Читать книгу Jenseits aller Pfade - Annette Kaiser - Страница 7

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Natürlich hat das Konsequenzen. Einerseits ist diese Persona, diese Annette Kaiser oder diese Anna Platsch oder dieser Mensch oder jener Mensch, in Essenz nichts, nichts, nichts. Und andererseits ist diese Form von der Leere durchdrungen, von diesem Göttlichen, diesem Einen, diesem Namenlosen. Es leuchtet alles aus dem tiefsten Urgrund dessen, was ist.

Auf der anderen Seite erwächst eine tiefe Ehrfurcht für die Welt, für die ganze Schöpfung – und zwar unterschiedslos. Jeder Vogelgesang, jeder Tautropfen, jeder Windhauch, jedes Ärgernis, jedes Augenpaar eines jeglichen Wesens spricht SEINE Sprache, die namenlos ist.

Und zur gleichen Zeit platzt damit auch eine Blase. So viele Jahre war ich auf den spirituellen Bereich ausgerichtet gewesen und plötzlich war klar: In Essenz gibt es keine spirituellen Wege, obwohl es auf der relativen Ebene Wege gibt, die in das Weglose hineinführen.

Jack Kornfeld* zitiert in seinem Buch Das Tor des Erwachens die Worte des Buddha über die vier Wege: Als kurz und freudig wird der erste charakterisiert. Der zweite als lang und freudig. Der dritte als kurz und leidvoll und der vierte Weg als lang und leidvoll.

Und es gibt noch einen fünften Weg; ein Weg, der gar kein Weg ist, das ist das Hier und Jetzt. Diese Unmittelbarkeit findet statt. Und sie ist etwas ganz Natürliches, ganz Einfaches. Und der ganze Überbau zerfällt zu Staub. Es ist, wie wenn ein Architekt ein großes Gebäude errichten möchte, und seine ganze Lebensenergie fließt in dieses Werk. Eines Tages ist es fertiggestellt. Und dann fällt dieses Gebäude in sich zusammen …

Meine Lebensenergie ist seit meinem vierzehnten Lebensjahr immer in diesen spirituellen Bereich hineingeströmt: Ich habe versucht, auszuloten, zu sehen, wahrzunehmen, ich habe viel gelesen – ich kenne viele Traditionslinien, eigentlich fast weltumspannend – und da kommt nun ein Punkt, wo all das in nichts zerfällt …

Es ist eine große Befreiung. Vom Standpunkt eines Ichs, das sich identifiziert, empfindet man diesen Zerfall als Verlust und Verunsicherung, weil man sich ja im spirituellen Bereich orientiert und auch dortige Konzepte als Orientierung zu Hilfe genommen hat. Für mich war es Freisein. Das Göttliche, das Namenlose, ist für mich etwas, das frei wie die Luft und jedem Menschen unmittelbar zugänglich ist – zu jeder Zeit.

Ich glaube, in jedem wahrhaftigen Pfad ist enthalten, dass wir ihn eines Tages verlassen. Jedenfalls ist es das auf dem Pfad, den Frau Tweedie* uns gelehrt hat.

Der Pfad steht ja im Dienst dieser Urerfahrung. Der Pfad steht im Dienst dessen, dass der Mensch erkennen kann, was er in Essenz ist. Er ermöglicht es dem Menschen, in die Freiheit zu gehen. Das ist der Sinn jedes spirituellen Pfades.

Ich sehe allerdings heute in vielen Bereichen, in vielen Wegen, dass die Menschen teilweise stecken bleiben. Wenn wir 20 Jahre lang Meditation geübt haben, kann es sehr wohl dazu kommen, dass das die neue Orientierung, eine neue Gewohnheit, eine neue Neigung wird, in der sich das kleine Ich wieder zu Hause fühlt. In einer Methode, in einer Vorgehensweise, in Konzepten, in Gemeinschaften. Und das ist nicht das Ziel eines spirituellen Weges. Das Ziel ist, dass der Mensch wirklich frei wird. Da erst strömt die Liebe frei, vollzieht sich in jedem Atemzug, in jedem Atom der Liebesakt: Urgrund und Schöpfung sind innigste Umarmung.

Wir sind frei. Das, was jetzt als neues Bewusstsein bezeichnet wird, ist nicht wirklich neu. Es war schon immer da, wir waren schon immer frei.

Wir sind nicht menschliche Wesen,

die eine göttliche Erfahrung machen.

Wir sind göttliche Wesen,

die eine menschliche Erfahrung machen.

Teilhard de Chardin

Nur: In diesem Bereich, in dem wir uns als göttliche Wesen »erfahren«, da fehlt uns noch die Sprache, da fehlt eine Kultur.

