiner Drillinge in meinen Kontakten ab, was mir nun zu Gute kam. Es klingelte ganze sieben Mal, bis sich eine Frauenstimme meldete. Gereizt und gestresst klang sie. War anscheinend nicht ihr bester Tag und das ließ sie mich spüren. Schroff und unfreundlich sprach sie mit mir. Ich kam mir vor, als wäre ich ein kleines dummes Kind, was verängstigt und zitternd vor einer strengen Schuldirektorin sitzt und gezüchtigt wird. Den Blick zum Boden gesenkt, aufgeregt und unsicher die Innensohlen der Schuhe aneinander reibend. Bei jeder Antwort, die ich geben musste, zu hoffen, laut und deutlich genug zu sprechen, damit die Frau Direktorin nicht wütend mit ihrem Zeigestab auf den Tisch schlägt und mich noch mehr einschüchterte. Ja, so kam ich mir vor. Als würde ich alleine mit dem Anruf ein Verbrechen begehen, sie mit meinem Anliegen belästigen und von ihrer Kaffeetrinkpause abhalten. In einem straffen Tonfall lief das Gespräch wie folgt ab: Gelangweilt und kurz vorm Gähnen „Frauenklinik. Frau Sobrovski am Apparat.“ „Guten Morgen, mein Name ist Frau Jakobi.“ Eine Begrüßung kam nicht zurück. Nur ein Schweigen. Kein Wort mehr als nötig reden, lautete anscheinend ihre Devise. „Ich rufe an, weil ich einen Überweisungsschein habe zur Interruptio.“ „Ja, und?“ Mit solch einer interessenlosen Reaktion rechnete ich nicht und stockte eine Sekunde, dann fuhr ich in meinem Text fort, so als hätte der andere am Telefon großes Interesse an meinem Gesagtem und brannte förmlich darauf, mehr Informationen von mir zu erfahren. „Ich soll mich mit Ihnen in Verbindung setzen bezüglich eines Termins für eine Operation.“ „Moment. So einfach geht es nicht. In welcher Schwangerschaftswoche sind Sie?“ „In der siebten Woche plus vier.“ „Mit Tablette oder Ausschabung?“ „Äh“ Nun machte sie mich sprachlos. Woher sollte ich das denn wissen? Ich bin doch kein Arzt! Nur das konnte ich ihr nicht sagen. Bei der Laune von Frau Sobrovski traute ich ihr zu, dass sie einfach den Telefonhörer auflegte. Der nächste Patient wartete bestimmt schon in der Leitung und außerdem musste ich zwingend an der Schreckschraube vorbei, um den Termin zu erhalten. Sehr zu meinem Nachteil. „Naja, wie es möglich ist.“ „Termin bei der Diakonie?“ „Habe ich noch nicht, aber ich denke, diese Woche noch.“ „Kommen Sie nächste Woche Dienstag ins Krankenhaus und bringen Sie alle notwendigen Unterlagen mit.“ „Und dann? Also ich meine, werde ich stationär eingewiesen? Findet der Eingriff an dem Tag statt? Bin ich dann krankgeschrieben? Meine Kinder haben an dem Mittwoch Geburtstag, da kann ich nicht ausfallen.“ Die zickige Frau konnte sogar lachen, denn das machte sie gerade. Ganz hämisch. „Da findet die Voruntersuchung statt. Entweder sie entscheiden sich für die Tablette, da kommen Sie Freitag wieder rein oder für einen operativen Eingriff, für den ein Tag am Dienstag festgelegt wird.“ Wau, ich war verblüfft. Sie konnte ja doch reden! „Am Dienstag, zehn Uhr. Melden Sie sich an der Patientenaufnahme.“ Schon war das Gespräch beendet und sie legte auf. Keine Chance für weitere Fragen. Ich nahm das Telefon vom Ohr und starrte auf das Display. Dabei plusterte ich meine Wangen auf und ließ ganz langsam die Luft durch den Spalt meines Mundes entweichen. „Okay“, sprach ich unglaubwürdig aus. Immerhin hatte ich einen Termin im Krankenhaus. Nächste Woche Dienstag. Heute war Montag. Gut eine Woche sollte ich nun auf die Voruntersuchung warten? Die Entscheidung stand, warum sollte noch so viel Zeit ins Land gehen? Zeit, um mich noch intensiver mit den Qualen auseinanderzusetzen? Dies machte es mir nicht einfacher. „Positiv denken! Es wird schon seinen Grund haben“, sprach ich mir selbst Mut und Motivation zu. Ändern konnte ich es nicht, nur hinnehmen. Der einzige Vorteil war, dass mir so genügend Zeit blieb, den Termin bei der Krankenkasse sowie der Diakonie wahrzunehmen, welche ich ebenfalls erst noch vereinbaren musste. „Am besten gleich jetzt noch. Da habe ich es hinter mir.