Читать книгу Eine neue Familie für Marie - Annika Holm - Страница 8
5.
ОглавлениеMan sollte ihn anzeigen!
Mathilda sah wirklich nicht aus, als ob sie glaubte, was sie gehört hatte. Lange, nachdem Marie aufgehört hatte zu reden, sagte sie gar nichts. Und dann kam nur ein Flüstern:
»Das kann nicht wahr sein.«
Genau so hatte sie sich das vorgestellt. Niemand würde ihr glauben. Vielleicht hatte sie deswegen nichts sagen wollen. Nicht, weil sie Angst hatte, dass sie ihr Runo wegnehmen würden. Sondern weil ihr niemand glauben würde. Weil ihn doch alle so großartig fanden. Alle waren neidisch auf sie, dass sie so einen tolen Papa hatte. Und noch so jung!
»Runo ist doch total nett«, sagte Mathilda jetzt prompt, »das hast du selbst immer gesagt.«
Natürlich hatte sie das gesagt. Anfangs fand sie das ja auch. Sehr lange hat sie das geglaubt. Trotz allem.
Es dauerte noch eine ganze Weile, ehe sie es erklärt hatte. Erst als Gävle schon ein ganzes Stück hinter ihnen lag, schien Mathilda es verstanden zu haben.
»Und was willst du jetzt machen? Wie willst du es schaffen, dass er sich ändert?«
So weit hatte sie noch nicht gedacht. Nur genau so weit, wie sie bis jetzt gekommen war: Sie hatte eine Fahrkarte gekauft, war in den Zug gestiegen und hatte alles erzählt. Zum ersten Mal alles erzählt.
Sie zog den Rucksack unterm Sitz hervor und tastete die Innentasche ab.
»Ich hab dreiundneunzig Kronen und bin kurz vorm Verhungern. Wir sind doch durch einen Restaurantwagen gegangen, oder?«
Aber Mathilda sagte, sie habe Proviant dabei, viel Proviant. Sie schwankte durch den Zug zu ihrem Wagen und wieder zurück und breitete Bananen, Schokolade, Apfelsinen, gekochte Eier und Käsebrötchen aus. Als sie den allerletzten Krümel verputzt hatten, sagte Mathilda, dass sie ihre Meinung über ihn geändert habe:
»Der ist ja verrückt. Man sollte ihn anzeigen!«
Dann schwieg sie mindestens zehn Kilometer lang, ehe sie wieder etwas sagte:
»Wie viele Nächte bist du allein gewesen?«
Marie dachte nach. Sie wollte es lieber genau nachrechnen, damit sie nicht übertrieb. Das erste Mal war es im Januar passiert, dann irgendwann im Februar und am Tag vor ihrem Geburtstag und ...
»An deinem Geburtstag war er aber zu Hause. Da hast du doch das tolle Geschenk bekommen.«
»An meinem Geburtstag ja, aber am Tag davor.«
»Nee, das kapier ich nicht, er hat dir doch eine Torte gebracht und ein Geburtstagslied gesungen und ...«
»Wirklich?«
»Ich erinner mich, dass du es erzählst hast.«
»Was hab ich erzählt?«
»Schade, dass du nicht gekommen bist, dann hätten wir zusammen Torte essen können, hast du gesagt, und da hab ich gesagt, dass ich kommen wollte, aber dass Mama vergessen hat, mich zu wecken, und du hast gesagt, das macht nichts, am Abend würde auch noch was von der Torte übrig sein und ...«
»Jaa, aber hab ich was von Runo gesagt?«
»Nein, aber die Torte, wer ...?«
»Ich hab die Torte selbst gekauft, weil ich wusste, dass er es vergessen würde.«
Mathilda starrte sie an.
»Hat er also wirklich vergessen ... er hat vergessen, zum Geburtstag seiner einzigen Tochter nach Hause zu kommen ... Aber ...«, sie unterbrach sich und dachte nach, »warte mal. So stimmt das auch nicht. Er ist nach Hause gekommen, als wir bei dir waren. Dann müsst ihr euch doch irgendwo vorher getroffen haben. Er hat dir nicht gratuliert und nichts.«
Was hat es für einen Sinn, das erklären zu wollen?
