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Kapitel 1 - Hazel

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1 Jahr vor­her


Ich la­che herz­haft über Dr. Con­ners Witz. Er ist mit Ab­stand mein Lie­blings­kol­le­ge, denn ich mag sei­ne freund­li­che, humor­vol­le und väter­li­che Art. Wo­bei, Kol­le­ge ist gut, eigent­lich ist er mein di­rek­ter Vor­ge­setz­ter, das ver­ges­se ich nur oft, weil es eher freund­schaft­lich zwi­schen uns zu­geht. Gut ge­launt lau­fe ich ne­ben ihm über den kar­gen Kran­ken­haus­gang, wo­bei un­se­re Schrit­te von den Wän­den wi­de­rhal­len und un­se­re Soh­len quiet­schen­de Ge­räu­sche ver­ur­sa­chen.

»Ha­ben Sie sich schon über­legt, wo Sie nach Ih­rem Stu­di­um ar­bei­ten möch­ten? Nicht mehr lan­ge und Sie ha­ben es ge­meis­tert – mit Bra­vour, wie ich ver­mu­te.« Er schiebt sei­ne leicht schief hän­gen­de Ni­ckel­bril­le auf dem Na­sen­rü­cken hoch. Ei­ne Ge­ste, die mir ziem­lich ver­traut ist, weil er dies alle paar Mi­nu­ten wie­der­holt. Sei­ne grau­en Augen, die von Lach­fal­ten um­ge­ben sind, schau­en mich eben­so neu­gie­rig wie er­war­tungs­voll an. Er war­tet auf ei­ne Ant­wort. Das ist et­was, was ich wirk­lich an ihm schät­ze – er ist an mir als Mensch in­te­res­siert, hört ge­spannt zu. Et­was, was viele vor lau­ter Stress ver­lernt ha­ben. Bei ihm füh­le ich mich ernst ge­nom­men.

»Nein, ich ha­be noch kei­ne Idee«, ge­be ich zu, rei­be mir da­bei ver­le­gen über den Na­cken. Das ist nicht die Ant­wort, die er ger­ne ge­habt hät­te, denn er fragt mich schon zum zwei­ten Mal nach mei­nen Plä­nen. Ich weiß, dass ich die Ant­wort nicht ewig hin­aus­schie­ben kann, aber was will ich über­haupt? Wo will ich mich nie­der­las­sen? Hier? Oder möch­te ich noch mehr von der Welt se­hen? Ich ha­be immer viel rei­sen wol­len, die Er­de ent­de­cken, statt­des­sen bin ich seit Jah­ren nicht im Ur­laub ge­we­sen. Das Stu­di­um ist hart und for­dert über­durch­schnitt­li­chen Ein­satz, mit Un­men­gen an Über­stun­den. Ir­gend­wie ist da­durch alles an­de­re auf der Stre­cke ge­blie­ben. Bin ich be­reit, gleich in die Vol­len zu ge­hen, oder neh­me ich mir ei­ne klei­ne Rei­se­aus­zeit?

»Nun, es ist kein Ge­heim­nis, dass wir hier alle sehr an­ge­tan von Ih­rer Ar­beit sind. Wenn Sie sich vor­stel­len kön­nen, zu un­se­rem Te­am zu ge­hö­ren, wür­de ich ein gu­tes Wort für Sie ein­le­gen. Ha­zel, Sie kön­nen hier viel er­rei­chen. Ich wer­de nicht jün­ger und Sie könn­ten ei­nes Tages mei­ne Nach­folg­erin sein, wenn Sie Ih­re Kar­ten rich­tig aus­spie­len. Die Fä­hig­kei­ten ha­ben Sie, was wir bei­de wis­sen.« Ich spü­re, dass ich er­rö­te. Väter­lich legt Dr. Con­ner mir die Hand auf den Arm, nickt auf­mun­ternd. »Nun, mein Kind, Sie wer­den ja ganz rot. Neh­men Sie das Lob an, Sie ha­ben es sich ver­dient. Sie sind flei­ßig, die Kol­le­gen und Pa­tien­ten schät­zen Sie sehr, auch ich schät­ze Sie, aber das wis­sen Sie.«

»Dan­ke, Dr. Con­nor«, stamm­le ich deut­lich ver­le­gen. Ich kann ein­fach nicht mit Kom­pli­men­ten um­ge­hen.