“ Die entsprechenden Berater warteten vermutlich auch nicht nur auf mich und der Termin musste nunmehr zwangsläufig diese Woche stattfinden. Als erstes rief ich meine Krankenkasse an. Eine ganz nette und aufgeschlossene Männerstimme meldete sich und als ich ihm mein Anliegen schilderte, meinte er „Sie können zu unseren Öffnungszeiten in eine unserer Filialen kommen. Sie benötigen keinen Termin.“ Das Gespräch verlief deutlich besser und räumte mir eine gewisse zeitliche Flexibilität ein. In meinem Organisationswahn war als nächstes die Diakonie an der Reihe. Den Flyer der Frauenärztin trug ich seit Freitag in der Handtasche mit mir, von welchem ich nun die Telefonnummer ablas und eintippte. Ein zartes Stimmchen erklang und meldete sich mit dem Firmennamen und ihren Zunamen. Ergänzt wurde dies mit der Frage „Wie kann ich Ihnen helfen?“. Diesmal wusste ich nicht so recht, wie ich mein Anliegen schildern sollte. Mir fehlten die Worte, denn ihre Einleitung „Das Diakonische Werk, die Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle“ machte mich sprachlos. Erstens überhaupt diese lange Bezeichnung auswendig und fehlerfrei bei jedem Anruf aufzusagen und zweitens das Wort Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle. War das tatsächlich die richtige Telefonnummer, geschweige die richtige Anlaufstelle für mich? Zugegeben stand ich im gewissen Maße im Konflikt mit meiner Schwangerschaft und beraten musste ich mich auch lassen, aber dieses Wort klang mir so fremd. So, wie nicht für mich bestimmt. „Hallo? Hören Sie mich? Wie kann ich Ihnen helfen?“, hackte die immer noch zarte Stimme nach, die Frau Kaiser gehörte. Ob sie mir helfen konnte, kann ich nicht sagen, aber sie konnte mir immerhin zu einem Termin verhelfen. „Entschuldigung … Mein Name ist Conny Jakobi. Ich soll einen Beratungstermin bei Ihnen vereinbaren“, versuchte ich einen Anfang zu finden. „Für einen Schwangerschaftsabbruch?“ „Ja.“ „Einen Moment bitte, ich schaue für Sie im Kalender nach.“ Ich hörte ein Rascheln und ein Knistern und ganz leises Getuschel am anderen Ende der Leitung, bis Frau Kaiser mir „wie passt bei Ihnen diesen Donnerstag, zehn Uhr“ vorschlug. Ich überlegte, aber da ich aufgrund der Zeitbegrenzung keine Wahl hatte, sagte ich diesen Termin zu. „Wann haben Sie den Termin im Krankenhaus?“, wollte sie noch wissen, bevor sie den Eintrag im Kalender vornahm. „Nächste Woche Dienstag“, erwiderte ich. „Gut, das passt. Das schaffen wir noch rechtzeitig.“ Rechtzeitig? Was meinte sie damit? Unwissend fragte ich nach und bekam als Antwort, dass zwischen dem Beratungstermin und dem Aufsuchen des Krankenhauses drei Tage dazwischenliegen mussten. Dies sei gesetzlich so festgelegt, würde mir aber alles noch in dem Beratungstermin erläutert werden. Die Argumentation genügte mir und dann schoss mir aber ein Gedankenblitz. Donnerstag um zehn Uhr, mitten in meiner Arbeitszeit. „Wie viel Zeit muss ich einplanen?“, hackte ich nach. „Etwa eineinhalb Stunden. Ich notiere den Termin und Sie melden sich ein paar Minuten eher an der Anmeldung in der zweiten Etage des Gebäudes. Auf Wiederhören.“ Dann legte sie auf. Eineinhalb Stunden? Was wollte mir Frau Kaiser alles erzählen? Der Entschluss stand, warum plante sie so ein langes Gespräch ein? Eineinhalb Stunden – das sind neunzig Minuten! Die Sekunden will ich erst gar nicht ausrechnen. Ewig lang auf jeden Fall! Zu lange. Für was und warum? Alle Überlegungen brachten nichts. Ich musste die Aussage vorab so dulden. Sie würde schon wissen, warum sie so viel Zeit blockierte. Kopfzerbrechen bereitete mir ebenfalls die Uhrzeit. Ich rechnete im Kopf nach. Für den Termin musste ich von zehn bis elf Uhr dreißig einplanen plus Fahrzeit für die Hin- und Rückfahrt und Suchen eines Parkplatzes. Ich konnte meiner Chefin den Termin als lange Mittagspause verkaufen. Trotz Gleitzeit brauchte ich einen Grund für die lange Abwesenheit, immerhin handelte es sich um fast zwei Stunden. Bis Donnerstag beziehungsweise besser Mittwoch blieb mir noch Zeit, um mir eine plausible Ausrede für meine Vorgesetzte zurecht zu legen. Jetzt galt es aber, für heute relativ pünktlich auf Arbeit zu erscheinen.

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