Читать книгу Jenseits aller Pfade - Annette Kaiser - Страница 11

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All das, was den Menschen zu sich selbst geführt hat und führt, braucht eine Würdigung. Der ganze Prozess hat bei mir mit vierzehn Jahren begonnen als Begegnung mit dem christlichen Glauben. Man könnte sagen, das ist wie ein erstes Element oder Holon. Ich würde gerne diesen Begriff »Holon« dafür verwenden, Holon, als Teil des Ganzen, vergleichbar auf dieser Ebene zum Beispiel mit einem Atom. Meine Suche ging anschließend weiter und nach vielem Hin und Her kam der innere Weg. Die katholische Kirche verkörperte mehr die äußere Lehre. Sie war für mich nicht das Fahrzeug zur Selbsterkenntnis und zur Gotteserkenntnis.

Das nächste Holon war der innere Weg, den ich durch Frau Tweedie erfahren durfte. Dieses Holon umfängt das andere. Vergleichbar mit dem Molekül, in dem das Atom enthalten ist. Mit der Erfahrung des Nichts-und-Alles ist ein weiteres Holon entstanden, eine weitere Einheit, die wiederum den inneren Weg in sich einschließt. Vergleichbar einem menschlichen Organ, das aus Molekülen und aus Atomen besteht. Das ist das holografische Prinzip.

Und somit ist alles enthalten, alles, was ich in der katholischen Kirche werden durfte, die Werkzeuge und die Erfahrungen des inneren Wegs, die Traumarbeit und nun auch, als nächstes Holon, das Präsentsein.

Es ist nicht einmal Präsentsein, es ist Menschsein. Das ist das Wort, das ich am liebsten verwende. Es ist nicht Mystikerin oder Mystiker. Es ist Menschsein, bewusstes Menschsein.

Nun muss man aber unterscheiden. Es gibt in diesem holografischen »Gebäude« eine gewisse Entwicklung, die darin besteht, dass sich mit jedem Schritt eine weitere Bewusstseinsebene auftut. Und wenn wir diese Wirklichkeit mit der Erfahrung des Nichts-und-Alles erleben, dann sind wir im bis heute weitest möglichen Bewusstsein eingeschwungen. Und da wird das Unterscheidungsvermögen wichtig – welches Bewusstsein auf welcher Ebene wirkt. Es ist nicht so, dass die katholische Kirche mit dem bewussten Menschsein gleichzusetzen wäre. Obwohl die kleinste Einheit »Atom« – wieder bildlich gesprochen – in allem enthalten ist. Das höhere Bewusstsein ist – nicht wertend, nur unterscheidend – höher einzustufen.

Unterscheidung findet statt, bedeutet aber nicht mehr Bewertung, weil der Ausdruck des ES in jeder Form, in jedem Schritt gesehen wird.

Das ist für mich ein Aspekt dieser neuen, nichtdualen Kultur. Weil sie Unterscheidungsvermögen hat, aber nicht beurteilen oder bewerten muss, sondern alles zu seiner Zeit, am richtigen Ort als vollkommenen Ausdruck des EINEN würdigen kann. Die Schritte können im Einzelnen getan werden, sind aber trotzdem eingeschwungen in etwas Größerem, das alle anderen Schritte enthält, aber in einer Abstufung.

Wir haben von unserem geschulten Denken her immer nur von A nach B, von B nach C und von C nach D gedacht. Mit diesem Modell ist es gar nicht möglich, holografisch zu denken, die Dinge an den richtigen Platz zu setzen und der Weite des Himmels und der Erde gerecht zu werden.

Wir brauchen heute Klarheit darüber, wo der Mensch wirklich in Freiheit ist. Wo dieser Schritt in den leeren Raum, in die Stille, in das Nichts, das alles meint, vollzogen wird. Weil das im Moment das weiteste Bewusstsein, das weiteste Holon ist. Ein naturwissenschaftlicher Begriff dafür ist »Nullfeld«.

Man spricht zum Beispiel vom Zenweg, vom Sufiweg, vom Kontemplationsweg – lauter verschiedene Wege. Es wird abgegrenzt und verglichen, was vielleicht auch seinen Sinn hat. Diese Wege aber führen letztlich alle – und das ist ja das Ziel dieser Wege – in das nächst höhere Holon, und da kann man dann nicht mehr vergleichen und abgrenzen. Es gibt die Verschiedenheit der Wege, dessen, wie wir herkommen, aber die Urerfahrung ist das All-Eine.

