Читать книгу Eine neue Familie für Marie - Annika Holm - Страница 10
7.
ОглавлениеIrgendwas stimmt hier nicht
Auf dem Bahnhof von Ostersund standen zwei rote Wesen im Schneetreiben. Das kleine Wesen schlang sich um Mathildas Beine und versuchte an ihr hinaufzuklettern. Das andere wollte Mathilda gerade umarmen, ließ es aber, starrte Marie an und sagte:
»Was hat das denn zu bedeuten? Du bist auch mit?«
Weil Mathilda ganz und gar davon in Anspruch genommen war, mit Jesper zu ringen, und weil Marie all die vielen Erklärungen vergessen hatte, die sie sich auf der Zugfahrt zurechtgelegt hatten, bekam Julia keine Antwort. Und weil es einen Augenblick dauerte, bis sie sich durch das Gedränge auf dem Bahnsteig gekämpft hatten, und weil es schwer war, draußen vorm Bahnhof auf dem Glatteis und im Schneetreiben das Gleichgewicht zu halten, wurde nichts mehr gesagt, bis sie angeschnallt in Julias Auto saßen: Julia und Jesper vorn, Marie und Mathilda hinten. Aber dann drehte Julia sich um, guckte sie streng an und sagte, sie werde erst losfahren, wenn sie eine Erklärung bekommen hätte. Sollte das ein Witz sein? Wohin wollte Marie? Denn soviel sie wusste, hatte Marie keine Verwandten oder Bekannten in Östersund.
»Die Mutter deiner Mutter wohnt doch in Kiruna und deine Tante in England, oder?«
»Ja, nein, also, ich meine, doch, da wohnen sie.«
»Und wen willst du hier besuchen? Das geht mich ja eigentlich nichts an, aber so wie ich das verstanden habe, soll ich dich fahren.«
»Hör mal, Julia«, sagte Mathilda, »können wir nicht bei dir zu Hause darüber reden? Bitte!«
Plötzlich sah Julia aus wie die Lehrerin, die sie hier in Östersund tatsächlich war, das heißt, sie sah aus wie eine Lehrerin, wenn ihre Schüler aber auch alles falsch machen. Doch bevor sie auch noch wie eine solche Lehrerin reden konnte, passierten zwei Sachen gleichzeitig. Jesper fing in seinem Kindersitz an zu brüllen und wollte losgeschnallt werden. Und ein aufgebrachter Autofahrer hinter ihnen hupte, weil er vom Parkplatz herunterfahren wollte. Da gab Julia auf und fuhr los, wobei sie erfolglos versuchte, Jesper zu beruhigen. Erst als sie über die Brücke nach Frösön fuhren, schlief er ein und Julia nahm die Chance wahr und kehrte zu ihrer Lehrerinnenrolle zurück.
»Irgendwas stimmt hier nicht, aber da müssen wir wohl drüber reden, wenn wir nach Hause kommen ... Denn ich nehme an, ihr habt beschlossen, dass Marie mit zu uns nach Hause kommt.«
»Du wirst alles erfahren«, sagte Mathilda und klopfte ihrer großen Schwester auf den Rücken, »wenn wir ankommen. Das verspreche ich, nicht, Marie?«
»Klar«, sagte Marie, wusste jedoch nicht, was Mathilda damit meinte. Julia musste nicht alles erfahren. Eigentlich brauchte sie gar nichts zu erfahren. Wenn Mathilda ihre beste Freundin mit in die Osterferien nahm, war daran doch nichts Besonderes? Nichts, weswegen man Ärger machen und eine Erklärung verlangen müsste. Das einzige Problem war, dass die arme Freundin kein Geld für die Rückreise hatte. Aber das würde sich auch noch irgendwie klären. Vielleicht konnte sie in ein paar Tagen Arne anrufen und ihn fragen, ob er ihr was lieh. Oder Helena? Vielleicht hatte Mathilda Geld? Wohl kaum. Oder sollte sie so tun, als brauchte sie neue Hosen, und vielleicht konnte Julia das Geld dafür auslegen?
