Читать книгу Märchenaugen - Annette Bethmann - Страница 5
Оглавление1. Verlust
Und nun war er gegangen, einfach so, nach einem Milchcafé und einem Croissant. Der Krankenwagen war gekommen, hatte ihn abgeholt, eigentlich für eine Routinebehandlung. Um ihn ins Krankenhaus zu fahren und die Lunge zu punktieren. Weil sich hier immer wieder Wasser ansammelte, immer wieder, unaufhörlich, wie – ich hörte meinen Wasserhahn in meiner früheren Küche tropfen.
Er hatte gewunken, hatte sie gesagt, es war das erste Mal, dass er, mein Vater, gewunken, und sie angelächelt hatte.
Zwei Stunden später hatte sie uns Kinder angerufen, um uns zu sagen, es sei vorbei. Sie war doch hinterher gefahren, weil sie ein ungutes Gefühl gehabt hatte.
Er war blass und kühl, aber das Zimmer war freundlich und hell gewesen. Meine Geschwister standen hilflos da und sie saß einfach nur auf dem Stuhl neben seinem Bett und hielt seine Hand, als wollte sie ihn nicht gehen lassen, nicht so schnell und nicht einfach so.
Und ich – war ich in der Lage ihn einfach gehen zu lassen?
Mir tat das Herz weh, und ich fühlte mich nutzlos. Nutzlos in meiner grenzenlosen Trauer! Ich stand nur so da und konnte noch nicht einmal mehr meine Tränen aufhalten.
Ab und zu kam eine der Krankenschwestern herein und sah nach dem Rechten. Fragte, ob auch alle Kinder schon da wären, um sich zu verabschieden. Sie hatten die Familie eine Weile auf diesem schweren Weg begleitet. Diesem Weg, der sich irgendwann gabelte und uns hier zurück ließ, während er die andere Richtung eingeschlagen hatte. Ich war fassungslos, schon am Tag der Diagnose, war ich das gewesen. Und hatte tapfer versucht immer wieder stark zu sein und ein Halt – wie ein Felsen in der Brandung, so wie ich dachte, wie ich es mir gewünscht hätte, wäre die Sache umgekehrt gewesen. Das hatte ich ja auch gelernt als älteste von vier Kindern, den Anderen zu zeigen, dass man mit Mut und Stärke alles schaffen konnte. Und hier war nun die Stärke und die Kraft der letzten neun Monate einfach wie in sich zusammengebrochen. Sie war weg, zusammengefallen in sich selbst, wie ein Kartenhaus, sie war verschwunden, einfach so – mit ihm.
Nun mussten wir weiter funktionieren, ohne Panne und Chaos, ohne dass die Gefühle alles durcheinander brachten. Überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit, jetzt Gefühlen wirklich freien Lauf zu lassen. Außer Tränen, mehr preis zugeben.
Gefühle wie Wut und Enttäuschung und Angst.
Gefühle des wo sollte man anfangen und wo weitermachen, konnte man nicht raus lassen, nicht zeigen. Vielleicht gehörte sich das nicht.
Das innerliche Aufräumen. Alle Schubladen im Kopf waren herausgerissen und es war ein Chaos ausgebrochen, dass schlimmer nicht sein konnte. Als hätte man vergeblich etwas gesucht und nicht gefunden. Ein schlechter Krimi, fast wie nach einem Einbruch – so sah es hier aus.
Und dann – dann blieb keine Zeit mehr, er war gegangen.
Kühle Krankenhausatmosphäre hüllte uns ein.
Sie hatte, so glaube ich zumindest, einen Kraftakt hingelegt, sie hatte das ganze Haus aufgeräumt, und Dinge sortiert und weggegeben. Ihre Schubladen waren äußerlich schon in Ordnung gekommen. Nur meine wurden es nicht. Ich bewunderte sie, meine Mutter. Sie weinte aber sie packte einfach an. Ich konnte dann nicht mehr weinen. Meine Schubladen wurden nach hinten verstaut und einfach vergessen.
Es war zu viel anderes zu tun.
Wir zogen um. Bis zu seinem Gehen hatte ich es nicht gekonnt, ich hatte es immer wieder gesagt, allen versichert, auch meinem Mann. Es war nicht möglich gewesen. Ich hätte meinen Vater nicht einfach alleine gelassen, alleine auf diesem letzten Weg. Ich hatte nicht einen Moment daran gezweifelt, dass es falsch gewesen wäre. Und so hatten wir mit dem Umzug gewartet, bis zu dem Moment, an dem es vorbei war. Es war gut einerseits, die Trauer in diese eine Richtung zu lenken. Meine Richtung war die Arbeit. Und dieser Umzug forderte mich. Er forderte mich so stark, dass ich abends ins Bett fiel, ohne überhaupt einen Moment lang Gedanken zugelassen zu haben, die mir nahe kamen.
Ich packte Kartons und räumte Dinge ein, ich organisierte, versorgte die Kinder und hatte keine Zeit, Gefühle zu verarbeiten. Ich hatte mich in Arbeit verschanzt. Und es kam was kommen musste. Nach unserem Umzug war ich erst mal müde und kaputt. Mein Körper tat weh. Es war wie ein Betrachten von außen. Aber niemand sollte hineinschauen können. Und das Chaos der Schubladen in meinem Kopf wiederholte sich um mich herum, in meinem neuen Haus, in meinem neuen noch unbekannten Leben. Also räumte ich auf und kämpfte und kämpfte. Als alles beseitigt war, alles aufgeräumt, war ich auch leer, wie all diese Kartons.
Hatte ich zu viel beseitigt, hatte ich mich selbst auch weggeräumt? Was war passiert? Wo war ich?
Wer war ich?