Ich beobachte, dass bis heute nur ganz wenigen dieser Übergang wirklich bewusst geworden ist, dass da nochmals eine Häutung geschieht, nochmals eine letzte Hülle auf dem spirituellen Weg zu fallen hat.

Auf einem christlichen Kontemplationsweg zum Beispiel verinnerliche ich Jesus oder auf dem Sufiweg, da habe ich den Geliebten als Gegenüber, und da ist eine Beziehung von mir und Jesus oder vom Geliebten und Liebenden. Es gibt aber diesen Moment, wo das alles verschwindet, und zwar komplett. Wo kein Bild mehr da ist, wo es – wie Frau Tweedie gesagt hat – keinen Platz mehr gibt, wohin sich die Füße stellen können. Das ist diese letzte Häutung, das nächst höhere Holon, das Aufgehen im weiteren Bewusstsein. Das ist eine neue Dimension. Dort beginnt eine andere Kultur, eine an dere Sprache. Dort ist kein Definieren mehr über »ich bin ein Sufi«, »ich bin eine christliche Mystikerin«, »ich bin dies oder jenes«. Dort ist das ICH BIN* – und das kann jeder Mensch sagen. ICH BIN – reines Sein.

Das kann auch mit einer sehr großen Erschütterung verbunden sein und bringt die absolute Verantwortung. Es gibt nur noch einen Bezugspunkt und der ist innen, nirgendwo mehr im Außen. Das ist, wie du sagst, Menschsein, ein unglaubliches Erwachsensein.

Es hat zwei Achsen. Einerseits bedeutet es, wie du sagst, vollkommenes Erwachsensein – lebe, folge deinem Licht, das Einssein-Allessein, das die Einzigartigkeit des menschlichen Wesens meint. Und gleichzeitig gibt es in dieser größt möglichen Eigenverantwortung die größt mögliche Entlastung von irgendetwas Eigenem. Und da kommen die beiden Achsen auf eine paradoxe Weise zusammen. Das macht es leicht, alles Vorhergehende kann humorvoll als eine Art kosmischer Witz betrachtet werden. Und in aller Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit gibt es dieses Augenzwinkern, diesen Humor des Daseinstanzes.

Wir lassen wirklich alles hinter uns zurück. Auch das Neue. Dieses spirituelle Identifiziertsein mit einem Weg ist eine große Falle. Das kann eine große, große Falle sein, in der man sich ein neues Konzept, eine neue Lebensorientierung aneignet und darin verhaftet bleibt.

Für mich war es eine große Erschütterung, als plötzlich nichts mehr da war, wohin das Gebet sich richten könnte, und das, nachdem ich mein Leben lang gebetet hatte. Sämtliche Bilder, die mich mein Leben lang begleitet hatten, von einem göttlichen Du, von etwas, das mir hilft, waren verschwunden. Es war nichts mehr da.

In der Tendenz richten wir Gebete ja immer »nach oben«. Und seelisch schwingt man dann gleichsam in diese Richtung. Das Göttliche wird nicht als unten empfunden, sondern als oben, und der innere Blick hebt sich. Wenn diese Dimension der Richtung wegfällt, hast du das Göttliche plötzlich in allen Richtungen. Etwas ist auf den Punkt gekommen. Ein Punkt hat keine Dimension und enthält gleichzeitig alle Dimensionen. Das heißt, alles ist gleichzeitig nirgendwo – und überall. Es gibt tatsächlich keinen Mittelpunkt mehr. Wenn das Ich wegfällt, dann ist da kein Mittelpunkt mehr. Das ist eine zentrale Erfahrung.

Und was das Gebet angeht, ist es ja so, dass wir oft ein inniges Bedürfnis haben, zu beten, und so tun wir es im Wissen um das Nirgendwo-und-Überall. Es steht uns zur Verfügung, aber in einem neuen Bewusstsein. In diesem Bereich können wir durchaus ein wenig spielerisch sein im Sinne von: Alles ist möglich, alles ist erlaubt, und wir sind dessen auch gewahr. Und so wird uns nicht wirklich etwas genommen, es wird uns nur die Anhaftung daran genommen. So dürfen wir damit spielen, wie wir auf dieser Erde SEINEN Tanz tanzen dürfen.