Der Schnee fiel so dicht, dass sie nicht sehen konnte, wo sie fuhren, aber sie hatte das Gefühl, als würde es bergauf gehen. Das Auto musste sich anstrengen und kämpfte sich immer steilere Straßen hinauf, manchmal hörte es sich an, als ob es die Steigung nicht mehr schaffen würde.
»Keine Sorge«, sagte Julia, »das Auto packt das schon, auch wenn es nicht so klingt. Gleich sind wir da.«
Sie ließ die beiden in Frieden, während sie vom Auto durch den Schnee zur Tür stapften, während sie sich Jacken und Schuhe auszogen, während sie sich selbst und den halb schlafenden Jesper auszog und ihn ins Bett steckte, während sie eine Schüssel Lasagne aufwärmte und einen weiteren Teller auf den Tisch stellte.
Aber dann war die Frist abgelaufen.
»Jetzt will ich es wissen«, sagte sie und setzte sich.
Und Marie begriff zu ihrer eigenen Verwunderung, dass sie es erzählen musste. Das tat sie also. Sie erzählte mehr, als sie sich vorgenommen hatte, und sie erzählte alles selber. Mathilda brauchte nicht einzuspringen. Julia hörte nachdenklich zu, ohne sie zu unterbrechen. Erst als Marie fertig war, sagte sie etwas.
»Dein Papa muss wissen, wo du bist, das ist schon mal klar.«
»Auf keinen Fall«, sagte Marie, »dann war doch alles ganz umsonst.«
Julia lächelte ein wenig und schüttelte den Kopf.
»Es war kein bisschen umsonst. Was meinst du, wie er sich jetzt fühlt? Es ist schon ein ganzer Tag vergangen und du hast keinen Zettel hinterlassen.«
»Vielleicht ist er noch nicht mal zu Hause.«
»Dann geschieht es ihm also nur recht!«, schrien Mathilda und Marie im Chor.
Julia stand auf und nahm die Lasagne aus dem Ofen, und während sie sie auf den Tisch stellte, reimte sie sich dasselbe zusammen, was Marie sich schon mehrere Male in ihrer Fantasie zusammengereimt hatte.
»Wenn er nach Hause kommt und merkt, dass du nicht da bist, ruft er natürlich unsere Mutter an. Dann erfährt sie, dass du nicht zu Hause bist und ruft hier an um zu hören, ob Mathilda angekommen ist ...«
Tatsächlich klingelte in diesem Moment das Telefon. Mathilda reagierte blitzschnell und stürzte an den Apparat.
»Hallo! Ja, ich bin angekommen. Ja, alles hat gut geklappt. Julia und Jesper haben mich abgeholt. Klar, hier ist es wunderbar, aber so richtig hab ich noch nichts gesehen, es schneit so sehr. Natürlich, drinnen ist es gemütlich. Wir wollen gerade essen ... Wir müssen nur noch warten, bis Julia aus dem Waschkeller kommt. Klar, ich werde sie grüßen, aber du, das Gespräch wird sehr teuer, wenn wir so lange reden. Küsschen. Grüß Papa.«
»Bist du verrückt!«, rief Julia und wollte ihr den Hörer wegreißen, aber Mathilda schubste sie weg.
»Bitte, bitte, warte doch mal! Verstehst du denn nicht ...!«
Aber das wollte Julia nicht. Sie sagte, Marie täte ihr wirklich Leid, und ihren Papa fand sie vergesslich und vielleicht sogar nicht besonders nett, aber bewusst abzuhauen und ihm Sorgen machen zu wollen ...
Ungefähr in dem Augenblick kam Julias Mann Nisse nach Hause, und sonderbarerweise hörte Julia auf zu lamentieren. Unvermittelt sagte sie, jetzt müssten sie aber endlich essen, und während sie ihnen das Essen servierte, erklärte sie Nisse, dass Mathilda ihre beste Freundin für ein paar Tage mitgebracht hätte.