Das ist wirklich Neuland, das langsam von verschiedenen Seiten her angegangen wird. Es fehlt uns das Selbstverständnis im Umgang miteinander. Es gibt nicht mehr nur vereinzelte Mystiker oder Mystikerinnen wie in der Vergangenheit. Die meisten von ihnen haben nicht zur gleichen Zeit gelebt – Theresa von Avilas und Johannes vom Kreuz’ Lebensdaten haben sich überschnitten, aber Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Al Halaj – jeder und jede zu seiner Zeit und an ihrem Ort.

Das Neue ist heute, dass viele Menschen diese Erfahrungen in der gleichen Zeitepoche, in einem gleichen kulturellen Umfeld machen.

Das heißt, dass wir auf der menschlichen Ebene aus einer erweiterten Dimension heraus leben. Daraus entwickelt sich eine neue Kultur des Umgangs miteinander und der Kommunikation. Es bedarf eines grundlegenden «Umdenkens«, wenn du und ich nicht-zwei sind. Wenn Israel und Palästina nichtzwei sind, wenn Christen und Muslime nicht zwei-sind, wenn das Himmlische und das Irdische nicht-zwei sind, dann hat das unglaubliche Konsequenzen.

Wir können uns nicht mehr konkurrierend verhalten oder gegeneinander in den Krieg ziehen, das macht überhaupt keinen Sinn. Wir können nicht mehr die Welt ausbeuten, weil das keinen Sinn macht, wenn Form und Leere nicht-zwei sind. Wenn ich einen anderen Menschen ausbeute, beute ich mich aus. Das ist kein Konzept, sondern das ist tatsächliche Erfahrung, das hat mit Moral nichts zu tun. Auch auf die Begegnung von Menschen und Tieren bezogen bedeutet das eine innere Revolution.

Auf der Ebene der Beziehungen, der »persönliche Beziehungen« in der alten Terminologie, hat die Erfahrung unseres »göttlichen Einsseins« natürlich auch Konsequenzen.

Wir experimentieren hier.

Gut so.

Es ist im Moment wie ein Vortasten in neue Umgangsformen. In der alten Art und Weise lebt man sehr stark aus dem Solarplexus-Bereich heraus. Das hat mit dem Sich-Durchsetzen-Wollen, mit Macht zu tun. Natürlich geht es auch darum, sich selbst wahrzunehmen und sich auszudrücken, aber eben als einzelnes Wesen gegenüber anderen. Es beinhaltet auch das Thema Konkurrenz – wer hat im Streit zum Beispiel die stärkere Kraft, den anderen zu überzeugen, und so weiter, um es in etwas groben Bildern auszudrücken.

Eine weitere Dimension der «neuen Kultur« ist die Herzensebene. Ein wesentliches Charakteristikum auf dieser Ebene ist, dass der Mensch, der in seinem So-Sein ruht, keinen Mangel hat. Er ist aus sich selbst heraus erfüllt. Er selbst ist sich Erfüllung, ohne genau zu wissen, was das ist.

Das Gefühl des Mangels hat etwas damit zu tun, dass man nicht weiß, wer man ist.

Und so befindet sich ein Mensch auf der »alten« Ebene in einem ständigen Mangel und ist fortwährend damit beschäftigt, diesen scheinbaren Mangel abzudecken.

Wenn wir im So-Sein sind, dann müssen wir zunächst einfach mal nichts. In der Begegnung darf jede und jeder einfach sein, und damit entsteht plötzlich ein ganz anderer Raum.

Die »alte« Art des Bewusstseins ist gegenständlich, du bist getrennt von mir, ich beziehe mich auf dich als etwas Gegenständliches. Hier ich und dort die Welt – Subjekt/Objekt.

Wenn ich erfüllt bin, im Sein bin, und du auch – dann ist in uns und um uns offener Raum, der frei schwingen kann. Kein Mangel, keine Angst, keine Erwartung. Das universelle Bewusstsein beginnt scheinbar zu wirken – scheinbar in dem Sinne, dass es von uns jetztwahrgenommen wird. Es war immer hier und ist immer da und wird immer sein. Es ist nichts Neues, aber weil der Mensch heute mehr und mehr die Fähigkeit entwickelt, es wahrzunehmen, gibt es zunächst einmal diesen scheinbar erweiterten Raum.

Das können wir, die wir jetzt hier sitzen, einfach spüren. Da ist zunächst nur Stille. Frieden. Man kann warten, kann lauschen. Aus diesem Raum heraus geschieht eine Begegnung von ganz anderer Qualität. Sie hat etwas Leichtes, sie lässt den anderen in seinem Sein. So kann das Einzigartige des jeweiligen Wesens mehr zum Leuchten kommen, weil da keine Verunsicherung, keine Bedrohung sind.