Un­se­re Schu­he ver­ur­sa­chen er­neut ein lau­tes Quietsch­ge­räusch, wäh­rend wir in den näch­sten Kor­ri­dor ein­bie­gen. Nach­denk­lich runz­le ich die Stirn, als ich den lee­ren Gang vor uns er­bli­cke. »Soll­te der Pa­tient nicht von ei­nem Poli­zis­ten rund um die Uhr be­wacht wer­den?« Dr. Con­ner spricht mei­ne Ge­dan­ken aus, ehe ich selbst Ge­le­gen­heit da­zu ha­be.

Ich blät­te­re in mei­nen Un­ter­lagen, che­cke die vor­hand­enen No­ti­zen. »Ja, Per­so­nen­be­wa­chung. Es hat sich nichts an der Si­tua­tion ge­än­dert, des­we­gen liegt er von den an­de­ren Pa­tien­ten iso­liert. So ist es der Wunsch der Staats­an­walt­schaft ge­we­sen«, le­se ich vor. Merk­wür­dig. Aber es ist auch das er­ste Mal, dass ich ei­ne Pa­tien­ten­be­wa­chung durch die Poli­zei er­le­be. Ir­gend­wie auf­re­gend und be­äng­sti­gend zu­gleich. »Viel­leicht ist er in ei­ner Un­ter­su­chung, die kurz­fri­stig an­geord­net wor­den ist?« Ich zu­cke mit den Schul­tern, es wird schon sei­ne Grün­de ha­ben, hat es immer. Hier wer­den so oft Un­ter­su­chun­gen fest­ge­legt, die erst im An­schluss ver­merkt wer­den. »Immer­hin sind wir ei­ne Stun­de zu früh dran«, wer­fe ich noch hin­ter­her. Es ist al­so nicht un­mög­lich.

»Oh, das wä­re wirk­lich är­ger­lich. Ma­ry freut sich so auf un­se­ren Hoch­zeit­stag und dass ich et­was eher kom­me. Wir wol­len zum Es­sen ge­hen, so rich­tig schick«, seufzt der Mann ne­ben mir. Ich weiß ge­nau, was er meint. Er macht so viele Dop­pel­schich­ten, dass Ma­ry sich si­cher nach et­was ex­tra Zeit sehnt. Der Ge­dan­ke, dass sie nach all den Jah­ren noch roman­tisch es­sen ge­hen, ein­an­der so wich­tig sind, er­wärmt mein Herz. So­was wün­sche ich mir auch. Je­man­den, der mich liebt – in gu­ten und schlech­ten Zeiten, bis ich alt, grau und fal­tig bin. Lei­der gibt es sol­che Ver­bin­dun­gen heut­zu­ta­ge äu­ßerst sel­ten, und bei der vielen Ar­beit wer­de ich ver­mut­lich nie je­man­den ken­nen­ler­nen. Noch ein Grund mehr, der fürs Rei­sen spricht.

