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4.

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Warum bist du hier?

Sie wartete noch eine Weile, ehe sie nach Mathilda suchte. Und als sie dann den braunen Haarschopf an einem Fenster entdeckte, blieb sie zögernd stehen. Plötzlich war sie unsicher. Wie sollte sie es erklären?

Jemand saß neben ihr, ein junger Mann, er redete in sein Handy und vor sich auf dem Tischchen hatte er einen Laptop. Über ihn hinweg konnte man sich nicht unterhalten.

»Psst! Hallo!«, flüsterte sie, aber Mathilda las in einem Buch und hörte nichts.

»Entschuldigung.« Marie räusperte sich und beugte sich über den Laptop, so dass sie Mathilda am Ärmel berühren konnte.

Mathilda sah auf, schlug ihr Buch zu, steckte es in die Tasche des Vordersitzes, erhob sich, sagte ebenfalls »Entschuldigung«, stieg über die Beine des Mannes hinweg und zwängte sich an seinem Laptop vorbei hinaus in den Gang.

»Mama hat erzählt, sie hat dich auf dem Bahnhof getroffen und ich hab null kapiert. Warum hast du gesagt, dass du zu deiner Großmutter wolltest? Du gehst doch heute Abend mit Arne ins Kino! Warum bist du hier?«

»Ich weiß«, sagte Marie seufzend. »Ich hab ein bisschen gelogen. Aber alles ging so schnell, ich hatte solche Angst, sie würde mich daran hindern.«

»Woran?«

»Wegzufahren.«

»Wohin?«

»Nach Östersund natürlich.«

»Aber ich fahr doch nach Östersund.«

»Genau deswegen.«

»Ich kapier überhaupt nichts.«

»Ich auch nicht.«

»Und Arne?«

»Er wird es verstehen. Aber er weiß es noch nicht.«

»Und Geld? Hast du eine ...«

»Klar hab ich eine Fahrkarte. Ich sitz im letzten Wagen.«

Marie sah Mathilda an und Mathilda starrte Marie an und Marie dachte: Ich hab mich getäuscht. Nicht einmal sie wird es verstehen.

Sie drehte sich um und ging. Mathilda wartete ein paar Sekunden, dann folgte sie ihr. Durch drei Wagen gingen sie in fünfzehn Meter Abstand. Als Marie sich auf ihren Platz gesetzt hatte, setzte sich Mathilda neben sie.

»Erzähl!«, sagte sie.

Marie dachte nach. Wo sollte sie anfangen?

Mathilda wusste ja nichts von den einsamen Nächten, wenn Runo nicht nach Hause kam. Sie wusste nicht, wie das war, Abend für Abend allein in der Wohnung zu sein. Wie es war, sich in das Bett von Mama zu legen und zu warten, und dann kam Papa nicht. Wie es war, unter der Decke zu liegen und an eine Mama zu denken, die es nicht mehr gab. Und dann einzuschlafen und aufzuwachen und zu denken, dass ihm was passiert sein könnte. Warum sonst war er um zwei noch nicht zu Hause? Wenn er doch um sechs schon zur Arbeit musste? Nachts passieren die merkwürdigsten Sachen. Überfälle, Raub, Mord und Verkehrsunfälle, Leute werden auf U-Bahn-Gleise gestoßen, Explosionen und Entführungen, manche verlaufen sich und ...

Davon hatte sie niemandem etwas erzählt, nicht mal Mathilda. Sie hatte sich nicht getraut. Vielleicht hatte sie geglaubt, Mathilda würde es ihrer Mama erzählen, und dann würde ihre Mama es der Lehrerin erzählen, und dann würde die Lehrerin etwas machen, dass Runo ... Nein, sie wusste nicht, was sie gedacht hatte. Sie wusste nur, dass sie es niemandem erzählt hatte.

Vielleicht war das dumm gewesen. Jetzt versuchte sie es also und Mathilda hörte zu, ohne etwas zu sagen. Es war förmlich zu spüren, dass sie zuhörte, und manchmal war an ihrem Luftholen zu hören, wie erstaunt sie war.

Als der Zug in Uppsala hielt, war Marie noch nicht einmal bei dem Schrecken von heute Morgen angekommen. Sie hatte von anderen Morgen im letzten Winter erzählt, was das für ein Gefühl gewesen war, wenn sie in die Schule musste, ohne zu wissen, wo Runo war – und natürlich auch ohne Frühstück. Wie es war, fröhlich auszusehen und so tun zu müssen, als ob nichts passiert war, obwohl sie Bauchschmerzen hatte und nur eins denken konnte: Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist und er nie mehr nach Hause kommt. Wie sie sich das Denken verboten hatte und es schließlich auch ganz gut funktionierte, nach einigen Malen.

Doch es wurde immer Abend und dann kam Runo mit all seinen Erklärungen. Er erklärte es jedes Mal ganz genau und vielleicht stimmte es ja auch, aber was machte das für einen Unterschied? Er hatte einen Freund besucht, und dann war er so müde geworden, dass er eingeschlafen war. Und niemand hatte ihn geweckt, dummerweise. Oder er hatte ein Taxi anrufen wollen, aber leider hatte sein Freund die Telefonrechnung nicht bezahlt, also konnte er nicht anrufen. Oder ...

Um all die Entschuldigungen und Erklärungen abzubrechen, die Runo hervorsprudelte, sagte sie meistens: »Es macht doch nichts, dass du nicht gekommen bist, ich hab ja die ganze Nacht geschlafen.« Oder: »Ich war sowieso den ganzen Tag in der Schule.« Sie strengte sich an, fröhlich auszusehen, denn sie wusste, dass ein Papa wie Runo es so haben wollte. Seine Tochter sollte fröhlich sein. Und dann versprach er, dass es nie wieder vorkommen würde, und anfangs hatte sie ihm geglaubt.

Aber jetzt war es sechsmal passiert, dass er nachts nicht nach Hause gekommen war, und jetzt glaubte sie seinen Erklärungen und auch seinen Versprechungen nicht mehr. Sie hatte nicht mal mehr die Kraft, ihm zuzuhören. Und falls er jetzt zurückkommen würde – okay, unnötig zu übertreiben: wenn er jetzt zurückkommt –, dann ist sie nicht da. Sie hat ihm keinen Zettel hingelegt und sie wird ihn auch nicht anrufen. Sie macht es jetzt genau wie er!

Eine neue Familie für Marie

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