Außer dem Alltag indem ich mich um meine 4 Kinder zu kümmern hatte, war alles andere verloren gegangen. Als wäre auch der wichtigste Teil von mir mitgegangen.
Die letzten Jahre waren so harmonisch gewesen. Ich hatte versucht, um meine Kinder herum ein Paradies aufzubauen, mit einem Leben auf dem Lande und ohne es zu wissen, hatte ich das Paradies für alle anderen in meiner Familie mit aufgebaut. Sie waren alle da gewesen um zu helfen und mit anzupacken, sie waren alle da gewesen um ihre Liebe und Energie mit hineinzustecken. Auch er hatte das getan, mein Vater, und egal was zu tun gewesen war, nach einem Notruf meinerseits hatte er seine Sachen gepackt und war zu uns rausgefahren um zu helfen. Er hatte mit mir Ställe gebaut und Bienenkästen für mich konstruiert. Er hatte Gitterkäfige für Küken und Rosenbögen geschweißt. Er konnte einfach alles, er war mein Fels in der Brandung gewesen, und nun, nun war er gegangen und mit ihm, mit seinem Tod auch mein Paradies. Diese Hülle, diese Schutzhülle, die ich in meinem Leben um mich und meine Kinder gewebt hatte, hatte einen Riss bekommen, war leer. Ich fühlte mich das erste mal wirklich schutzlos ausgeliefert. Dem harten täglichen Leben ausgeliefert.
Ich weiß noch als Kind hatte ich ihn geliebt, bewundert. Die tausend Dinge, die er konnte, die er mir zeigte und beibrachte. Ich lernte mit einem Hammer und einer Bohrmaschine umzugehen, einen Lötkolben zu benutzen und Geige zu spielen, so wie er.
Dann kam eine Zeit, in der er uns alleine ließ. Da fing ich an ihn zu hassen. Weil all die Liebe meinerseits keinen Halt mehr hatte, keinen Grund. Er war nicht da. Dieser Hass blieb, und war so tief verwurzelt, dass ich nie darüber reden konnte. Aber mit dem Alter, mit meinen Kindern und der Familie, waren die Grenzen weicher geworden. Er war immer für mich da gewesen, er versuchte immer zu helfen. Er hatte seine Richtung wiedergefunden. Und ich fing an ihn wieder zu lieben, für die tausend Dinge, bei denen er half, für seine Geduld, für sein Dasein!
Dann kam die Krankheit, und schlug eine tiefe Wunde. Es war als sei der kleine neue Trieb der Liebe mit einem Mal verletzt, und trieb aber nun zu meiner Verwunderung stärker und stärker und größer und größer, als wolle diese Liebe nun alles, aber auch nur alles Erdenkliche nachholen, was bis zu diesem Moment versäumt worden war und sie wurde zu Kraft und Mut, zu Tapferkeit und Durchhalten, bis zu dem Tag, an dem er ging.
Und nun, war sie weg? Und nun - ich zog mich zurück in mein Schneckenhaus, in das Schweigen. Und legte all mein Vertrauen in meinen Mann. Er schien nun diesen Platz in meinem Herzen einzig und alleine füllen zu können, er schien so stark, so unerschütterlich und er hatte sie gehalten – die Rede, die ich nicht halten konnte. Die Rede, die all das zusammenfassen sollte, die Rede für IHN. Er hatte die goldenen Worte gefunden, die in meinem Herzen standen und die ich in keinem Moment herausbekommen konnte. Und deshalb war ich voll Vertrauen zu ihm. Und auch zu der Entscheidung mit ihm wegzugehen, mit ihm alles zu ändern. Ich hatte das Paradies verlassen, meine Familie aus dieser Umgebung heraus geholt und alle anderen, die ich so liebte, wie meine Geschwister und meine Mutter alleine gelassen, weil ich unfähig war, Worte für all das zu finden. Weil mein Schmerz mich so unfähig machte, zu sprechen.
Und ich flüchtete mich nun in die schützende Obhut meines Mannes, in seine Zukunftsvision von einem besseren Leben, eines neuen Lebens, nach dem Umzug, weil er Karriere machen konnte und das nur hier konnte, weil finanzielle Belastungen uns genommen wären.
Ich flüchtete in seine Ideen, in seine Gedanken, in seine Überzeugungen. Ich war wie besessen von dem Gedanken, dass er nun meine heile Welt bedeutete, dass er alles war, was mir geblieben war. Und ich identifizierte mich jeden Tag mehr und mehr mit seinen Worten, weil es so viel einfacher war, als zu weinen und damit los zulassen.
Ich hatte alles aufgegeben und meinen Schmerz nicht wirklich verarbeitet, und jeden Tag kam er wieder hoch. Die Trauer und die Wut und die Einsamkeit, die ich in dieser neuen Umgebung spürte, wie schmutzige Seifenblasen im Putzeimer. Diese Gefühle waren unausgesprochen, sie wollten mich ersticken und ließen nichts anderes mehr durch. Sie ließen mich nichts mehr fühlen, nichts mehr spüren.
Sie waren immer da und jede Freude und jedes kleine Glück schmeckte nach grauer schmutziger Seife.
Deshalb musste es so kommen, wegen all der Vorwürfe und Streitereien, wegen der grenzenlosen Trauer und Hilflosigkeit. Auch mein letzter Halt brach weg. Es war wie ein letzter Dolchstoß. Mein Mann hatte Affären gehabt mit sicherlich unbedeutenden Personen – aber das schon eine lange Zeit. Er hatte mich nicht gehalten, er hatte mich nicht getragen, er hatte mich zeitweise versucht zu verdrängen oder zu vergessen. Er war nicht dieser Fels gewesen, das Gold seiner Worte hatte zu hell geglänzt und mich geblendet. Und damit, damit war dann alles anders.