Ich schie­be die­se Ge­dan­ken bei­sei­te, schaue mich um. Der Flur ist leer und still. Die Pa­tien­ten sind auf an­de­re Eta­gen auf­ge­teilt wor­den, da­mit die Poli­zei Über­sicht über das Kom­men und Ge­hen be­hält, aber jetzt ge­ra­de wirkt es gru­se­lig, wie in ei­nem die­ser Zom­bie-Hor­ror­fil­me, als bricht je­de Se­kun­de das Cha­os aus. Okay, mei­ne Fan­ta­sie geht mit mir durch, hier wird si­cher­lich kei­ne Zom­bie-Ar­mee durch­ren­nen. Auf die­ser Sta­tion liegt ein ehe­ma­li­ges Gang­mit­glied ei­nes gro­ßen Dro­gen­rin­ges. Er ist an­ge­schos­sen und we­gen Be­sitz il­le­ga­ler Sub­stan­zen ver­haf­tet wor­den. Er hat ei­nen De­al mit der Poli­zei aus­ge­han­delt, wird ge­gen sei­ne Leu­te aus­sa­gen, um nicht ins Ge­fäng­nis zu müs­sen, und in den Zeugen­schutz über­führt. Das macht ihn aller­dings zu ei­ner Ziel­schei­be für sei­ne al­ten Kol­le­gen und zu ei­nem wich­ti­gen Zeugen für die Staats­an­walt­schaft, die seit Ewig­kei­ten nach solch ei­nem Glücks­fall ge­sucht hat, um den Ring end­lich zer­schla­gen zu kön­nen – wie im Fern­se­hen, wirk­lich ver­rückt. Ich be­wun­de­re sei­nen Mut, denn so wie ich ge­hört ha­be, ist die­se Ver­ei­ni­gung ge­fähr­lich und skru­pel­los. Wie kann man sich nur auf so et­was ein­las­sen? Es ist letzt­lich sei­ne eige­ne Dumm­heit ge­we­sen, die ihm das hier ein­ge­brockt hat.

»Nun, dann se­hen wir doch ein­fach nach.« Dr. Con­nor drückt die Tür­klin­ke hin­un­ter und tritt vor mir ins Zim­mer ein. Ich stol­pe­re über mei­ne ei­ge­nen Fü­ße, wo­bei mein Kugel­schrei­ber vom Klemm­brett rutscht, an­schlie­ßend klim­pernd zu Boden fällt. Wäh­rend ich mich bü­cke, hö­re ich den Ober­arzt über­rascht ru­fen: »Was ist hier …«, doch weiter kommt er nicht, ver­stummt plötz­lich. Ich ver­neh­me ein lei­ses Zi­schen, et­was Feuch­tes be­netzt mein Ge­sicht. Ich rich­te mich auto­ma­tisch auf, star­re ins Zim­mer un­se­res Pa­tien­ten. Ein wei­te­res Zi­schen er­klingt, wo­nach mein väter­li­cher Kol­le­ge vor mir zu Boden geht. Sei­ne Augen bli­cken mir leer ent­ge­gen, in sei­ner Stirn prangt ein Loch, aus dem Blut auf den Boden rinnt. Mein Herz bleibt ge­fühlt ste­hen, als ich den Kra­ter in sei­nem Kopf se­he. Ich ver­ste­he nicht, was ich da ge­ra­de er­bli­cke oder was pas­siert ist. Wa­rum …? Was …? Ich wi­sche mir über das Ge­sicht, schaue mei­ne Fin­ger an. Sie sind rot – von sei­nem Blut, wel­ches mir ins Ge­sicht ge­spritzt ist. Käl­te und Angst brei­tet sich in Wel­len in mir aus, als lang­sam durch­si­ckert, dass Dr. Con­nor mit ei­ner Kugel im Kopf vor mir liegt. Er ist tot, ver­su­che ich das Bild, wel­ches sich mir bie­tet, zu ver­ste­hen, wi­sche mir aber­mals über die Wan­gen und rei­be mein Ge­sicht. Blut, sein Blut. Mein Herz schlägt wie­der, häm­mert nun wild ge­gen mei­ne Brust. Es sind erst we­ni­ge Se­kun­den ver­gan­gen, seit er vor mir zu­sam­men­ge­sackt ist, für mich fühlt es sich je­doch wie Stun­den an. Die Zeit scheint lang­sa­mer zu lau­fen. Ich schaue schlep­pend hoch, se­he nun den Poli­zis­ten, der den Zeugen be­wachen soll­te, an des­sen Kop­fen­de ver­har­ren, mit der Waf­fen­mün­dung auf mich ge­rich­tet. Mein Ge­hirn steht un­ter Schock, kann die Si­tua­tion nicht rich­tig er­fas­sen, aber weiß, hier läuft et­was falsch. Un­se­re Bli­cke tref­fen sich für ei­ne Se­kun­de, sei­ne Vi­sa­ge brennt sich in mei­nen Schä­del ein. Das blu­ti­ge Bild des­sen, was er an­ge­rich­tet hat, eben­falls.