»Was für ein Glück, dass wir noch eine zweite Matratze haben, zwar kein Bett, aber das wird schon gehen, Marie, was meinst du? Du schläfst auf dem Fußboden und wir nehmen Jesper zu uns. Dann könnt ihr sein Zimmer umräumen, wie ihr wollt.«
Nisse schien es überhaupt nicht merkwürdig zu finden, dass Marie mitgekommen war. Er redete von lauter tollen Sachen, die sie unternehmen könnten, von dem Slalomhügel in der Nähe, ob er ihnen genügte oder ob sie zu einem größeren gebracht werden wollten. Dann fiel ihm das Computerspiel ein, das sie zu Weihnachten bekommen und noch nicht ein einziges Mal ausprobiert hätten. Jetzt könnten sie es vielleicht zu viert spielen, vorausgesetzt natürlich, dass Jesper schlief.
Die Lasagne schmeckte unheimlich gut und zum Nachtisch gab es Obstsalat aus Kiwis und Bananen und zum ersten Mal an diesem langen Tag fühlte Marie sich fast wohl. Sie hatte fast vergessen, warum sie an diesem fremden Küchentisch saß, als das Telefon wieder klingelte.
»Ich geh ran!«, brüllte Mathilda, als ob sie hier zu Hause wäre, und nachdem sie sich gemeldet hatte, nahm sie das Telefon mit ins Bad und schloss die Tür hinter sich.
Weder Julia noch Nisse schienen sonderlich erstaunt, sie kicherten ein bisschen und Julia fragte Marie, ob Mathilda einen Freund hätte, weil sie sich so geheimnisvoll aufführe.
»Nicht, soviel ich ...«, fing Marie an, überlegte es sich aber schnell anders. »Jedenfalls keinen, über den man reden darf, es ist noch irgendwie ...«
»Frisch?«, schlug Julia vor und Marie nickte dankbar.
»Genau, davon weiß noch kaum jemand was. Sag bloß nichts!«
»Nee, nee«, sagte Julia lächelnd, »versprochen. Hoffentlich ist er ein netter Junge.«
Mathilda sagte nichts, als sie aus dem Bad kam, und es fragte auch niemand. Julia und Nisse schleppten Matratzen, Laken, Kissen und Jesper herum und Mathilda aß den Rest von ihrem Obstsalat, während Marie nach ihrer Zahnbürste suchte. Und erst als sie auf ihren Matratzen zwischen Spielzeug und Kuscheltieren auf dem Fußboden lagen, war der Moment für die Erklärung gekommen:
»Das war natürlich Mama. Sie macht sich wahnsinnige Sorgen. Runo hat angerufen, und weißt du was, er hat geweint! Mama wollte von mir Tipps haben, wo du sein könntest. Runo hat schon bei der Polizei angerufen. Du bist tatsächlich schon vermisst gemeldet.«
»Vermisst!«
»Ja, morgen veröffentlichen sie ein Bild von dir mit einer genauen Beschreibung.«
»Hilfe, kommt das im Radio, was meinst du?«
»Ich weiß nicht, davon hat sie nichts gesagt. Vielleicht im Lokalsender.«
»Aber den kann man hier oben nicht hören, oder?«
»Natürlich. Still!«
Die Tür wurde geöffnet und Julia steckte den Kopf herein.
»Morgen früh ruf ich Mama an, dass ihr es nur wisst. Jedenfalls hast du es jetzt geschafft, Marie, dass sich dein armer Papa heute Nacht quält. Gute Nacht, schlaft gut!«
Im Halbschlaf hörte Marie Mathildas Stimme:
»Bist du sehr traurig?«
»Traurig? Jaa, vielleicht. Jaa.«
»Und ich bin böse! Aber jetzt schlafen wir.«