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ОглавлениеMarie Månsson bekommt einen Brief
Der Schaft ist ein wenig schwarz geworden und flusig von dem rosafarbenen Flaum, in den er gebettet war. Aber sonst ist er ganz intakt, kein bisschen beschädigt auf dem Postweg von Stockholm nach Göteborg.
Marie wischt die Flusen ab und reibt den Hals mit dem Pulloverärmel blank, hält den kleinen Kontrabass hoch und betrachtet ihn genau. Doch, es ist alles noch dran, vier Saiten, die kleinen Wirbel und der eingerollte Hals. Er ist noch genauso schön wie damals, als er ganz neu war – vor langer, langer Zeit. Vor sehr langer Zeit.
Neben ihr auf dem Bett liegt der Brief von Mathilda zwischen all dem Plastik, der Watte und der Pappe, die den Kontrabass geschützt haben. Sie nimmt den Brief und liest ihn noch einmal.
Weißt du, wo der war?
In Jespers gelbem Laster in Östersund. Im Fahrerhaus. Dort hat er also ein ganzes Jahr gelegen, seit Ostern. Damals haben wir auf dem Fußboden in seinem Zimmer geschlafen. Erinnerst du dich noch?
Was für eine Frage! Natürlich erinnert sie sich, dass sie und Mathilda Ostern in Östersund waren. Wie sollte sie diese Reise vergessen können. Es war ja gerade diese Reise, die ihr ganzes Leben verändert hat. Das wusste sie damals natürlich noch nicht.
Sie erinnert sich allerdings nicht daran, dass sie dort damals ihren silbernen Kontrabass verloren hat. Ist ihr überhaupt aufgefallen, dass sie ihn verloren hat?
Sie steht auf und geht zum Bücherregal, öffnet die grüne runde Schachtel, in der sie besondere Erinnerungen aufbewahrt. Dort liegt das Armband mit dem Herz, das Arne ihr geschenkt hat, und die Friedenstaube, die sie und Mama in England gekauft haben. Und da ist auch noch das Häkchen, an dem der Kontrabass hing. Den hat sie von Runo zu jenem schrecklichen Weihnachtsfest bekommen.
Das erste Weihnachten ohne Mama.
Sie betrachtet den Kontrabass noch einmal. Will sie den eigentlich an ihrem Armband haben? Sie weiß es nicht, hakt ihn aber erst mal fest.
Als sie ihn bekam, hat sie sich gefreut, daran kann sie sich deutlich erinnern. Weihnachten vor etwas mehr als einem Jahr war sie traurig gewesen und trotz allem nicht nur traurig. Damals wohnte sie noch in Stockholm, Mathilda, Arne, Helena und Achim waren noch ihre Freunde und sie hatte gerade erfahren, dass Runo es sich anders überlegt hatte. Sie sollte nicht zu ihm, dem fast unbekannten Papa, in die fast unbekannte Stadt Göteborg ziehen. Er wollte bei ihr in Stockholm wohnen. Wenn sie auch keine Mama mehr hatte, sollte sie einen Papa bekommen, und sie sollte dort mit ihm leben, wo ihr alles vertraut war.
Er war mit dem letzten Zug aus Göteborg gekommen und noch mitten in der Nacht vor Heiligabend war sie zu Mathilda gelaufen und hatte ihr die wunderbare Neuigkeit erzählt. Dann hatten sie einen langen Spaziergang zum See gemacht, Runo und sie. Papa und sie.
Sie hatten über alles gesprochen, warum Sunniva sterben musste und wie es war, wenn man so bodenlos traurig war, dass einem überhaupt nichts mehr Spaß machte.
Sie hatte die meiste Zeit geredet. Runo hatte nicht viel gesagt, aber was er sagte, war jedenfalls richtig – oder wie sollte sie das beschreiben? Es war ehrlich gewesen. Er schien ihr genau zuzuhören und genau darüber nachzudenken, was sie sagte, und versuchte es zu verstehen. Auf dem Rückweg hatten sie über andere Sachen geredet, wie es werden würde – falls er einen Job in Stockholm bekam. Wer abwaschen und wer einkaufen sollte und wie sie sich ernähren wollten.
Es war schön und traurig gewesen, und so war es an jenem Heiligabend auch zu Hause bei Großmutter, schön und traurig zugleich.
Traurig war es, weil Mama nicht mehr da war und nie mehr wiederkommen würde. Schön, weil ... ja, schwer zu sagen. Weil sie drei dasaßen und einander gern hatten: Großmutter, Papa und sie.
Als sie den kleinen Kontrabass auswickelte und die Lichter vom Tannenbaum sich darin spiegelten, war es nur schön gewesen. Noch nie hatte sie so etwas Hübsches geschenkt bekommen, etwas, das nur für sie gemacht war.
»Ich hab einen Kurs im Silberschmieden gemacht«, hatte Runo gesagt. Großmutter hatte ganz erstaunt geguckt und dann hatten alle drei gelacht.
»Redest du von meinem Sohn?«, hatte sie mitten im Lachen gefragt und dann hatten sie noch mehr gelacht.
Aber es stimmte, er war den ganzen Herbst über bei einem richtigen Silberschmied in die Lehre gegangen und der kleine Kontrabass glich dem Kontrabass in ihrem Zimmer bis ins letzte Detail.
Seitdem hatte sie das Armband mit dem Kontrabass immer getragen, aber sie konnte sich nicht erinnern, ob sie überhaupt bemerkt hatte, dass er verschwunden war.
Es gab so viel anderes zu entdecken.
Der Kontrabass hätte ruhig in Östersund im Fahrerhaus von einem alten Spielzeugauto liegen bleiben können. Weg damit, weg mit dem ganzen Armband, in die Schachtel damit ... Weg mit diesem schrecklichen Morgen, an dem sie entdeckte, dass ...
Der erste Morgen in den Osterferien. Vor einem Jahr, als sie noch in Stockholm wohnte.
Sie will sich nicht erinnern, aber die Erinnerung ist stärker als ihr Wille.