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6.

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Was sollen wir Julia sagen?

Aber vielleicht hat er auch nichts von all dem gedacht. Vielleicht hat er noch nicht mal gemerkt, dass sie weg ist. Als sie wieder aufwachte und auf die Uhr guckte, war es gerade erst halb fünf. Vielleicht war er noch nicht mal zu Hause.

Sie schnappte sich die Illustrierte, die aus Mathildas Rucksack ragte, und blätterte darin. Aber nichts war interessant, nicht mal ihr Horoskop war sehr ermunternd:

Du hast Probleme mit deinen Nächsten. Achte auf deine Launen, die sich negativ auf den Menschen auswirken können, den du am liebsten hast. Lächle und mach dich unentbehrlich. In der Liebe herrscht Stillstand, aber du musst deshalb nicht verzweifeln. Jemand wartet auf dich, auch wenn du noch keine Ahnung hast, wer es ist.

»Scheiße!«, fauchte sie und ließ die Illustrierte auf den Boden fallen. Alles nur ein Scheiß.

Mathilda streckte tröstend einen Arm aus.

»Du Arme! Ich versteh dich wirklich.«

Marie drehte den Kopf und sah Mathilda an. Wirkich? Verstand sie sie wirklich? Wahrscheinlich nicht. Sie kann doch nicht wissen, wie das ist, einen Papa wie Runo zu haben, dem alles egal ist, und eine Mama wie Sunniva, der ihr Kind so egal ist, dass sie einfach stirbt. Ohne vorher etwas zu erzählen. Legt sich hin und stirbt. Kommt nie mehr wieder.

So was konnte doch jemand wie Mathilda nicht verstehen, die jahrein, jahraus dieselbe Mama und denselben Papa gehabt hat. Ihre Eltern würden nie auf die Idee kommen, einfach abzuhauen. Sie waren immer da. Und waren sie ausnahmsweise einmal nicht da – wenn ihre Mama zum Beispiel ihren Papa, der über eine Olympiade oder ein Fußballspiel berichten sollte, auf einer Reise begleitete –, dann hatte sie Julia. Mathilda konnte sich natürlich kein bisschen vorstellen, wie es war, weder Eltern noch eine große Schwester zu haben. Sie schien nicht mal besonders dankbar zu sein für die Familie, die sie hatte, schien im Gegenteil alles für selbstverständlich zu halten, was sie hatte: Mama und Papa, eine Katze und eine große Schwester, den Mann der großen Schwester und das Kind der großen Schwester. Wirklich eine Menge Leute.

Irgendein ärgerlich dicker Kloß saß in ihrem Hals, Marie schluckte heftig und stieß Mathildas Hand von ihrem Knie.

»Du kapierst null, null, null.«

Sie sprang auf und drängte sich durch den Mittelgang. Als sie schon den halben Wagen durchquert hatte, hörte sie Mathilda rufen:

»Ich finde trotzdem, dass er ein Scheißkerl ist.«

Aha, das fand sie also. Manche Leute sind wirklich sehr unbeständig, milde ausgedrückt. Marie kehrte um, setzte sich wieder auf ihren Platz und starrte Mathilda an.

»Mein Papa geht dich nichts an. Der geht bloß mich was an.«

Dann war es still. Was sollten sie sagen? Es gab nichts zu sagen, das nicht alles noch schlimmer machen würde. Der Zug brauste vorwärts, die Dämmerung wurde dichter. Marie tat so, als ob sie schliefe. Hin und wieder schielte sie zu Mathilda und sah, dass die zwar die Seite mit dem Horoskop aufgeschlagen hielt, aber nicht umblätterte. Las sie etwa die Horoskope für alle Sternzeichen?

Vorsichtig zog Marie am unteren Rand der Zeitschrift. Mathilda zuckte zusammen und sah Marie gerade in die Augen.

»Was soll das?«

»Sei nicht böse.«

»Ich bin nicht böse«, sagte Mathilda und sah nur ein bisschen böse aus. Marie war erleichtert.

»Entschuldigung«, fügte sie sicherheitshalber hinzu.

»Och«, sagte Mathilda und klappte die Illustrierte zu. »Vergiss es. Aber was sollen wir Julia sagen? In einer guten Stunde sind wir da.«

»Nichts, kein Wort!«

»Aber irgendwas müssen wir ihr doch erzählen.«

»Können wir nicht einfach sagen, dass ich wahnsinnige Lust hatte mitzukommen? Nein, jetzt weiß ich. Du hast Angst vorm Zugfahren. Du kannst nicht allein Zug fahren, weil du solche Angst hast.«

»Und das ist mir erst eingefallen, als ich in den Zug steigen wollte? Und da hast du zufällig neben mir gestanden? Mit Fahrkarte und allem?«

»Ja, clever, nicht?«

Mathilda sah nicht überzeugt aus. Aber nach einer Weile fing sie an zu kichern.

»So was hat einen Namen, wenn man vor irgendwas Besonderem Angst hat. Vor Fahrstühlen zum Beispiel. Wenn man sich nicht traut, mit dem Fahrstuhl zu fahren, nennt man das Klaustrophobie oder so ähnlich. Jedenfalls irgendwas mit ... phobie. Hallo, Schwester, du weißt doch, meine Zugphobie. Was für ein Glück, dass Marie einspringen konnte, da hab ich mich dann doch getraut einzusteigen.«

»Hab ich selbstverständlich gern getan. Sie ist doch meine beste Freundin.«

»Schade bloß, dass wir vergessen haben dir zu sagen, dass Marie mitkommt. Aber ich hab glatt vergessen, dass ich eine Zugphobie habe.«

Während der letzten Stunde waren sie nur albern und spielten Karten und dachten nicht einen einzigen unangenehmen Gedanken. Aber vorher ging Marie in den Restaurantwagen und gab die dreiundneunzig Kronen aus, die sie in der Tasche hatte. Das Geld reichte gerade für ein Mitbringsel für Jesper und für Daim und für das Kartenspiel.

Eine neue Familie für Marie

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