Dunk­les Rot be­su­delt das ehe­mals wei­ße La­ken, der Zeu­ge blickt mich aus eben­so lee­ren Augen an, wie der gut­mü­ti­ge Dr. Con­nor, des­sen La­chen ich nie wie­der hö­ren wer­de und des­sen Frau heu­te ver­geb­lich auf ihn war­ten wird. Ich ver­su­che, all das zu be­grei­fen, doch mein Kopf spielt nicht mit – ich ver­lie­re da­durch wert­vol­le Se­kun­den. Der Po­li­zist vi­siert mich an, lä­chelt leicht, was nicht zu dem Drum­he­rum, wel­ches sich mir of­fen­bart, passt. Ich fol­ge sei­nen Be­we­gun­gen mit den Augen. Dann setzt mein Ver­stand end­lich wie­der ein, Adre­na­lin durch­flu­tet mei­nen Körper. Nein, ich wer­de hier nicht ster­ben. Nie­mals. Über­lebens­wil­le packt mich: Ich schleu­de­re ihm mein Klemm­brett mit Schwung ent­ge­gen, denn es ist das Ein­zi­ge, was ich ge­ra­de ha­be, um mich zu schüt­zen. Er hebt den Arm, will es ab­wen­den, und drückt gleich­zei­tig ab. Die Kugel streift mei­nen lin­ken Ober­arm. Ich schreie hei­ser auf, mer­ke den Schmerz aber kaum, zu sehr bin ich mit Adre­na­lin voll­ge­pumpt. Das Klemm­brett lan­det pol­ternd auf dem Boden, wo­rauf­hin ich die Gunst der Stun­de nut­ze, her­um­wir­be­le und mei­ne Bei­ne in die Hand neh­me, denn ich muss hier raus – und zwar so­fort. Wenn ich le­ben will, was ich de­fi­ni­tiv möch­te, soll­te ich hier weg. So schnell es geht.

Mei­ne Fü­ße set­zen sich wie von selbst in Be­we­gung, flie­gen förm­lich über den Boden, Schmer­zen spü­re ich noch immer kei­ne. Mein Körper hat die Kon­trol­le über­nom­men, hilft mir, alles zu ge­ben. Ich hö­re Schrit­te hin­ter mir, und ein lei­ses Flu­chen, doch ich bin schnel­ler, nut­ze den Vor­sprung, den ich mir er­ar­bei­tet ha­be. Schon immer bin ich ei­ne gu­te Läu­fe­rin ge­we­sen, ei­ne sehr gu­te so­gar. Auch wenn ich lan­ge nicht mehr beim Trai­ning ge­we­sen bin, mei­ne Mus­keln ha­ben es nicht ver­ges­sen. Ich rei­ße ei­nen Me­di­ka­men­ten­wagen, der ver­las­sen im Gang steht, um. Schep­pernd ver­tei­len sich die klei­nen Do­sen und Fla­schen hin­ter mir auf dem Boden, wo­durch ich ihm für ei­ni­ge Se­kun­den den Weg ver­sper­re und mir mehr Puf­fer ver­schaf­fe.

Ei­ne weite­re Kugel fliegt an mir vor­bei. Ich schreie auf, als sie die Wand links ne­ben mir trifft und sich dort in den Putz bohrt. Ich schla­ge ei­nen Ha­ken wie ein Ha­se, ver­su­che da­bei, ihm kein gu­tes Ziel zu sein. Der Mann hin­ter mir flucht nun laut und un­ge­hal­ten, tritt oben­drein den Me­di­ka­men­ten­wagen aus dem Weg. Schlit­ternd blie­be ich an ei­ner Tür zu ei­nem der ver­las­se­nen Pa­tien­ten­zim­mer ste­hen, ren­ne hin­ein und wer­fe sie mit ei­nem lau­ten Knall hin­ter mir zu. Erst mal aus dem Schuss­feld sein, das ist gut.