Wenn man dem noch einmal nachschmeckt, dem «diese Richtung nach oben wurde mir entzogen«, dann offenbart sich: stattdessen ist etwas rundherum, innen und außen, nirgends und überall, nicht mehr fixierbar. Ich empfinde das als eine große Bereicherung. Es eröffnet sich nochmals eine weitere Dimension der Transzendenz und Immanenz, wenn dieser Bezug in eine Richtung genommen wird. Das ist Erwachsenwerden, da begegnen wir uns von Mensch zu Mensch.

Stell dir vor, viele Menschen auf dieser Welt begegnen sich auf diese Weise. Das wird die Welt verändern. Einfach über das jeweilige Sein des Menschen. Darum hat Frau Tweedie gesagt: Ein Yogi verändert die Welt über sein Sein. Dieses bewusste So-Sein wird die Begegnung und das Zusammenspiel der Dinge verändern. Dass viele, viele Menschen ihre Herzen, ihren Geist öffnen, ist die wichtigste Arbeit heute. Wie ist eigentlich sekundär, nur dass ist zentral.

Wie weiß man denn, wenn man lange einen Weg gegangen ist, wann man an diesem Punkt des Übergangs ist?

Wenn man an diesem Punkt ist, weiß man es. Das ist so. Vielleicht ist das aber auch schon wieder ein Konzept. Vielleicht ist es nicht ein Punkt oder ein Tor oder eine Schwelle. Ich weiß innerlich nur, dass das Göttliche so frei wie die Luft ist. Das Göttliche und der Mensch sind auf irgendeine Weise – ich kann das nicht erklären, es wird auch immer ein Mysterium bleiben – nicht-zwei. Ich weiß, dass bewusstes Menschsein ganz einfach ist, ganz natürlich, ganz normal.

Auf einem spirituellen Weg gibt es meist eine Zeit lang dieses Höherbewerten des Spirituellen gegenüber dem Alltäglichen. Das ist vielleicht notwendig, um in diese höhere Frequenz einzuschwingen. Aber später wird das wieder abgebaut, sonst bleibt eine Spaltung, ein Steckenbleiben. Sonst ist man wieder etwas Besonderes. Und genau das sind wir nicht!

Heutzutage ist ein Mystiker, der diese Urerfahrung hat, ein ganz normaler Mensch. Die Bilder, die wir von Mystikerinnen haben, sind im Allgemeinen sehr überhöhte Bilder. Wären wir diesen Menschen zu ihren Lebzeiten im Alltag begegnet, wären sie uns sicher nicht als so etwas Besonderes erschienen. Sie waren gewiss außergewöhnliche Menschen, das kann gar nicht anders sein, weil sie Archetypen »gelegt« haben. Aber in der heutigen Zeit ist es wichtig, dass wir ganz normale Menschen sind – göttliche Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen. Das braucht eine Umorientierung. Wir müssen bildlos werden, in unser So-Sein hineinfallen und unsere Einzigartigkeit leben – in einem Selbstverständnis des ganz Normalen, ganz Einfachen.

Der Christ von morgen wird

ein Mystiker sein, einer der etwas

erfahren hat, oder er wird nicht

mehr sein.

Karl Rahner

Wenn wir an diesem Übergang vom Weg zum Weglosen stehen, kann uns auch ein Gefühl der Loyalität binden. Loyalität zu all dem, was wir bekommen haben, zu den Lehrerinnen und Lehrern, die uns genommen und gegeben haben, zu unseren Vorfahren auf dem Pfad …

Weißt du, Frau Tweedie, Bhai Sahib, die großen Lehrer, die großen Lehrerinnen, sind mehr als glücklich, wenn ein Mensch ganz in Freiheit lebt. Sie haben gar kein Interesse, dass der Mensch irgendwo stecken bleibt. Wie sollten sie. Je weiter das Bewusstsein, desto mehr freuen sie sich. Die Loyalität ist eher das Problem des Schülers, nicht des Lehrers. Weil es für die Lehrerin gar kein »Lehrer-Schüler« gibt. Für sie ist nur, dass sich das Bewusstsein seiner selbst bewusst wird. Das ist das Fest. Das ist die Feier des Lebens.