»Und das Geschenk! Ein ganzer Abend im Vergnügungspark mit ihm und du konntest alles haben, was du wolltest!«
»Jaa?«
»Dann kannst du doch nicht behaupten, dass er deinen Geburtstag vergessen hat.«
»Doch.«
»Aber das Geschenk ...«
»Er kapiert schnell. Als er reinkam und euch und die Torte gesehen hat, da hat er sich schnell ein Geschenk ausgedacht.«
Es sah Mathilda überhaupt nicht ähnlich, dass sie ihre Meinung so schnell änderte. Erst das eine zu finden und dann genau das Gegenteil. Jetzt sah sie plötzlich aus, als hätte sie ein Monster vor sich.
»Das ist verrückt, einfach verrückt. Wie kann er nur! Wie hältst du das bloß aus! Es müsste verboten sein, dass einer so vergesslich ist. Ich hasse ihn.«
Sie sah aus dem Fenster – sie hatten Ljusdal hinter sich gelassen und hier war es noch nicht Frühling. Schmutzige Schneehaufen auf der Erde, große Schneeflocken in der Luft, wintergrauer Himmel – brrr.
Mathilda fuhr fort:
»Er hat uns reingelegt. Hat so getan, als wäre er der netteste Mensch der Welt. Und dabei ist er ein richtiger Scheißkerl.«
Nein, das ist er nicht. Er ist kein Scheißkerl. Das darf sie nicht sagen. Jetzt soll sie still sein.
»Er ist vielleicht ein bisschen vergesslich. Okay, ziemlich vergesslich. Aber er ist kein ... er macht es so gut, wie er kann, er kann doch nichts dafür, dass er ...«
Marie will ihn verteidigen, merkt aber, dass sie es eigentlich doch nicht will. Es geschieht ihm ganz recht, dass Mathilda so redet. Schade, dass er es nicht hören kann. Er soll ruhig erfahren, was sie von ihm hält.
»Hoffentlich macht er sich wahnsinnige Sorgen«, sagte Marie plötzlich und sah auf die Uhr. »Was meinst du, ist er jetzt nach Hause gekommen? Es ist schließlich Samstag, da arbeitet er doch nicht. Die Post trägt doch am Samstag keine Briefe aus? Er ist bestimmt zu Hause, er hat gewartet und dann hat er bei uns angerufen, aber da geht niemand ran. Oder er hat Arne angerufen.«
»Das hat keinen Sinn. Arne weiß überhaupt nichts.«
»Ja, aber das weiß Runo nicht.«
»Und was macht er dann?«
»Papa oder Arne?«, fragt Marie.
»Dein Papa natürlich. Was Arne macht, weiß ich genau. Er ruft erst Helena an und dann deine Großmutter, vielleicht auch Achim, und dann schnallt er gar nichts mehr und wartet, bis du von dir hören lässt. Aber dein Papa? Was macht der?«
»Vielleicht fährt er zum Hauptbahnhof, hoffentlich macht er das, und sucht dort.«
»Warum?«
»Weil deine Mama ihm natürlich erzählt hat, dass sie mich da gesehen hat. Dass ich auf dem Weg zu Großmutter war und es schrecklich eilig hatte. Und dann erfährt er von Großmutter, dass ich nicht bei ihr bin und nicht mal mit ihr verabredet war. Dann fängt er an, sich Sorgen zu machen.«
»Meinst du?«
»Ich hoffe es jedenfalls. Hoffentlich kriegt er ordentlich Schiss.«
Richtig, richtig, richtig Schiss. Bauchschmerzen soll er haben vor Angst, die Luft soll ihm wegbleiben vor Angst. Und er kann nichts tun, er ist bestimmt nicht zum Bahnhof gefahren. Das traut er sich nicht, sie könnte ja inzwischen nach Hause kommen. Aber allein zu Hause sein will er auch nicht – wie soll er das aushalten? Essen kann er auch nichts, ihm kommt alles wieder hoch. An Schlaf ist gar nicht zu denken, er hat die schrecklichsten Vorstellungen: mindestens 28 verschiedene Autounfälle, jemand rutscht auf einem glatten Felsen aus und fällt in das kalte Mälarwasser, einen durchgeknallten Mörder, der kleinen Mädchen nachschleicht. All so was sieht er vor sich und kann nicht schlafen.
»Hoffentlich«, murmelte Marie.
»Was?«, fragte Mathilda.
»Ich hoffe, dass er nicht ...«
Und dann ist Marie eingeschlafen.