»Oh Gott«, flüs­te­re ich schluch­zend, sper­re mit zit­tern­den Fin­gern die Tür ab. Je­der von uns hat ei­nen Ge­ne­ral­schlüs­sel, den ich zu­vor nie be­nutzt ha­be, aber es gibt schließ­lich für alles ein er­stes Mal. Kon­zen­trie­re dich, herr­sche ich mich selbst an und end­lich dreht sich der ver­damm­te Schlüs­sel im Schloss. Lang­sam ent­ferne ich mich von der Tür, mein Brust­korb hebt und senkt sich hek­tisch, mein Herz hüpft mir fast aus der Brust.

Nur we­ni­ge Se­kun­den spä­ter trom­melt es laut ge­gen die Tür, lässt sie in den An­geln er­zit­tern, wo­rauf­hin ich ei­nen wei­te­ren Satz nach hin­ten ma­che. Die Klin­ke wird hoch und run­ter ge­drückt, Trä­nen ver­ne­beln mir die Sicht. Das kann nicht wahr sein. Das ist ein Alb­traum! Bit­te, fle­he ich, lass mich auf­wachen, doch lei­der ist es kein Traum. Es ist bit­te­re Rea­li­tät und ich sit­ze fest. Ich muss ei­nen Aus­weg fin­den. Mei­ne Taschen sind leer, mein Han­dy steckt zum Auf­laden im Schwes­tern­zim­mer an der Steck­do­se. Die Tele­fo­ne im Zim­mer sind ab­ge­stellt. »Bit­te nicht«, flüs­te­re ich er­stickt, tre­te weiter nach hin­ten, bis mein Rü­cken die kal­te Wand trifft. Ich sin­ke da­ran hi­nab, be­ge­be mich in die Ho­cke, fah­re mir mit bei­den Hän­den über das Ge­sicht. Wa­rum kommt denn nie­mand? Je­mand wird mei­ne Schreie ge­hört ha­ben. Es muss mir doch je­mand hel­fen. Dr. Con­ner, er …

»Mach die­se be­schis­se­ne Tür auf«, flucht mein Ver­fol­ger auf der an­de­ren Sei­te. »Dir wird nie­mand glau­ben, Mists­tück. Nie­mand, hörst du? Wir ma­chen dich fer­tig. Ich bin Po­li­zist. Wir ha­ben über­all Män­ner. Ich wer­de dich tö­ten oder ih­nen weis­ma­chen, dass du mit uns un­ter ei­ner De­cke steckst. Hörst du? Dein Wort ge­gen meins. Du bist so oder so tot«, zischt er. Ich hö­re die Wut in sei­ner Stim­me, glau­be ihm je­des Wort. Sie alle sind ge­fähr­lich, er ge­hört zu der Gang. Sie ha­ben die Poli­zei un­ter­wan­dert und wer weiß, wen noch. Ich wer­de schnel­ler tot sein, als ich aus­sa­gen kann – da hat er recht. Wenn nicht er, wird je­mand an­de­res da­für sor­gen, soll­te ich hier raus­kom­men. Wenn je­mand wie er hilft, wem soll ich dann trauen? Wem kann ich über­haupt trauen? Das er­schüt­tert mich bis in die tief­sten Win­kel mei­nes Ver­standes. Ich will kei­nes­wegs ster­ben.

Blut rauscht durch mei­ne Oh­ren. Ich ha­be das Ge­fühl, nicht ge­nü­gend Luft zu be­kom­men, zer­re an mei­nem Kra­gen, um mir Platz zu er­zwin­gen. Ei­ne Pa­ni­kat­ta­cke, ich ken­ne je­des Sym­ptom, nur hilft mir die­ses Wis­sen ge­ra­de nicht. Mein Ver­such, ru­hig und gleich­mä­ßig zu at­men, ge­lingt mehr schlecht als recht. Du musst nach­den­ken, er­mah­ne ich mich selbst, wäh­rend ich mich hoch­stem­me und mich, auf der Su­che nach ei­nem Aus­weg, im Kreis dre­he. Mein pan­is­cher Blick bleibt am Fens­ter hän­gen, als er sich aber­mals ge­gen die Tür wirft. Lan­ge wird sie nicht mehr hal­ten, das Holz split­tert be­reits.