In einer Konfliktsituation zwischen zwei Menschen geht es also nicht mehr so sehr darum, den Konflikt zu lösen, sondern das Entscheidende ist, in der Situation in diesem universellen Raum zu bleiben, weil sich in dieser anderen Ebene die Lö sungs ansätze für diesen Konflikt zeigen werden. Wenn es ei nen Konflikt gibt und zum Beispiel eine der Beteiligten einfach in diesem universellen Raum bleibt und dann nichts tut – was geschieht dann? Meistens passiert ja in einer Konfliktsituation, dass einer irgendetwas sagt, den anderen verletzt, angreift und so weiter. Und dann hält normalerweise der andere diesen universellen Raum nicht, sondern Zack! wird genau auf diesen Knopf gedrückt, bei dem das Gegenüber hochgeht, und dann gibt’s diesen Schlagabtausch. Wir haben das in persönlichen Beziehungen, wir haben das in Gruppen, wir haben das zwischen Ländern oder verschiedenen Religionen. Es ist eigentlich immer das gleiche Muster und beruht auf gegenständlichem Bewusstsein. Auf dem Bewusstsein von Getrennte-Wesen-Sein.

Jetzt geht es darum, in dieses weitere Bewusstsein, in die Herzenergie einzuschwingen und daraus dann entstehen zu lassen, was entstehen möchte. In diesem Bewusstsein wird der andere als Individuum respektiert und gleichzeitig als das Eine wahrgenommen.

In der heutigen Zeit schwingen relativ gesehen eine Menge Menschen in diese Ebene hinein. Das wird seine Wirkung haben. Weil wir vernetzt sind. Die Welt ist ein Organismus aus einem Bewusstsein. Betrachtet man den Vorgang als eine kritische Masse, bei der dieses Wahrnehmen des universellen Bewusstseins überhand nimmt, dann wird das langsam mehr und mehr weltweit die Geschehnisse prägen. Noch ist das nicht so weit.

Ich denke, es gibt zum Beispiel auch in Israel und Palästina immer mehr Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben. Und das wird im Laufe der Zeit Wirkung zeigen.

Im Moment geht man dort noch nach altem Muster miteinander um – Schlagabtausch um Schlagabtausch.

Gleichzeitig aber gibt es Menschen, ich weiß nicht, ob auch auf den Regierungsebenen, die erahnen, dass wir heute neue Möglichkeiten der Konfliktbewältigung haben. Das wird mehr und mehr einsickern. Diese unglaublichen Verletzungen, diese Menschen und Erde entwürdigenden Mechanismen sind nicht mehr nötig. Und gleichzeitig sind auch sie Ausdruck der einen Vollkommenheit. Dass wir das überhaupt erkennen und dass eine Vielzahl von Menschen mehr und mehr in diese Dimension hineinschwingt, gibt die Möglichkeit, anders miteinander umzugehen. Das braucht aber noch Zeit.

Auch der »Konflikt« zwischen Geist und Materie ist noch nicht gelöst. Die Erfahrung des Einsseins bedeutet, dass Geist und Materie nicht-zwei sind, dass Himmel und Erde nichtzwei sind.

Wenn nun beides, Himmel und Erde, Geist und Materie, nicht-zwei, in Essenz Nichts-und-Alles ist, dann bedeutet das eine fundamental neue Orientierung – innen wie außen –, die den ganzen All-Tag umfasst. Im Kleinen beginnt es mit diesem Körper. Dann, wie ich mit den Pflanzen, den Tieren, den Menschen, der ganzen Welt umgehe. Es gibt nichts Unheiliges. Es gibt nichts Heiliges. Alles ist heilig. Es ist schwierig, hierfür eine Sprache zu finden, weil ich für etwas, das in einen Satz zusammengehört, zwei Sätze machen muss. Sprache vermag immer nur eine Seite auf einmal zu erfassen. Und wenn Himmel und Erde nicht-zwei sind, zeigt sich eine gewisse Sprachlosigkeit, man kann dann nur in Paradoxen sprechen.

Jetzt ist es an der Zeit

zu wissen,

dass alles, was du tust,

heilig ist.

Jetzt ist es an der Zeit zu erkennen,

dass alle deine Vorstellungen von

richtig und falsch

nur Stützräder waren,

die beiseite gelegt werden müssen.

Jetzt ist es für dich Zeit

zu begreifen,

dass es unmöglich

etwas anderes geben kann

als Gnade.

Jetzt ist die richtige Jahreszeit,

um zu erkennen,

dass alles, was du tust,

heilig ist.

Hafis*

Jenseits aller Pfade

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