Aber ich verstehe, was du meinst. Und ich verstehe auch, dass man diesen Respekt immer im Herzen bewahrt Und gleichzeitig gehen wir im Bewusstsein unserer Lehrer auf, die in Essenz nichts sind, und damit ist alles aufgehoben. Und ich kann nur sagen, die größte Freude ist, wenn jemand in diesem Bewusstsein, in dieser Freiheit, in dieser Liebe ohne Bedingungen aufgeht. Es ist eine freie Liebe, die einfach ist, aus ihrem So-Sein heraus. Das ist die größte Freude, weil es die höchste Schwingungsfrequenz hat. Und das bedeutet eine Hebung des gesamten Bewusstseins auf der Erde.

Du meinst sicher auch diese tiefe innere Dankbarkeit darüber, dass man so geführt wurde. Wie viel Lebensenergie unserer Lehrerinnen und Lehrer floss doch in uns hinein! Und wie viele Illusionen – so Gott will – wurden uns genommen! Damit jeder von uns in seinem Licht eigenständig, eigenverantwortlich im All-Eins-Sein lebt. Einem großen Lehrer, einer großen Lehrerin wird das die größte Freude machen.

Wir sind geboren und haben ein Recht darauf zu erkennen. Zu erkennen bedeutet nicht Leid, sondern frei sein im So-Sein. Das So-Sein umfasst das Alltägliche, die Verschiedenheit in der Einheit, gekrönt in der Einzigartigkeit des Menschen.

Guruji hat klar darauf hingewiesen: Es gibt nichts als das Nichts. Das ist der zentrale Satz. Ja, wir sind Sufis, Hindus, Christen, Buddhisten, wir sind Männer und Frauen. Natürlich, das schwingt immer mit. Aber wenn wir wirklich auf den Punkt kommen, sind wir Nichts-und-Alles, das heißt, wir sind alles gleichzeitig, Sufis, Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten – oder gar nichts. Der Ozean ist du und ich, Frau Tweedie, alle Mystikerinnen und Mystiker, alle Menschen, auch Stalin, Hitler und Pol Pot.

Es gibt Dinge, die wir nie wirklich zu erfassen vermögen. So viel wir auf der einen Seite auch – anscheinend – ergründen können, das Leben ist immer auch ein Geheimnis.

Wir sind multidimensionale Wesen. Wir dürfen uns nicht durch innere Konzepte, Vorstellungen, Ideale, Loyalitäten be hindern, wenn sich das Bewusstsein weiter ausdehnen will. Natürlich muss man sehr genau hinschauen, ob Anhaftung im Spiel ist oder einfach ein Respekt, der frei lässt. Es sind verschiedene Aspekte, oszillierend manchmal. Und was ist, das ist, und das ist ganz in Ordnung. Das Würdigen, Respekthaben – diese neue Kultur kann das lassen, was ist. Und letztlich ist da niemand, der erfährt, sondern nur ES, das erfährt, und somit ist Erfahren. Es ist Sehen, Hören. Es ist dies oder jenes, es ist einfach Tanz. Wir müssen uns nicht abschotten oder ausgrenzen – ES ist enthalten in diesem großen Einen. Weil es ja nur dieses Eine gibt.

Und auf der anderen Seite braucht es immer beide Achsen, das männliche, aktive Prinzip, das die Ausrichtung hält, und das weibliche Prinzip, das in diesem So-Sein offen und weit ist und das zulassen kann. Die optimale Balance dieser beiden Prinzipien ist nötig. Das spiegelt sich auch in der Urerfahrung von Nichts-Alles wider. Sprachlich ist das gar nicht in einem Punkt erfassbar, aber der Punkt ist.

Und so geht es auch darum, diese verschiedenen Bewusstseinsanteile spielen zu lassen. Das Gewahrsein ist nicht passiv, sondern es ist eine große dynamische Kraft, die einfach ist. Und der Moment des IST ist immer einmalig im jetzigen Moment. Und in diesem IST dürfen alle Farbaspekte tanzen.

Wenn sich dann die Erinnerung einhakt und meint, das ist so oder so, dann fallen wir aus dieser Dynamik, aus der Schöpfung, die in jedem Moment neu ist, heraus.

Jenseits aller Pfade

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