Mit wild klop­fen­dem Her­zen und zit­tri­gen Fin­gern öff­ne ich das Fens­ter, schaue hi­nab zu Boden. Alles läuft wie in ei­nem Film ab – han­deln oder kampf­los auf­ge­ben. Ich muss wäh­len. Er­ste Eta­ge, das kann ich pa­cken. Die Zim­mer auf die­ser Sei­te lie­gen mit den Fens­tern zum Wald. Ich muss es nur bis da­hin schaf­fen. Sprin­gen und lau­fen, da­bei hof­fen, dass mir beim Sturz nichts pas­siert. Das klingt nach ei­nem ak­zep­ta­blen Plan. Was ha­be ich auch für ei­ne Al­ter­na­ti­ve? Hier­blei­ben und re­si­gnie­ren? Lie­ber bre­che ich mir, bei dem Ver­such mein Le­ben zu ret­ten, den Hals, als es ihm so leicht zu ma­chen.

Wäh­rend die Tür hin­ter mir lang­sam nach­gibt, stei­ge ich aufs Fens­ter­brett, wo­bei mei­ne Bei­ne sich wie Pud­ding an­füh­len. Ich schaf­fe das, ich wer­de es schaf­fen, feu­re ich mich wie in ei­nem Man­tra an. Ich schie­be mei­ne Bei­ne über das Fens­ter­brett, hang­le mich vor­sich­tig hi­nab. Als ich mich hän­gen­las­se, rut­schen mei­ne Hän­de plötz­lich ab. Mei­ne Mus­keln sind nicht stark ge­nug, um mich lan­ge zu hal­ten – ich zit­te­re wie ver­rückt. Mit ei­nem er­stick­ten Schrei fal­le ich in die Tie­fe, ehe ich be­reit ge­we­sen bin. Der Auf­prall dringt schmerz­haft durch mei­nen gan­zen Körper, mei­ne Bei­ne kni­cken un­ter mir weg, so­dass ich kom­plett im Rosen­busch lan­de. Ver­dammt, es tut so un­glau­blich weh. Äs­te so­wie klei­ne Dor­nen ste­chen mir in die Haut, rei­ßen an mir, er­schwe­ren mir zu­sätz­lich die Flucht, doch Adre­na­lin durch­flu­tet mich er­neut, pusht mei­nen Körper. Al­so rap­ple ich mich stöh­nend auf, be­freie mich aus dem Ge­strüpp, ren­ne dann – so schnell ich kann – in den Schutz der Bäu­me. Ich ig­no­rie­re mei­nen po­chen­den Körper, die schmer­zen­den Bei­ne und mei­ne Lun­ge, die höl­lisch brennt. Mein Le­ben wird nie wie­der das glei­che sein. Trä­nen ver­ne­beln mir die Sicht, als ich in die Tie­fen des Blät­ter­werks ein­tau­che und es mich vor Bli­cken ver­birgt.

Er hat sie er­schos­sen. Sie bei­de. Er wird mich tö­ten, wenn er mich in die Hän­de be­kommt. Er darf mich nicht fin­den, nie­mand darf das, denn kei­ner wird mir glau­ben – ich kann ja selbst kaum be­grei­fen, dass das wirk­lich pas­siert ist. Oh mein Gott. Er soll­te ihn be­schüt­zen. Be­schüt­zen! Er ist Po­li­zist und da­für da, Men­schen vor den Bö­sen zu be­wah­ren. Nun sind sie alle tot, ich wer­de die Näch­ste auf sei­ner Lis­te sein.

Lost Island

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